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Kritik der deutschen Vernunft

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Karl Jaspers wird in diesen Wochen gut daran tun, eines Ausspruchs des großen Sören Kierkegaard zu gedenken. Auf dem Höhepunkt seiner grundsätzlichen Polemik gegen den dänisch-lutherischen Bischof Mynster, bei der er so gut wie allein gegen die „öffentliche Meinung“ stand, sagte er: „Daß ich recht habe, wissen alle, sogar Bischof Mynster.“ Und Jaspers wird auch den Nachsatz zur Kenntnis nehmen müssen: „Daß ich nicht recht bekommen werde, wissen ebenfalls alle, sogar ich selbst.“ Der heute in der Schweiz lebende Philosoph, neben Heidegger der bedeutendste Vertreter der existentialistischen Richtung, ist gebürtiger Norddeutscher. Er hat von dort die Stammeseigenschaft des bohrenden Zuendedenkens mitgebracht, zugleich mit ihr aber auch die Denkfähigkeit des „offenen Horizonts“. Er ist fähig, einen gedanklichen Widerspruch zu ertragen, eine Erkenntnis auszusprechen, selbst wenn sich deren Konsequenzen — anders als die cartesianischen Schlußreihen, die wie wohlangelegte Alleen zum Zielpunkt hinführen oder das umfaßte Gebiet sauber und hart einfrieden —, wenn sich seine Konsequenzen im Nebel oder am Meerufer ins Unbestimmte verlieren. Der Philosoph hat in einem — der gedanklichen Präzision an sich nicht sehr zuträglichen — Fernsehinterview, das bereits vor Monaten aufgenommen, als „Konserve“ aufbewahrt und vor kurzem gesendet wurde, seine Meinung zum Problem der deutschen Wiedervereinigung gesagt. Kurz zusammengefaßt, gab er zum Ausdruck, daß die Wiedervereinigung der deutschen Gebiete nach der Modellvorstellung des Bismarck-Reiches in absehbarer Zukunft nicht vorstellbar sei und daß als Nahziel ein freiheitlich-rechtsstaatlicher Zustand für die rund 17 Millionen Deutschen im sowjetischen Besatzungsgebiet anzustreben sei, notfalls unter Inkaufnahme einer Neutralisierung und eines Verzichts auf die staatsrechtliche Vereinigung mit der Bundesrepublik. So leicht sich nun dieser Satz in vergröberter Vereinfachung hinschreibt, so:viele Fragen- und Probleme wirft er auf: Hier soll zunächst nicht auf das sehr erregte Echo .eingegane gen werden, das die Äusftihrnngen“Ja8persin der westdeutschen Öffentlichkeit fanden. Zur Sache selbst ist einiges zu sägen.

So nannte einst der Militärphilosoph Moltke die Idee vom ewigen Weltfrieden. Jaspers gehört zu denen, wie vor ihm aus anderen Motiven heraus der katholisch-konservative Publizist Paul Wilhelm Wenger und — etwas verklausuliert in einer großen Frankfurter Paulskirchenrede — der ehemalige deutsche Bundespräsident Theodor Heuss, die die Wiederherstellung des Bismarck-Reiches nicht nur als illusionär, sondern auch als nicht wünschenswert ansehen. Mit dem erregten Schimpfwort vom „Landesverrat“ war und ist man in solchen Fällen gern zur Hand. Nun wissen aber die wenigsten, die vom „Bismarck-Reich“ sprechen, weil es auch für die Ältesten heute noch Lebenden bewußtseinsmäßig die letzte, eben noch erlebbare Realität des Begriffs „Deutschland“ darstellt, wie problematisch dieser deutsche Staatskörper bereits zur Zeit seiner Gründung war. Bismarck wußte, besser als mancher seiner begeisterten Zeitgenossen, daß auch die von ihm mit „Blut und Eisen“ und außerordentlichem staatsmännischem Geschick verwirklichte Lösung der seit 1848, eigentlich seit 1806, genau genommen seit 1648, ungelösten „deutschen Frage“ ihren inneren Widerspruch schon im Namen trug. Sein Staat führte den Titel „Reich“ zu Unrecht, weil ihm die übernationale Grundidee des einmaligen und durch keine weiteren Ordnungszahlen wiederholbaren Sacrum Imperium fehlte. Es konnte und wollte aber auch kein Nationalstaat im Sinne der modernen bürgerlichen Zentralstaaten französischen Musters sein. Und alle, die heute vom Bismarck-Staat sprechen, den man am besten als einen kaum ganz durchkonstruierten Kompromiß zwischen der liberalen Paukkirchenvorstellung von 1848, den föderalen Fürstenrechten seiner integrierenden Glieder und der großpreußischen Vorherrschaftsidee der Hohenzollern bezeichnet, können diese Grundschwierigkeit ebensowenig losen, wie dies einst der geistige Schöpfer vermochte. Der Bismarck-Staat schloß Elsaß-Lothringen ebenso ein wie das gesamte Westpolen. Er respektierte aber, zumindest nach der klaren Intention seines Gründers, das eindeutige „Draußensein“ der Sudetendeutschen wie aller Deutschen der Habsburger-Monarchie. Er hatte starke Minderheiten in seinen Grenzen und etablierte sich bald als eine europäische Kolonialmacht im klassischen Sinn. Er kämpfte um Seegeltung und Mitspracherecht in Marokko. Er marschierte an der Spitze der „Weltintervention“ beim Boxeraufstand. Er war präsent in Bagdad und beteiligte sich an Entscheidungen über Balkankrisen ... Gewiß sind das alles kaum ein Menschenalter zurückliegende Realitäten, die dem Bewußtsein weiter entrückt sind als die Schlacht im Teutoburger Walde.' Für die Umwelt aber leben diese Reminiszenzen noch, obwohl sie durch wesentlich näherliegende „Erlebnisse“ deutscher Präsenz an allen möglichen Orten Europas verdrängt wurden.

,iMan,,wh;d also klipp und klar sagejj“ könne^. daß kein vernünftiger Deutscher, welcher Partei auch immer, an dieses, das historisch wirkliche Reich denkt, wenn er vom Bismarck-Staat spricht, und daß der Abschied von dieser Illusion der Mehrzahl der Deutschen nicht so schwerfallen dürfte, wie es gewisse erregte Kommentare zu den Jaspers-Worten im ersten Augenblick glauben machen wollten. Über den „Sinn“ der Geschichte soll hier nicht gehandelt werden — es war vielleicht auch ein Fehler von Jaspers, daß er seine Feststellungen mit einem etwas phari-

säischen Moralisieren über das immer problematische „Verdientermaßen“ versah. Niemand kann sagen, ob es im Heilsplan Gottes lag und liegt, daß die Marienburg polnisch, der Isenheimer Altar französisch, das Grab Kants sowjetrussisch „geworden“ sind. Ebensowenig aber kann jemand die einsthafte Behauptung aufstellen, daß im deutschen Volk von heute irgendeine nennenswerte Gruppe von Menschen — außerhalb bierseliger Versammlungen und zu nichts verpflichtender Festreden — danach fiebere, die Grenzen des Bismarck-Reiches mit dem Einsatz des eigenen Blutes oder auch nur des eigenen Gutes wiederherzustellen.

DIE SKALA DER WERTE Wesentlich anders liegen die Dinge allerdings, wenn man den Begriff der Wiedervereinigung von seiner unzeitgemäßen und unzutreffenden Verkettung mit dem historischen Begriff „Bismarck-Reich“ löst. Dann bleibt das freilich durchaus aktuelle und mit keiner Historie wegzueskamotierende Problem der Wiedervereinigung im engeren Sinn. Konkret gesprochen: Die Frage der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands („Sachsen“ und „Preußen“ nennt General de Gaulle dieses Gebiet, „Mitteldeutschland“ heißt es geographisch, „Ostzone“ nennt es mehr und mehr der Tagessprachgebrauch). Hier hat Jaspers eben das etwas umständlich und dadurch mißverständlich ausgesprochen, was ohne große Sensation und ohne nennenswerten öffentlichen Widerspruch die regierende CDU (eigentlich auch kaum im Gegensatz zur SPD) auf einem ihrer letzten Parteitage in eine trotz ihrer Schlagwortartigkeit logisch und sachlich nicht anfechtbare Formel kleidete, Sie hat innerhalb dieser bis heute nicht geänderten Formel die Gesamtfrage in eine klare und verständliche Skala der Werte einbezogen,„ deren Reihenfolge für die deutsche Außenpolitik verbindlich ist. Der oberste und unauf gebbare Wert ist der der Freiheit. iDiese; Position schließt die Bereitschaft “ein, im Talle seiner unmittelbaren und gewaltsamen jBfdüobungfc statt :sAes<.“Kapitulation die milirä-rische Verteidigung zu wählen. In diesem — und n u r in diesem Sinne — ist, übrigens im Einklang mit der katholischen Moraltheologie, der Höchstwert des Friedens der Pflicht zur Verteidigung der freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung im wirklichen Ernstfall untergeordnet. Die nationale Einheit, deren Wertcharakter nicht geleugnet wird (dies betont Jaspers zuwenig), erscheint konsequent erst an dritter Stelle. Damit ist gesagt, daß das heute im Rahmen der allgemeinen Weltordnung entschei-

dungsfreie Deutschland (die Bundesrepublik) die Erringung der Einheit (als Vereinigung der Besatzungszonen verstanden) als ein Hochziel seiner Politik proklamiert. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die nationale Einheit eines geschlossen siedelnden Volkes in unserem Jahrhundert in der Regel die normale rechtliche und materielle Voraussetzung für die Freiheit der einzelnen Bürger darstellt. Wir sagen hier ausdrücklich: „in der Regel“, von der es auch Ausnahmen geben kann, zumal dies nicht zu allen Zeiten so war und wahrscheinlich auch nicht zu allen Zeiten so sein wird. Es gab durchaus freiheitliche Staatswesen gleichnationaler Bevölkerung im friedlichen Nebeneinander, und es wird vielleicht in der Zukunft neue, das Nationale überholende Gesellschaftsformen geben. Politik ist aber weder Historie noch Utopismus. So deutlich also der hohe Wertcharakter wie auch die sittliche Berechtigung und Verpflichtung des nationalen Einheitsgedankens anerkannt wird, so fragwürdig es auch angesehen werden muß, wenn von einem „strafweisen“ Entzug der Einheit selbst angesichts der unbeschreiblichen deutschen Kriegsverschuldung gesprochen wird, so klar ist es auf der anderen Seite aber auch, daß die bei allen bisherigen Wahlen in der Stimmabgabe für Regierung und SPD-Opposition zutage tretende vernünftige Mehrheit des deutschen Volkes diese Einheitsforderung den beiden vorgenannten nachsetzen wird. Es kann keine Einheit um den Preis der rechtsstaatlichen Freiheit, also keine Wiedervereinigung in der Art einer Unterwerfung gegenüber Pankow geben. (Ein unter solchem Vorzeichen wiedervereinigtes Deutschland wäre im übrigen jene wirkliche Gefahr für alle nichtkommunistischen Nachbarn, die auch Österreich höchst ernsthaft zu befürchten hätte.) Ebensowenig kann es eine deutsche Wiedervereinigungspolitik um den Preis eines Atomkrieges geben, denn diese würde den Wert der Einheit dem höheren des Friedens vorziehen.

Nun bleibt freilich die Frage, warum denn Karl Jaspers es für nötig befunden hat, angesichts einer ernsthaft kaum bestrittenen klaren Festlegung der deutschen Regierungspolitik überhaupt noch eine zusätzliche Äußerung zu formulieren, die der Sache nach eigentlich nichts Neues bringt. Um dies zu verstehen, muß man sich vor Augen halten, daß es neben der hier interpretierten und von der überwiegenden Mehrheit der ernst zu nehmenden Publizistik vertretenen Linie heute in Deutschland eine öffentliche Nebenmeinung gibt, die gerade in den letzten Monaten zunehmende Verwirrung stiftete. Da und dort warf aucfrle eine der ante zielle mit der Wurst nach der Speckseite. Die Fälle häuften sich, bei denen durch Schweigen oder unmerkliches Kopfnicken öffentlichen Meinungsäußerungen zugestimmt wurde, die dieser Wertskala nicht entsprachen, die einer gewissen Wiedervereinigungsromantik unter Außerachtlassung der unabdingbaren Freiheitsforderung huldigten oder dem nationalen Wert der Einheit eine ihm nicht zukommende Spitzenstellung zusprachen. In diesem Sinne war es durchaus heilsam, daß Professor Jaspers in der — zugegebenermaßen politisch unroutinierten, dafür aber auch schwerer zu überhörenden — Sprache des Philosophen erneut etwas ausgesprochen hat, was den halbwegs Denkenden in allen Parteien seit Jahr und Tag einsichtig ist, in einem gewissen Phrasengetön aber unterzugehen schien.

Auf einem ganz anderen Blatt steht freilich das, was Jaspers über die möglichen konkreten Lösungen der deutschen Frage ohne formale Wiedervereinigung sagte. Hier hat er und mit ihm viele seiner romantischen Freunde die Rechnung gleich ohne mehrere Wirte gemacht. Selbst wenn man von der reichlich utopischen Voraussetzung ausgeht, daß die Bevölkerung der Sowjetzone, die freilich heute jeder Lösung zustimmen würde, die sie von ihrem Regime befreit, auch in der nächsten Zukunft ohne moralisch und gefühlsmäßig ersichtlichen Grund auf ihr Bestreben nach Wiedervereinigung mit dem übrigen freien Deutschland verzichten sollte, so ist noch lange nichts über die Absichten und Reaktionen Ulbrichts gesagt, selbst wenn dessen begreiflicher Selbsterhaltungstrieb nicht ganz im Einklang mit der großen Politik des Kremls stehen sollte. Ganz abgesehen von allen spezi-

fisch russischen Erwägungen zu dieser Frage: Wer garantiert dem selbst noch so gutwilligen und zur freiwilligen Preisgabe eines — anders als jemals Österreich! — dem kommunistischen Gesellschaftsbereich eingegliederten wichtigen Territoriums (für welchen Preis eigentlich?) bereiten Kreml, daß nicht der Übergang vom Stalinisten Ulbricht (Rakosi) zum gemäßigten Kommunisten X (Imre Nagy) bereits ähnliche Folgen zeigt wie die für alle Welt unvergeßlichen Ereignisse in Ungarn ... ?

Gewiß hat Chruschtschow, übrigens von der Weltpresse hier wenig genau beachtet, auch in Wien vom Gedanken einer deutschen Neutralität gesprochen, vor kurzem hat sogar die Sowjetbotschaft in Bonn eine noch nicht näher analysierte Denkschrift zu dieser Frage kursieren lassen. Aber in dieser Neutralität wird wohl bei näherem Hinsehen alles andere nur denkbare „drin“ sein, bis auf eben jene Freiheit, von der Jaspers spricht.

Und für die, das sei klar wiederholt, auch die staatsrechtliche Einheit als ein hoher, an ihr gemessen aber geringerer Wert dranzugehen wäre.

Wäre ...

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