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Lebensredit und Ehemoral

19451960198020002020

Von Dr. med. Albert Niedermeyer, Professor der Pastoralmedizin an der Universität Wien, Vizepräsident der österreichischen Katholischen Ärztegilde „St. Lukas", Mitglied der Wiener Katholischen Akademie •

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Von Dr. med. Albert Niedermeyer, Professor der Pastoralmedizin an der Universität Wien, Vizepräsident der österreichischen Katholischen Ärztegilde „St. Lukas", Mitglied der Wiener Katholischen Akademie •

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Selten sind die Worte eines Papstes als des Trägers der höchsten Lehrautorität der Kirche so vielfach mißverstanden, mißdeutet, vielleicht sogar bewußt entstellt worden, wie es kürzlich der Fall bei zwei hochbedeutsamen Ansprachen Papst Pius' XII. war. Die erste dieser beiden Ansprachen wurde am 29. Oktober 1951 an die Mitglieder des Kongresses der italienischen Hebammen gerichtet (cf. „Osservatore Romano“, 5.— 6. Novembre 1951, n. 257 27.803); die zweite war einer Tagung der italienischen Familienverbände am 28. November 1951 gewidmet (cf. „Osservatore Romano“, 29. Novembre 1951, n. 277 27.823).

Es waren hauptsächlich zwei Punkte, die in den Zeitungsberichten falsch dargestellt wurden. Der eine betraf die Frage nach dem Lebensrecht von Mutter und Kind: insbesondere die Frage, ob das Lebensrecht der Mutter den Vorrang hat oder ob das des Kindes dem der Mutter vorgeht. Die andere umstrittene Frage war die, ob und inwieweit der Papst die Methode der Geburtenverhütung nach Knaus-Ogino verurteilt oder gutgeheißen hat. Hinsichtlich beider Fragen wurde versucht, der ersten Ansprache einen unhaltbar rigoristischen Standpunkt unterzulegen, um dann die zweita Ansprache so zu deuten, als hätte der Papst sich durch die heftigen Abwehrreaktionen in der Tagespresse aller Länder genötigt gesehen, seine ersten Ausführungen abzuschwächen, zum Teil zurückzunehmen und in wesentlichen Punkten zu korrigieren; mit anderen Worten, als hätte der Papst sich geirrt und diesen seinen Irrtum kurz nachher unter dem

Druck der öffentlichen Meinung widerrufen müssen.

Damit wollte man anscheinend dem Leser den naheliegenden Schluß überlassen, daß die Lehre von der Infallibili- tät des kirchlichen Lehramtes ad absurdum geführt worden sei. Unter den Stimmen der Kritiker waren zweifellos weit mehr unberufene als berufene. Als unberufen ist vor allem jeder zu bezeichnen, der sich in so verantwortungsvollen Fragen eine Kritik anmaßt, ohne die hiezu erforderliche Sachkenntnis zu besitzen. Wer sich nur einigermaßen ernst mit den schwierigen Grenzfragen zwischen Theologie und Medizin, der sogenannten Pastoralmedizin, beschäftigen will, wird bald erkennen, wie ungeheuer ausgedehnt und wie schwierig dieses Gebiet ist, und diese Erkenntnis müßte wohl jeden von einer unberufenen Kritik abhalten.

Was zunächst die Frage des Lebensrechtes betrifft, so ist festzustellen: Mit keinem Wort hat der Heilige Vater erklärt, daß das Lebensrecht des Kindes vor dem der Mutter den Vorrang habe; daß demnach die Mutter unter allen Umständen zugunsten der Rettung des Kindes aufgeopfert werden müsse. „Die Mutter auf dem Opferaltar“ — so lautet geradezu aufreizend die Überschrift der „Obersteirer Volksstimme“ vom 3. November (n 69). Demgegenüber ist festzustellen, daß die Kirche niemals in der Frage der Fruchttötung das „Recht der Güterabwägung“ vertreten, mit anderen Worten die Frage überhaupt zur Erwägung zugelassen hat, welches Leben wertvoller ist, das des Kindes oder das der

Mutter. Vielmehr hat schon Papst Pius XI. in der Enzyklika „Casti Con- nubii“ eindeutig erklärt: „Gleich heilig ist beider Leben“ (n. 54). Die Aufgabe des Geburtshelfers kann demnach überhaupt nicht darin bestehen, zu entscheiden, welches der beiden Leben „wertvoller" ist; keine Wissenschaft der Welt verfügt über die Maßstäbe, diese Frage zu entscheiden. Sie hat vielmehr die einzige Aufgabe, mit allen Mitteln dahin zu streben, beider Leben zu erhalten und zu retten. Die voreilige und anmaßliche Kritik hat anscheinend die Entwicklung der Geburtshilfe in den letzten 50 Jahren völlig übersehen, durch welche die Kraniotomie, das heißt die Tötung des lebenden reifen Kindes unter der Geburt zur Rettung der Mutter, völlig überflüssig geworden ist, so daß sie in einer wirklich modernen Geburtshilfe einfach nichts mehr zu suchen hat; sie hat übersehen, welche Fortschritte die geburtshilfliche Prophylaxe speziell in den letzten zwanzig Jahren gemacht hat, mit deren Hilfe es jetzt möglich ist, alle drohenden Geburtskomplikationen rechtzeitig zu erkennen und ihnen zuvorzukommen; wie sehr eine wirklich gute Schwangerenfürsorge in Verbindung mit einer neuzeitlichen Therapie imstande ist, alle, auch die schwersten Schwangerschaftskomplikationen erfolgreich zu meistern, so daß es so gut wie immer gelingt, auch ohne „medizinische Indikation" jede Schwangerschaft zumindest bis zur Lebensfähigkeit des Kindes zu erhalten und damit das Leben des Kindes zu retten und zugleich das der Mutter zu erhalten; zumindest mit geringerer Gefährdung zu erhalten, als es mit dem nur allzu bequemen Auskunftsmittel des Abortus möglich wäre, der für die Mutter nur allzuoft schädlicher ist als das Leiden, um dessentwillen er vorgenommen wird.

Ein Absatz aus den Ausführurgen des Papstes vom 28. November zu den Familienverbänden ist nun dahin mißverstanden worden, als hätte der Heilige Vater im Gegensatz zu früheren Erklärungen die Tötung der Leibesfrucht unter gewissen Umständen doch für erlaubt erklärt: er betrifft die Frage der indirekten Tötung. Es handelt sich hiebei um jenen Fall, wo ein ärztlicher Eingriff eine doppelte Wirkung (duplex effectus) haben kann: eine heilende und zugleich eine abortive. Sofern die letztere nicht unmittelbar intendiert, sondern nur als Nebenwirkung voraussehbar und zugelassen ist, handelt es sich um den Fall der „indirekten" Tötung, und eine solche ist nach längst vorher feststehender Lehre der Moral, nicht in se unerlaubt, sondern kann aus schwerwiegenden Gründen zugelassen sein.

Wird zum Beispiel in der Schwangerschaft eine unaufschiebbare Operation vorgenommen, wie etwa wegen eines vereiterten oder durchgebrochenen Wurmfortsatzes, wegen eines Magendurchbruches, Darmverschlusses (Ileus), so ist es möglich, daß der Operationsschock einen Abortus zur Folge hat. Diese Möglichkeit macht aber die lebensrettende Operation nicht unerlaubt, vielmehr ist sie durchaus statthaft; sofern ein Eingriff bis zur Lebensfähigkeit des Kindes aufschiebbar ist, wäre er bis dahin aufzuschieben Nur darum handelt es sich bei der Lehre vom indirekten Vorsatz; und so, wie Plus XII. sie formuliert hat, ist sie von der katholischen Moraltheologie von jeher vertreten worden.

Eine Frage, die noch nicht definitiv geklärt ist, ist die nach der Erlaubtheit einer Entfernung des an Krebs erkrankten schwangeren Uterus. Hier sind die Meinungen der Moraltheologen noch geteilt. Die strengere, von Gemelli vertretene Auffassung erblickt in dieser Operation eine direkte Fruchtötung, während die mildere, von Verme e rsch vertretene Auffassung darin eine indirekte Tötung erblickt, die Operation somit für statthaft hält. Aber diese Streitfrage ist schon seit Jahrhunderten unentschieden, es gilt hier daher bis zur definitiven Entscheidung „in dubiis libertas1 .

Eine Alternative „Mutter oder Kind“ besteht jedenfalls für eine moderne Geburtshilfe und Schwangerenfürsorge überhaupt nicht mehr, sondern nur die Aufgabe, Mutter und Kind zu retten:

(„ž erroneo impostare la questione con questa alternativa: o la vita del bambino o quella della madre. No: nč la vita della madre, nė quella del bambino, possono essere sottoposto a un atto di diretta sop- pressione. Per l’una parte e l'altra la esigenza non puö essere ehe una sola: fare ogni sforze per salvare la vita di ambedue, della madre e del bambino“).

Papst Pius XII. hat also auch in dieser Frage nichts erklärt, was nicht die Kirche von jeher gelehrt hätte und was nicht schon sein Vorgänger, Pius XI., in feierlichster Weise ausgesprochen hat. Und es war zumindest sehr unbesonnen, wenn man beispielsweise in England wirklich die katholischen Geburtshelfer als rückständig und minderwertig zu disqualifizieren und aus dem Wettbewerb in der Krankenversicherung auszuschalten versucht hat. Denn die Kirche hat weit vorausschauend in dieser Frage Recht behalten und steht auf dem Boden der fortgeschrittensten Wissenschaft. Der katholische Geburtshelfer hat sich — unter dem Gesichtspunkt einer wirklich modernen Geburtshilfe und Schwangerenfürsorge — nicht nur als nicht rückständig, sondern als weit fortgeschrittener, zuverlässiger und erfolgreicher erwiesen als seine Berufskollegen, die nicht über den Standpunkt der positivistischen Wissenschaft der Jahrhundertwende hinausgelangt sind. Papst Pius XII. hat daher in dieser Frage nichts zurückzunehmen gehabt und hat auch nichts zurückgenommen, Wer sich die Mühe macht, seine Ansprache — womöglich im authentischen Wortlaut im „Osser- vatore Romano“ — wirklich zu studieren, wird alles hier Gesagte bestätigt finden 1 .

Nicht minder entstellt worden sind die Ausführungen des Papstes hinsichtlich der sogenannten „Zeitenwahl“ in der Ehe, das heißt der Anwendung der Methode der Geburtenverhütung nach Knaus und Ogino, der Beobachtung der „fruchtbaren und unfruchtbaren Tage“. Von jeher, seit diese Frage erstmalig in der Pastoralmedizin auftauchte (C a p e 1 1 m a n n, 1883), wurde anerkannt, daß diese Methode — im Gegensatz zu allen übrigen Methoden der „Geburtenkontrolle" — nicht unter den Begriff des „Ehemißbrauches“ (abusus matrimonii) fällt und daher nicht i n s e unerlaubt ist. Auch hierüber hat Papst Pius XI. in der Enzyklika „Casti con- nubii" (n. 60) klar und eindeutig das Nötige ausgesprochen 2. Papst Pius XII. hat nun gegenüber einer leichtfertigen und unverantwortlichen Massenpropaganda für diese Methode mit aller Deutlichkeit ausgesprochen, daß diese durchaus nicht unter allen Umständen und unterschiedslos erlaubt sein kann. Er hat vielmehr einige notwendige und klare Unterscheidungen formuliert. Zunächst hat der Heilige Vater den Hebammen gegenüber erklärt, daß man sich in dieser Frage nur auf verläßliche ärztliche Informationen, nicht aber auf populäre Schriften stützen kann, die zu unterschiedsloser Massenverbreitung bestimmt sind. Man muß hier zwei Dinge auseinanderhalten:

In der Frage, ob die Eheleute ihre ehelichen Rechte auch zu Zeiten natürlicher Unfruchtbarkeit gebrauchen dürfen, hat die Kirche stets gelehrt, daß dies durchaus statthaft ist, sofern der Gebrauch an sich normgemäß erfolgt.

Wird hingegen gefragt, ob es statthaft ist, den Gebrauch des ehelichen Rechtes ausschließlich auf d’e unfruchtbaren Tage zu beschränken, so wird festgestellt: Würde eine dahingehende Vereinbarung nicht nur den Gebrauch des Rechtes (usus iuris), sondern das Recht (ius) selbst antasten, so wäre sie nicht nur absolut unstatthaft, sondern die Ehe wäre ungültig wegen eines wesentlichen Mangels des Ehewillens (defectus Consensus) Die „Zeitenwahl" (observatio temporum) muß daher zur Voraussetzung ihrer Erlaubtheit stets auf ein ernstes, ausreichendes und sicheres moralisches Motiv gegründet sein („basata, oppure no, su motivi morali sufficient! e sieuri"). Die bloße Tatsache, daß der eheliche Akt naturgemäß ausgeübt wird, genügt für sich allein nicht, um die Richtigkeit der Intention zu gewährleisten („non basterebbė per se solo a garantire la rettitudine delTintenziohe“).

Ob diese Voraussetzungen vorliegen, daraufhin muß im Einzelfalle das Verhalten der Eheleute sorgfältigst überprüft werden 4„la condotta degli sposi deve essere esa- minate piü attentamente’").

Soviel steht sicher fest, daß von einer generellen, unterschiedslosen Erlaubtheit der Zeitenwahl nicht die Rede sein kann — ganz abgesehen von den schwerwiegenden medizinischen und hygienischen Bedenken, die gegen die immer mehr überhandnehmende Massenpropaganda sprechen. Der Mangel an absoluter Sicherheit macht die Methode bei wirklich schwerer Gesundheitsgefährdung der Frau, bei erwiesener Lebensgefahr ungeeignet. Es bleibt daher in solchen Fällen für katholische Eheleute kein anderer Ausweg, als der einer absoluten und nicht bloß zeitweiligen Enthaltung. Es sei hier davon abgesehen, noch auf weitere medizinische Bedenken einzugehen, wie die damit nicht selten verbundenen Störungen des Sexualgefühls usw. •; lediglich die für schwere Fälle noch nicht genügende Sicherheit war es, die den Heiligen Vater bewogen hat, in seiner zweiten Ansprache an die Familienverbände die Worte zu sprechen:

„Daher haben Wir in Unserer letzten Ansprache über die Ehemoral auf die Erlaubtheit und die — in Wahrheit sehr weiten — Grenzen einer Regelung der Nachkommenschaft hingewiesen, die, anders als die sogenannte .Geburtenkontrolle', mit dem Gesetz Gottes vereinbar ist. Man kann sogar hoffen (aber in dieser Sache überläßt die Kirche das Urteil der medizinischen Wissenschaft), daß es der Wissenschaft gelingen wird, dieser erlaubten Methode eine genügend sichere Grundlage zu geben. Die jüngsten Informationen scheinen eine solche Hoffnung zu bestätigen.'

(„Si puö anzi sperare ma in tale materia la Chiesa lascia naturalmente il giudizio alia scienza medica ehe questra riesca a dare a quel metodo lecito una base suf- ficientemente sicura, e le pill recenti in- formazioni sembrano confermare una tale speranza.')

Mit keinem Wort hat Papst Pius hier etwas zurückgenommen oder „korrigiert“, was er in der Ansprache vom 29. Okto-

ber über die Grenzen der Erlaubtheit und über die subtilen Distinktionen ausgeführt hat. Seine Worte waren keiner Korrektur bedürftig. Er hat auch mit keinem Wort behauptet, daß die Nachkommenschaft der einzige Zweck der Ehe sei, daß „Ehe nur Kinder zeugen bedeute“, wie unter anderem unter dem Pseudonym O. H. in der Wiener „Arbeiter-Zeitung" vom 4. November 1951 behauptet wurde. Vielmehr hat die Lehre der Kirche von jeher neben dem primären Ehezweck der Fortpflanzung, der procreatio prolis, auch Ehezwecke zweiter Ordnung anerkannt, wie die gegenseitige Liebe, Hingabe und Förderung (mutuum adiutorium, mutuus fovendus amor), auch die Stillung des Naturtriebes (remedium concupiscentiae); nur müssen diese sekundären Ehezwecke dem primären Ehezweck stets untergeordnet sein und dürfen nicht ihrerseits verabsolutiert und an die Stelle des primären Ehezweckes gesetzt werden .

Zusammenfassend kann somit festgestellt werden, daß die Kirche durch ihre oberste Lehrautorität nichts anderes gelehrt hat als das, was sie von jeher durch die Jahrhunderte gelehrt und unbeirrt von allen Zeitströmungen und Irrtümern vertreten hat: die Heiligkeit und Unantastbarkeit jedes menschlichen Lebens, auch des keimenden Lebens und die Reinheit und Heiligkeit der Ehe.

1 Näheres hiezu: cf. Handbbuch der Speziellen Pastoral-Medizin (HSPM), Herder, Wien 1948 — 1952, Bd. III (Lebensrecht, Abor- tuj, Geburtshilfliche Eingriffe); p. 24t ss.

ibid., p. 250 ss.

* cf. HSPM, Bd. II (observatio temporum), p. 76 ss.

’ cf. „Arzt und Christ“, Mitteilungen der österr. Katholischen Ärztegilde, 1951, n. 2.

4 cf. HSPM, Bd. II, p. 40 ss.

• cf. HSPM, Bd. II, p. 78, p. 349 ss.

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