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Kulturkampf in Israel?

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Die Konstellation der israelischen politischen Parteien ist so, daß die religiösen Parteien, und insbesondere die große nationalreligiöse Partei, welche die drittgrößte Partei Israels ist und zirka zwölf Prozent'der israelischen Wählerschaft für sich buchen konnte, bisher bei Aufstellung jeder Religionskoalition ausschlaggebend waren.

Dadurch, daß die nationalreligiöse Partei eine solche Sonderstellung einnimmt, gelang es ihr, von den anderen Regierungsparteien große Konzessionen in Religionsangelegenheiten zu erlangen. Obzwar die Mehrheit der israelischen Bevölkerung nicht religiös ist und bis vor der Staatsgründung die große sozialdemokratische Partei (Mapai), die linken Sozialdemokraten (Achduth Awodah) sowie die Ultralinken (Mapam) atheistisch und antireligiös eingestellt waren, sahen sich diese Parteien genötigt, ihre antireligiöse Einstellung aufzugeben, um eine Regierungskoalition aufstellen zu können. Nur die oppositionellen Ultralinken, die auch eine sehr prosowjetische Haltung einnehmen, blieben ihrer atheistischen Anschauung „treu“.

So kann man in Israel nur nach religiösem Ritus heiraten, und Mischehen zwischen Anhängern jüdischer und christlicher Konfession oder jüdischer und mohammedanischer Konfession sind zwar nicht nach dem Gesetz verboten, aber praktisch unmöglich. Auch die Ehen von Mischehepaaren, die im Ausland geschlossen wurden, sind vor dem Gesetz nicht anerkannt.

Ähnliche Gesetze zur Wahrung der jüdischen Religion bestehen auch auf anderen Gebieten. So stellte es sich zum Beispiel heraus, daß die Schweinezucht in Israel einer der einträglichsten Wirtschaftszweige werden könnte, aus religiösen Gründen aber verboten ist. Genauso ist der öffentliche Verkehr (Autobusse, Eisenbahn usw.) am Samstag (Schabbath), dem einzigen israelischen Ruhetag, verboten, obzwar mindestens 80 Prozent der israelischen Bevölkerung am Schabbath fahren und gern bereit wäre, diese Zeit für Ausflüge auszunützen.

Nun wurde vor einiger Zeit eine „Liga zum Kampf gegen religiösen Zwang“ gegründet, die bereits großen Anklang bei der israelischen Bevölkerung fand.

Dagegen gibt es in Israel eine kleine religiöse Gruppe, die sehr extrem eingestellt ist und aus diesem Grunde nicht bereit war, mit den „ketzerischen“, antireligiösen Parteien eine Koalition aufzustellen. Ein Teil dieser streng religiösen Juden ist der Ansicht, daß die Aufstellung des israelischen Staates nicht von Gott gewollt ist und zu früh stattfand, denn man habe nicht das Recht, die Tage des Messias mit Gewalt herbeizuführen. Erst nach Auferstehung des Erlösers (Messias) werde der Weltfrieden erlangt werden und der gottgewollte Staat Israel auferstehen.

Dies ist der Hintergrund zu einem heftigen Kampf, der sich in diesen Tagen um ein im Jahre 1959 entführtes Kind namens Jossele Schuch-macher abspielt.

Die Eltern von Jossele wanderten im Jahre 1955 aus der Sowjetunion ein. Da die wirtschaftliche Lage der Eltern schwierig war, wurde das Kind bei dem streng religiösen Großvater Nach-man Starkes erzogen. Nachman Starkes selbst war einige Jahre vorher gleichfalls aus der Sowjetunion eingewandert. Er hatte schon dort für seine Religiosität viel erdulden müssen. Die Eltern Josseies baten im Jahre 1959 um ihr Kind, doch Großvater Starkes erklärte sich nicht bereit, das Kind zurückzugeben, weil seine Talente es zu einem großen Rabbi bestimmten. Außerdem behauptete Starkes, daß seine Tochter mit ihrem Mann in die Sowjetunion zurückfahren wolle: Da die Eltern selbst nicht fromm seien, so sei der (damals neunjährige) Junge für die Religion verloren. Nachman Starkes erhielt die Unterstützung des Jerusalemer Oberrabbiners, des erst kürzlich verstorbenen Rabbi Zwi Pes-sach Frank, der einer der größten religiösen Autoritäten Israels war und einen Urteilsspruch zugunsten des Großvaters erließ. Diesem Urteilsspruch folgte ein langer Gerichtskampf, der vor den obersten israelischen Gerichtsgremien ausgetragen wurde und den Eltern Josseies schließlich ihr Elternrecht zusprach. Doch Großvater Starkes wartete dieses Urteil nicht ab. Jossele, der in einer Talmud-Schule (Jeschiwa) in Rischon Lezion, südlich voft Tel Aviv, lernte, verschwand spurlos im Dezember 1959. Es stellte sich heraus, daß sich ein Onkel Josseies, Schalom Starkes, der Sohn von Nachman Starkes, der selbst Lehrer einer Jeschiwa ist, an der Entführung des kleinen Jossele beteiligt hatte. Anfangs wurde das Kind nach Kommemiuth, einem kleinen Dorl von Ultrareligiösen im Negew (Süden des Landes), gebracht. Um den Häschern der Polizei zu entgehen, wurde das Kind Mitte März 1960 anscheinend von seinem Onkel und einigen Helfern per Flugzeug nach London geschmuggelt.

Erst nach der Verhaftung eines Einwohners von Kommemiuth, namens Salman Kott, im August 1961 gelang es der israelischen Polizei, festzustellen, daß sich Jossele in einem der religiösen jüdischen Quartiere des Londoner East End befindet.

Scotland Yard, von der israelischen Polizei gebeten, Jossele in London zu suchen, strengte sich nicht sonderlich an: Jossele ist bis heute nicht gefunden ...

Schalom Starkes, der sich selbst in London aufhielt, wurde als israelischer Bürger der Entführung eines unmündigen Kindes bezichtigt. Die israelischen Behörden wandten sich an die englischen Behörden und baten um Auslieferung von Starkes. Doch Starkes weigerte sich, zurückzukehren und bat in England um politisches Asyl. Er wurde von der Londoner Polizei verhaftet, und vor dem englischen Obersten Gericht entspann sich ein langer Kampf zwischen den besten englischen Juristen, deren sich beide Seiten, das heißt die israelische Botschaft und die ultrareligiösen Juden Londons, bedienten, um für oder gegen die Auslieferung Starkes zu kämpfen. Schalom

Starkes sitzt bereits mehr als acht Monate in einem englischen Gefängnis, und erst dieser Tage dürften die Gerichtsverhandlungen ihren positiven Abschluß finden, dem zufolge Starkes an Israel ausgeliefert werden wird.

Auch der greise, fast 80jährige Nachman Starkes wurde bereits im Jahre 1960 von der israelischen Polizei verhaftet und wird seither auf Verlangen seiner Tochter, die verzweifelt um ihr Kind kämpft, im Gefängnis gehalten. Er befindet sich in demselben Gefängnis in Ramleh, in dem sich auch Adolf Eichmann befindet...

Die Affäre Jossele erweckte in Israel solches Aufsehen, daß es zu einigen großen Parlamentsdebatten kam.

In die Affäre mischten sich prominente jüdische Persönlichkeiten des Auslandes, wie der Oberrabbiner Englands, Dr. Israel B r o d i e, der zu diesem Zweck eigens nach Israel kam und versuchte, den israelischen Staatsanwalt zu bewegen, auf eine Strafanzeige gegen die Entführer zu verzichten. Seine Bemühungen schienen schon Erfolg zu haben, als sich dieser Tage plötzlich herausstellte, daß die ultrareligiösen Kreise in Israel bereits früher Kinder entführt hatten, um sie für die Religion zu retten. Zuerst entdeckte man, daß sich schon im Jahre 1950 ein solcher Fall ereignet hatte, und nun stellte es sich vergangene Woche heraus, daß im Jahre 1958 von denselben Personen, die in die Entführung Josseies verwickelt waren, ein anderes Kind namens Israel Winik-Rosenberg für eineinhalb Jahre entführt wurde.

Wieder werden antireligiöse Stimmen stärker und stärker, und wenn Jossele nicht bald seinen Eltern zurückgegeben wird, kann der Kampf um das heute elf Jahre alte Kind Jossele Schuchmacher in einen Kulturkampf ausarten, der Israel in seinen Grundfesten erschüttern dürfte.

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