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Eine kurze Pressemeldung in diesen Tagen. Die Kinder des Baldur von Schirach haben kurz vor Schluß der Genfer Konferenz an die Außenminister der vier Großmächte ein Gesuch um Begnadigung ihres Vaters eingereicht. Schiräch wurde am 1. Oktober 1946 im großen Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß zu zwanzig Jahren Gefängnis’ verurteilt. Wenn keine Begnadigung erfolgt, muß er bis 1966 im Spandauer Militärgefängnis sitzen.

„Die Furche” möchte sich diesem Appell der Kinder Schirachs anschließen, als Stimmführerin des demokratischen Wiens und des weder „nationaler”, geschweige nationalsozialistischer Sympathien verdächtigen Oesterreichs.

Weil heute hierzulande, und vor allem in Deutschland, ehemals führende Nationalsozialisten wieder in hohen Stellungen sitzen?

Weil ein früherer Staatssekretär im Justizministerium Hitlers dreitausend D-Mark Pension monatlich erhält? Weil in Verwaltung und Justiz Menschen arbeiten, Urteile fällen, die erkennen lassen, daß der alte Ungeist als ein Bazillus in ihnen wütet? Weil der alte Ungeist nicht tot ist?

Diese Verkehrung der Werte kann kein guter Grund für die Freilassung des Mannes sein, der als Dreiunddreißigjähriger nach Wien kam, um als Hitlers „Reichsstatthalter” hier zu regieren. Wohl aber gibt es andere, gute Gründe. Hören wir sie ruhig an.

Der Weimarer Gymnasiast Baldur, Sohn eines Generalintendanten des Weimarer Hoftheaters, steht symbolisch für eine junge deutsche Generation, die, im Sturm und Drang ihrer Herzen, verführt, nicht zuletzt durch ihre Väter, die damals quer durch das ganze „bürgerliche” Lager nicht an die Demokratie glaubten, in den Nationalsozialismus hineinscheiterte. Der junge Student Schirach wird bereits in die Reichsleitung der NSDAP nach München berufen, der Dreiundzwanzigjährige wird „Reichsjugendführer”. Es ist heute an der Zeit, daß Männer, die selbst als Gymnasiasten und Studenten gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben, einem wichtigen Kernteil ihrer Gegner und Feinde von damals das Zeugnis ausstellen: hier waren auch Idealisten am Werk. — Ich erinnere mich, während ich dies schreibe, besonders auch der Situation in Oesterreich. Durch die Schuld ihrer Väter, durch die schwächliche Politik, die der Jugend keine echten Chancen bot und lange kein sicheres staatspolitisches österreichisches Konzept über alle anderen Werte setzte, damals, ähnlich und anders wie heute — schlitterte ein nicht geringer Prozentsatz österreichischer Studenten und Gymnasiasten in den Nationalsozialismus hinein. Es Wär zunächst nicht ;,die Fliege”, Hitlers zager Schnurrbart, der sie anzog, sondern ein „Traum vom Reich”, von dem Reich ihrer Träume.

Was hat das alles mit Baldur von Schirach zu tun? Sehr viel. Dieser Mann steht. nämlich symbolisch für eben diese „bewegte” Jugend; Schirach war auf seine Art ein Romantiker, ein „ewiger Jüngling”, auch noch als „Reichsstatthalter” ein Träumer.

Der Name Schirachs ist in Wien nur noch ein Schemen. Daß er sich gegen die SS und die wirklichen Machthaber nicht durchsetzen konnte, daß er, der bald merkte, wie hier andere Winde wehten, als in anderen Zonen, und daß dieser schlechte Krieg nicht zu einem guten Ende zu bringen war, nicht abtrat, dürfte ihm nur dann im strengsten Sinne vorgeworfen werden, wenn alle, die im Dritten Reich bis zuletzt dienten, heute dafür zur Verantwortung gezogen würden. Nicht vergessen werden sollte auch seine aufrichtige Hochschätzung des russischen Volkes, seine Anteilnahme am Schicksal der russischen Gefangenen. Daß er auch da danebengeriet, hängt mit der ganzen Position zusammen, die er einnahm. Für seirie Schuld, die Schuld eines „Idealisten”, eines politisch schwachen Mannes, hat er mit dreizehn Jahren Gefängnis genug gebüßt.

Franzosen haben deutschen Generalen und anderen hohen Offizieren, die als Chefs der Besatzung in Paris und anderen Städten sich um eine möglichst humane Behandlung der Stadt und ihrer Bevölkerung bemühten, nach dem Kriege alle Ehren erwiesen. Wien hat keinen Grund, Herrn von Schirach Ehren zu erweisen. Wohl aber hat das demokratische Wien guten Grund, sich selbst diese Ehre zu geben: und sich dem Appell der Kinder für seine Begnadigung jetzt anzuschließen.

Lassen wir ihn in Frieden gehen, wohin er will, in die Anonymität. Die Feinde der Demokratie und der Unabhängigkeit Oesterreichs sind nicht im Spandauer Gefängnis zu suchen. Sie sind mitten unter uns. Vielleicht manchmal auch in uns selbst: immer dann, wenn wir es nicht wagen, unsere Mißstände im Inneren beim rechten Namen zu nennen, weil wir dabei auf manchen namhaften Mann stoßen …

Geben wir uns also die Ehre, dem Manne von gestern die Freiheit zu erbitten, und nehmen wir uns die Freiheit, in Oesterreich selbst mehr noch als bisher nach dem Rechten zu sehen.

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