Lenins helfende Hand

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Der Revolutionär und sein Geldbeschaffer: Zwei Biographien.

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Der Revolutionär und sein Geldbeschaffer: Zwei Biographien.

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Eigentlich müsste Helphand der Deckname sein, der Mann war tatsächlich Lenins helfende Hand. Er hieß aber Israil Lasarewitsch Helphand, auf Russisch Gelfand, und nannte sich, gerade weil er ziemlich groß war, Alexander Parvus, der Kleine. Die Sowjetunion ist Geschichte, die nun langsam aufgearbeitet wird. Sie ist noch immer voll der Unklarheiten und Widersprüche. Sie entstehen durch die verschiedenen Blickwinkel der Autoren und durch die genutzten Quellen. Zwei Neuerscheinungen machen das wieder einmal erkennbar.

Da wäre die neue Biographie "Lenin" der Professorin Helene Carrere d'Encausse, die 1999 als erste Frau Präsidentin der Academie francaise wurde. Im Personenregister finden wir unter "Parvus" ganze zwei Verweise. Er wird uns als "der seltsame Alexander Helphand" und "dieser selbst ernannte Doktor" vorgestellt, vor dem Trotzki Lenin warnte, weil er ein "von Deutschland gekaufter Agent" sei. Immerhin hätten die Deutschen Lenin im März 1917 nicht nur aus der Schweiz quer durch Deutschland heimfahren, sondern ihm über die "dubiose Figur" auch zwei Millionen Reichsmark zukommen lassen.

Über Parvus erschien zugleich von der österreichischen Journalistin, Slawistin und Romanistin Elisabeth Heresch das Buch "Geheimakte Parvus - Die gekaufte Revolution". Hier erscheint er nicht als selbst ernannter Doktor, sondern als Revolutionär, der in der Schweiz Vorlesungen unter anderen von Burckhardt und Nietzsche gehört und in Basel mit einer Dissertation über "Die technische Organisation der Arbeit unter dem Aspekt der Ausbeutung der Massen" im Sommer 1891 sehr wohl seinen Doktor gemacht hatte. Nietzsches "Wille zur Macht" sei für ihn "ein neues Evangelium" gewesen, meint Heresch. Im Berner Staatsarchiv fand sie Entwurf und Reinschrift des Gesuchs um Approbation der Dissertation. Die jüdische Konfession hatte Israil Helphand in der Reinschrift wohlweislich ausgelassen. Ob da "ein neues Evangelium" der richtige Vergleich ist?

Politischer Falstaff Helphands Eltern waren Handwerker in Odessa. Er selbst lernte vor seinem Studium das Schlosserhandwerk. Mit 18 Jahren beschloss er, reich zu werden und den Zaren zu stürzen. Beides ist ihm gelungen. Karl Kautsky ließ den jungen Doktor für "Die neue Zeit", Klara Zetkin für die "Gleichheit" schreiben. Er lernte die führenden Theoretiker des Sozialismus kennen und begann selbst theoretisch zu arbeiten. Er war ein gestandener Revolutionär. Als er nach einer Odyssee durch die deutschen Städte mit Frau und neugeborenem Sohn aus Dresden ausgewiesen wurde und die Leitung der Sächsischen Arbeiterzeitung abgab, teilte seine Nachfolgerin Rosa Luxemburg den Lesern die Geburt eines "kräftigen, lebensfähigen Staatsfeindes" mit. Als 1905 in Petersburg die Revolution ausbrach, eilte auch Parvus herbei, wurde verhaftet, nach monatelanger Haft nach Sibirien verbannt, floh und baute nun in der Türkei ein Handels- und Bankenimperium auf. Worauf ihn Trotzki in einem "Nachruf auf einen lebenden Freund" als "politischen Falstaff" abqualifizierte und als Revolutionär abschrieb.

Er hat Helphand falsch eingeschätzt. Der lebt zwar in vollen Zügen seine Genusssucht aus, aber zugleich lauert er auf eine Chance als Revolutionär. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bringt sie. Wie Lenin und Trotzki sieht auch er den Anfang vom Ende des Nationalstaats gekommen. Als Hasser des Zaren stellt er sich mit Zeitungsartikeln auf die Seite der Deutschen und ist damit in den Augen Trotzkis zum Chauvinisten und Verräter geworden. Damit ist der Bruch unüberbrückbar. Auch bei den anderen Genossen ist er als "Waffenschieber, Lump und Betrüger" unten durch. Der "Lump und Betrüger" bezieht sich auf die Gewinne, die Parvus ein Jahrzehnt zuvor mit dem "Nachtasyl" von Maxim Gorki machte, während seinem Kompagnon im "Verlag für russische und nordische Literatur" die Schulden blieben.

Eine Milliarde Mark Ende 1914 denkt sich Parvus den Plan aus, mit dem er den entscheidenden Beitrag zur Herbeiführung der Oktoberrevolution leisten wird und den er Anfang 1915 den Deutschen übergibt. Massenstreiks in Russland sollen den Krieg beenden. Die Oppositionellen sollen die Menschen mit Aufrufen für Frieden und Freiheit aus ihrer Lethargie reißen. Den Bewohnern der Randstaaten wird man Unabhängigkeit vom russischen Unterdrücker versprechen und sie so zu Kämpfern machen. Deutschland hätte den Rücken frei. Das Memorandum ist 20 Seiten lang. Da die geplante schnelle Niederwerfung Russlands nicht gelungen ist, fällt es auf fruchtbaren Boden.

Die deutsche Führung denkt nicht daran, dass eine Revolution in Russland möglicherweise zum Bumerang wird. Parvus denkt sehr wohl daran. Von den ersten zwei Millionen Mark Startkapital wird eine Million sofort überwiesen. Er entwickelt eine gigantische organisatorische Tätigkeit. Lenin braucht nur noch die Früchte zu ernten. Er lässt Parvus die Revolution finanzieren und alles vorbereiten, vermeidet es aber, mit ihm in Verbindung gebracht zu werden.

Dies entspricht dem Persönlichkeitsbild, das Helene Carrere d'Encausse zeichnet. Es ist das eines extrem autoritär handelnden politischen Genies, das seine Ziele ohne Rücksicht auf sich und andere mit eiserner Konsequenz verfolgt und alles Emotionale und Sentimentale, das hinderlich werden könnte, früh über Bord geworfen hat. Doch die Rolle von Alexander Parvus bleibt hier unterbelichtet. Zwar wäre Lenin 1917 wahrscheinlich auch ohne Parvus nach Russland gelangt. Doch ob er ohne die von ihm aufgetriebenen Millionen über die Menschewiki triumphiert und die ganze Macht an sich gerissen hätte, ist fraglich. Heresch zufolge entspricht der Aufwand, mit dem die deutsche Reichsregierung die russischen Revolutionäre förderte, einem Gegenwert von rund einer Milliarde Mark nach heutigem Wert.

Lenin hat Parvus schlecht gedankt. Parvus träumte von einem Ministeramt. Lenin hielt ihn sich weit vom Leib, er durfte nicht einmal nach Russland. Die Aufdeckung seiner Finanzgeheimnisse ausgerechnet durch den Mitverschworenen hätte Lenins Prestige vernichten können. Der von Rheuma und Herzbeschwerden geplagte Parvus starb 1924 im Alter von nur 57 Jahren in seiner Berliner Villa. Er war drei Jahre älter als Lenin und starb kaum ein Jahr nach ihm. Einer der Söhne aus zwei legalen und zwei wilden Ehen, Jewgenij Gnedin-Helphand, wurde von einem Freund des Vaters in das Moskauer Außenministerium geholt, später in ein Lager gebracht, überlebte aber Stalin.

Elisabeth Heresch hat recherchiert und legt wichtige Dokumente vor. Leider kommt sie oft zu sehr ins Erzählen. Ich glaube ihr gern, dass Parvus am 7. Jänner 1915 die deutsche Botschaft in Konstantinopel betrat, aber woher weiss sie von der "Hektik in der Geste, mit der er Aktentasche, Handschuhe und Zylinder zusammenrafft"? Woher weiß sie, was er in der Eisenbahn dachte? In solchen Büchern weiß dann der Leser nie, wo die freie Erfindung beginnt. Außerdem nennt Heresch zwar benutzte Archive, verzichtet aber auf Fußnoten und bleibt jede Auskunft schuldig, was von ihrem Wissen nun woher stammt. Damit geht diesem Schlüsselwerk viel vom wissenschaftlichen Wert verloren.

Die Biographie von Helene Carrere d'Encausse ist gut dokumentiert, mit Schwung geschrieben und in den Meinungen souverän. In russischen Archiven mag noch das eine oder andere Bömbchen schlummern. Doch die großen Züge liegen fest. Es ist schon faszinierend, wie gegen Ende dieses gewaltigen Lebenspanoramas die sowjetische Despotie als Ergebnis eines singulären Charakters erscheint. Wie aus der Kompromisslosigkeit des einsamen Denkers die Brutalität eines Regimes erwächst, das Versprechungen nur als taktische Manöver begreift und jeden Widerstand, jeden Ansatz eines eigenen Willens im Blut erstickt: "Trotzki befiehlt seiner im Aufbau befindlichen Armee, die Aufstände gnadenlos niederzuwerfen und ausgiebig von Erschießungen Gebrauch zu machen. Überall werden Menschen rücksichtslos an die Wand gestellt. Opfer sind neben Weißgardisten und Bauern auch Rotarmisten und deren Offiziere, die nicht hart genug durchgegriffen haben." Wieder einmal resultiert aus der felsenfesten Überzeugung, die einzig gültige Wahrheit zu kennen, der schrankenlose Terror.

Zarenmord befohlen?

Bittbriefe, die an Lenins Gerechtigkeitssinn und Mitgefühl appellierten, versah er mit der stereotypen Randbemerkung "Für das Archiv". "Für das Parteiarchiv" schrieb er auch auf Beschwerden über die Beteiligung von Rotarmisten an Judenpogromen. Hinweise auf eine Anordnung, weitere Übergriffe zu verhindern, finden sich nicht. Auf einer Juden diskriminierenden Anweisung des Politbüros vermerkte Lenin: "Drücken Sie das freundlich aus: jüdisches Kleinbürgertum."

Nach dem Gemetzel an den Matrosen von Kronstadt im März 1922 gibt es keine Umkehr zu den ursprünglichen Idealen der Revolutionäre mehr. Ungeachtet der Kluft zwischen Lenin und Stalin hat Lenin Stalin das Feld bereitet. Doch die eiserne Hand des "Eisernen" ("Lenin") pflegte unter Geheimhaltung zuzuschlagen. Geheim ordnet er an: "Mindestens eine Hundertschaft bekannter Kulaken (ohne zu zögern, damit alle es sehen können) aufhängen." Geheim befiehlt er, Helene Carrere d'Encausse zufolge, die Erschießung der Zarenfamilie. In der Öffentlichkeit ist er auf das Image des "rücksichtsvollen Mannes" bedacht: "Der Mythos vom ,guten Lenin' beginnt sich abzuzeichnen."

Lenin Von Helene Carrere d'Encausse, Piper Verlag, München 2000, 540 Seiten, Fotos, geb., öS 577,-/e 41,93

Geheimakte Parvus - Die gekaufte Revolution Von Elisabeth Heresch, Langen Müller Verlag, Wien 2000, 400 Seiten, Fotos, geb., öS 364,-/e 26,45

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