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Kulturpolitische Wendung in der Türkei

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Istanbul-Beyoglu, Anfang März

Als das erste republikanisch-türkische Kabinett Ismet Pascha, des heutigen Staatspräsidenten, am 3. März 1924 die Abschaffung des Kalifats aussprach und damit den Übergang vom theokratisch regierten zum laizistisch-liberaldemokratischen Staat einleitete, war der Eindruck im gesamten Ausland, vor allem natürlich in der muselmanischen Welt, fast ebenso stark als in der Türkei selbst, denn es wurde dadurch mit einer jahrhundertealten Tradition gebrochen.

Gleichzeitig mit der Abschaffung des Kalifats wurden das Scheich-ul-Islamat, die höchste, einem Ministerium gleiche geistliche Rechtsinstanz, mit sämtlichen geistlichen (Scheriats-) Gerichten, das Ministerium der frommen Stiftungen (Evkaf) und die zahllosen mittelalterlichen Schulen (Med- ressen) aufgehoben. Die Führung der geistlichen Angelegenheiten ging an eine dem Ministerpräsidium ' unterstellte Generaldirektion für Kultusangelegenheiten über. Ungefähr zur selben Zeit, als diese gewichtigen Beschlüsse seitens des Kabinetts gefaßt wurden, wurden in der Großen Türkischen Nationalversammlung nach sechsmonatiger Arbeit die Beratungen über die neue republikanische Verfassung beendet,' die am 20. April 1924 Gesetz wurde. Sie garantiert unter anderem allen türkischen Staatsbürgern die Gewissens- und Religionsfre'i- heit. Die noch im selben Jahre von Atatürk verfügte Abschaffung des Fez und der orientalischen Kleidung, die auch als ein religiöses, altottomanisches Zusammengehörigkeitssymbol gewertet worden waren, bildete den Übergang zu weiteren Reformen im Kultussektor, so zum Beispiel die Auflassung der Derwischklöster (Tekke) und der bewachten Hedligengräber (Türbe) und Auflösung der vielen, oft geheimen Sekten (Tarakat). Es erging auch ein Verbot gegen Weissager, Chiromanten und dergleichen. Die Heranbildung der Geistlichen wurde aus dem staatlichen Aufgabenkreis ausgeschieden und der öffentliche Unterricht vollkommen verweltlicht.

In der Fortsetzung der staatlichen Laisierungspolitik, für die Religion nur mehr eine Gewissensangelegenheit des einzelnen war, kam es dann neun Jahre später zu neuen, kleineren Reformen, und zwar durch das Gesetz vom 26. November 1934, das die Absdiaffubng der alten Titel, wie Hafiz (Koranvorbeter), Hodscha (Lehrer), Hadschi (Mekkapilger), Mollah (Theologe) usw., verfügte, und das Gesetz vom 13. Dezember 1934, das die geistlichen Trachten aus der Öffentlichkeit entfernte. Mit diesen einschneidenden Reformen wurde in der neuen Türkei die Trennung von Staat und Kirche auf der ganzen Linie vollzogen. Die Vorschrift des Laizismus zur Bekun dung der Trennung der religiösen von den staatlichen Angelegenheiten wurde unter anderem den Statuten der Republikanischen Volkspartei, der noch bislang alleinigen Staatspartei, entnommen und zum Staatsgrundgesetz erhoben.

Der vollzogene Einschnitt in das geistige Leben der Türkei ging ungeheuer tief. Denn der Islam ist mehr als ein religiöses System, er ergreift den ganzen Menschen in allen seinen Lebensgewohnheiten und Lebensformen und bestimmte bis in dieses Jahrhundert hinein sogar die Kleidung, ja er ist den mohammedanischen Völkern so tief eingeprägt, daß er selbst den Stil der Gegenstände des täglichen Gebrauchs geformt hat. Die kupferne Kanne, die Schale, die Platte trägt dieselben Stilmerkmale, ob sie von einem Kupferschmied im Atlasgebirge, in Bosnien, Smyrna oder in Nordindien stammt. Revolutionärer konnte man in das geistige und soziale Dasein des türkischen Volkes nicht eingreifen, als es Atatürk tat. Der Schock, der von seinem Handeln ausging, wurde nur gemildert durch die Unmöglichkeit, eine solche, alles erfassende Umwälzung in den großen bäuerlichen Räumen Anatoliens zu vollziehen. Anfangs war sie von einer freisinnigen R - formbewegung ausgegangen, der als Vorbild der französische Antiklerikalismus, der kirchenstürmerische Elan eines Combes vorgeschwebt hatte. Freimaurerische Unterströmungen, die in der jungtürkischen Bewegung von Anfang an heimisch gewesen waren, spielten mit. Ein Kulturkampf mit weitgesteckten Zielen sollte das türkische Volk einem neuen Zeitalter entgegenführen.

In der Durchführung der Pläne wurde eine gewisse Mäßigung geübt. Der Staat zeigte Weitherz:gkeit in religiösen Dingen, doch er unterstützte die Kirchen nicht und die Religion blieb sich selbst überlassen. Die entstandene Verwirrung war groß. Die muselmanischen Eltern, die ihren Kindern Religionsunterricht zuteil werden lassen wollten, wußten zum Beispiel nicht, an wen sie sich wenden sollten, denn die Religionslehrer wurden immer seltener und es mangelte in Stadt und Land an Imams (Geistlichen) und Muezzins (Gebetsrufern). Mit den Reformen, die viele im Laufe der Jahrhunderte entstandene Auswüchse beseitigten, war aber auch — wie dies bei revolutionären Akten der Fall zu sein pflegt — mit dem Bade gleich auch das Kind ausgeschüttet worden.

Nicht nur, daß die Anhänglichkeit an den Islam und seine Lebensgesetze sich als viel zäher erwiesen, als es die Reformer in ihrem stürmischen Eifer geglaubt hatten, es war vielmehr auch erkennbar in die zuverlässigsten Schichten des Staatsvolkes Unruhe, Unsicherheit und Unzufriedenheit getragen worden. Und was noch schlimmer, der

Mangel einer Erziehung, die jeder religiösen Norm und Tradition bar war, machte sich namentlich bei der heranwachsenden nicht- bäuerlichen Generation bemerkbar. In ihr war zwar die Religion ausgelöscht worden, aber an dem freigewordenen Platz hatten sich allerlei Unruhherde gebildet, die den führenden Männern der Republikanischen Volkspartei zu denken gaben. Man sah, daß Warnungssignale aufstiegen. Den ersten Schritt zur Eröffnung eines neuen Kurses, einer entschlossenen Umkehr auf falschem Wege tat im Vorjahr der Volksparteiabgeordnete Hamdullah Suphi Tan- rioever, eine markante Persönlichkeit des türkischen Geisteslebens, der gelegentlich der Budgetdebatte in der Großen Nationalversammlung die Forderung nach der Sicherung des Religionsunterrichts mit der Notwendigkeit begründete, „die moralischen Eigenschaften des türkischen Volkes zu entwickeln, um es gegen gefährliche Tendenzen zu wappnen; dies habe zur Voraussetzung, daß der Religion die ihr als moralische Kraftquelle des türkischen Volkes zukommende Bedeutung wiedergegeben werde“

Die Initiative des angesehenen Parlamentariers wurde von der Republikanischen Volkspartei aufgegriffen. Mit der Prüfung von Forderung und Aufgabe wurde eine parlamentarische Kommission der Partei betraut. Da Staatspräsident I n ö n ü gleichzeitig nomineller Präsident der Partei ist war es ersichtlich, daß dieses grundsätzlich so bedeutsame Unternehmen, das vielen mit der bisherigen streng laizistischen Ausrichtung der türkischen Republik unvereinbar schien, auch die volle Billigung des Staatschefs findet. Die Kommission beendete ihre Beratungen noch vor den Parlamentsferien. Sie hatte folgende grundsätzliche Beschlüsse gefaßt:

1. Fakultative Religionsunterrichtskurse werden in den beiden letzten Klassen der Volksschulen genehmigt. Diese Kurse werden im Schulgebäude selbst abgehaltsn.

2. Das Unterrichtsprogramm für diese Kurse und die Lehrbücher werden von der Direktion für religiöse Angelegenheiten ausgearbeitet und vom Ministerium für nationale Erziehung genehmigt.

3. Der Unterrichtsminister ist für die Ernennung der Religionslehrer und jeder anderen qualifizierten Person, die mit diesem Unterricht betraut wird, zuständig.

4. Die parlamentarische Gruppe der Repu- blikanidien Volkspartei empfiehlt schließlich die Schaffung von Anstalten für die Heranbildung von Imams (Geistlichen) und Predigern sowie einer an die Universität von Istanbul, beziehungsweise Ankara angeschlossenen Muselmanischen Theolog i s c h e n F a k u 11 ä t.

Die Ausarbeitung dieser von der Kommissionsmehrheit .gebilligten Beschlüsse ist begreiflicherweise nicht ohne viel Für und Wider — die Opposition kam aus den Reihen der radikal-republikanischen Kreise — vor sich gegangen. Da indessen die Republikanische Volkspartei als die führende und regierungsbildende parlamentarische Gruppe zu diesem Beschluß steht und selbst seitens der Opposition, der Demokratischen Partei, bisher keine Stimme gegen das Wesen der Sache, die Einführung des Religionsunterricht, laut geworden ist, erscheint diese grundsätzlich bereits gesichert. Das Parlament wird nach seinem Wiederzusammentritt an diese Gesetzgebung herantreten. Es ist interessant und zeigt das weite Zurückschwingen des Pendels, daß der zitierte Kommissionsbeschluß sogar staatliche Vorkehrungen für die Heranbildung von Imams und Predigern vorsieht.

Schon die Vorbereitung dieses Ereignisses hat in der gesamten muselmanischen Welt starken Eindruck geübt. Seine Durchführung wird zweifellos auch eine gewisse positive außenpolitische Auswirkung haben, obwohl an eine rein innere Maßnahme gedacht war und außenpolitische Erwägungen keine Rolle spielten. Außenminister Nec- meddin Sadak hat dies kürzlich ausdrücklich festig estellt; der Staat folge mit der Einführung des Religionsunterrichts einem wesentlichen Bedürfnis! Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die Türkei zu dem in diesem Monat in Karachi (Indien) stattfindenden Islamitischen W e 1 t- kongreß eingeladen wurde, der die von Mohammed Ali Jinnah, dem Präsidenten der Muselmanischen Liga und Führer der 90 Millionen Muselmanen Indiens, schon im Vorjahr amgekündigte gegenseitige kultu relle und geistige Verständigung aller muselmanischen Völker einleiten soll.

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