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Lange Verhandlungsdauer erwünscht

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„Schauen Sie“, entgegnete er, „die Regierung hat im Sommer beschlossen, dem Gemeinsamen Markt beizutreten. Die Folgen eines solchen Entschlusses sind zunächst verborgen geblieben. Immer mehr wird sich die Öffentlichkeit aber der Problematik dieses Entschlusses bewußt. Das Resultat sind die vielen Artikel in der Tages- und Sonntagspresse. Ein Beitritt Großbritanniens offenbart die weltweiten Zusammenhänge einer europäischen Integration. Was geschieht zum Beispiel, wenn australischer Weizen mit Zollpräferenz in diesen Gemeinsamen Markt importiert wird. Was werden die USA machen, die der Schild der freien Welt sind, wenn ihnen auf diese Weise Märkte weggenommen werden? Man könnte argumentieren, daß es ohnehin schon Überseegebiete in der EWG gibt. Aber das sind Entwicklungsgebiete Afrikas. Australien ist kein unterentwickeltes Land, es ist ein Land mit einer ziemlich hohen Prosperität. Ich kann auf diese Fragen keine Antwort geben. Aber ich könnte noch mehr Beispiele anfuhren. Um diese Probleme zu ..lösen, dazu wä, langwierige Verhandlungen aller Beteiligten wünschenswert. Und der Betritt Großbritanniens ist eine prächtige Gelegenheit dazu. Das Paradoxe ist aber, daß die britische Regierung eine kurze Verhandlungsdauer wünscht und der Beantwortung aller schwierigen Fragen ausweichen will. Man ist nur von einem Wunsch beseelt: Hinein in die EWG!“

Als ich ihn frage, wieso denn die meisten Professoren und Dozenten der Wirtschaftswissenschaften glauben, ein Beitritt Englands zur Erreichung eines rascheren Wirtschaftswachstums sei unnötig, meint er: „Die akademische Nationalökonomie hat in diesem Land kaum etwas zur Lösung dieser Fragen beigetragen. Sie ist zu sehr mit Ricardo verhaftet, zu sehr statisch. Sie unterschätzt den psychologischen Faktor. Wenn die Mehrzahl der Manager in der Industrie überzeugt ist, die wirtschaftliche Aktivität werde im Rahmen der EWG zunehmen, dann wird es so sein.“

Und abends Tee trinken...

Je nach Herkunft und Beruf unterscheidet sich die Einstellung des Herrn Jedermann zu dieser Frage. Der Geschäftsmann sieht nur den großen Markt, hofft auf Gewinnchancen und neigt dazu, die Kehrseiten eines Beitritts zur EWG zu bagatellisieren. Von einem Teil der Presse wird diese Meinung erheblich gefördert: Großbritannien hätte in den letzten Jahren nur eine durchschnittliche Wachstumsrate von rund 1,5 Prozent gehabt, die Länder des Gemeinsamer Marktes durchschnittlich fünf bis sechs Prozent. „Was wollen Sie mehr?“ antwortet mir der Direktoi einer kleinen Maschinenfabrik in Manchester zum Beispiel, als ich ihn nach seiner Meinung bezüglich des Beitritts Großbritannien,zut EWG frage.,,,,Vergleichen Sie doch das WachWmf rcr Industrie mit jener Deutschlands. Oder die unterschiedliche Entwicklung der Produktivität in diesen beiden Ländern. Wenn wir nicht völlig den Boden unter den Füßen verlieren wollen, müssen wir hinein. Die Vorteile überwiegen die paar Nachteile bei weitem. Die Länder des Commonwealth werden in den nächsten zehn Jahren eigene Industrien aufbauen; wir werden diese Märkte zum Teil verlieren. Zölle, Quoten usw. Sie wissen ja, wie das ist!“

Anders denkt ein Teil der Arbeitet und Angestellten. Sie fürchten die Konkurrenz der deutschen Industrie und befürchten eine größere Arbeitslosigkeit. Sie sind sich bewußt, daß die Produktivität auf dem Kontinent höher ist. Hauptsächlich erwarten die Arbeiter eine Verminderung des Einflusses der Gewerkschaften (was die Unternehmer zwar begrüßen würden, aber verneinen). In der Tat erreicht der gewerkschaftliche Einfluß in England ein beachtliches Maß. (Mehr darüber zu sagen, würde zu weit führen, da die Verhältnisse komplizierter als in Österreich sind.) Wenn man Angestellten erzählt, daß in Wien der Großteil der Beschäftigten täglich um 7 Uhr zu arbeiten beginnt, erntet man nur ein ungläubiges Kopfschütteln. Vor 8.30 Uhr zu arbeiten gilt einfach als absurd. Und spätestens zwischen 17 und 17.30 Uhr will der durchschnittliche Arbeiter zu Hause vor seinem Kamin seinen Tee trinken. Alles das sieht der Großteil der Arbeiter gefährdet, wenn England dem Gemeinsamen Markt beitritt.

Die Meinung der Intellektuellen ist schwierig zu erforschen, weil sie sehr schwankt. Professoren und Dozenten der wirtschaftlichen Fakultät der Manchester Universität zum Beispiel lehnen einen Beitritt Großbritanniens mehr oder weniger offen ab. Fragt man nach ihren Motiven, so ist ein Teil aus wirtschaftlichen und politischen Gründen dagegen, der andere nur aus politischen. Das ökonomische Argument lautet etwa so: Wenn Großbritannien beitritt, würde der heimische Markt mit Importgütern überschwemmt, zahlreiche Branchen kämen in Schwierigkeiten, verlören einen Teil ihres Inlandsabsatzes, den sie nicht durch Exporte wettmachen könnten. Bleibt Großbritannien außerhalb des Gemeinsamen Marktes, ginge der Export dorthin etwa in der Größenordnung von sechs Promille des Bruttosozialproduktes zurück. Wenn England nur ein Fünftel der Exporte der EWG-Länder nach der EFTA an sich zöge — das wird als durchaus wahrscheinlich angesehen —, könnte dieser Verlust nahezu ausgeglichen werden, das Bruttosozialprodukt würde sich höchstens um zwei bis drei Promille verringern. Am Wachstum der EWG könnte England auch ohne Beitritt .teilnehmen, wenn die Regierung sich entschlösse, die Währung abzuwerten. Man-, bliebe aber Herr im eigenen Haus. •

Die Einstellung der akademischen Lehrer wirkt sich natürlich auf die Meinung der Studenten aus. Wenn sich vielleicht ein Großteil der Bevölkerung Englands über seinen persönlichen Standpunkt in der Frage des Beitritts Englands zur EWG nicht schlüssig ist, über eines sind sich alle Engländer, ob jung oder alt, einig: große Veränderungen stehen bevor. Oder, wie es ein Student der Geschichte aus Oxford ausdrückt: „Seit der Reformation hat sich keine Entscheidung von solch weittragender Bedeutung in diesem Land ereignet, wie es der Beitritt zur EWG darstellen wird.“

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