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Licht und Zwielicht

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DIE NEUTRALEN ALPEN. Von Manfred Sell. Seewald-Verlai, Stuttgart. 341 Selten, Preis DM 16.80.

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DIE NEUTRALEN ALPEN. Von Manfred Sell. Seewald-Verlai, Stuttgart. 341 Selten, Preis DM 16.80.

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Es ist mehr als ein Akit der Höflichkeit und des Beweises guter Nachbarschaft, wenn jeder österreichische Regierungschef der Zweiten Republik den Reigen seiner Auslandsreisen mit einem Besuch in Bern eröffnet. Die Schweiz und Österreich verbindet heute eine große — ja weltgeschichtliche — Aufgabe: Wächter der neutralen Alpen zu sein. Dieser „Schulterschluß“ im Alpenraum ist ein wichtiger Beitrag zum europäischen Frieden. Ihm mangelt vielleicht nur jene propagandistische Vertiefung in dem Bewußtsein beider Völker, die von anderen europäischen Institutionen heute mit den Mitteln moderner Public Relations eifrig betrieben wird.

Mit um so größerem Interesse greift man daher nach einem Buch, das sich „Die neutralen Alpen“ nennt. Sein Verfasser weist sich schon nach wenigen Seiten Lektüre als ein in der Schule der Geopolitik stehender Historiker und Geograph aus. Auch zeigt er sich dem Gedanken der Neutralität des Alpenraumes durchaus aufgeschlossen und bekundet starke Sympathien für die 1955, „dem Jahr der Entscheidung für die Alpen“ (S. 15) vom Österreich!sehen Nationalrat beschlossene immerwährende Neutralität unserer Donau- und Alpenrepublifc. Entgegen manchem westlichen Kritiker, der nur die durch die Neutralität Österreichs geschaffenen „weichen Stellen“ im westlichen Bündnis sieht, weist der Verfasser auf die großen moralischen Vorteile der Neutralität Österreichs für den Gedanken der Freiheit hin. Auch ruft er jene zur Ordnung, die gerne von einer auferlegten Neutralität sprechen und Österreich suggerieren wollen, „dm Ernstfall“ es nicht so 'ernst zu nehmen. Sehr interessant auch der historische Rückblick auf das Wachsen und Werden der modernen Eidgenossenschaft und ihrer Neutralität nach dem Wiener Kongreß, wobei die „Geburtshelferrolle“ Rußlands auch bei der Neutralität unserer Nachbarn ins richtige Licht gerückt wird. Die heute in den Augen vieler als ein rocher de toronze angesehene Neutralität der Schweiz war übrigens nach 1815 viel stärkeren äußeren Beeinflus- sungsversuchen und Pressionen aus- gesetzt 'als die österreichische Neutralität nach 1955 ... Der heute of t gehörte Satz, „Die Interpretation der österreichischen Neutralität ist unsere ureigenste Sache“, erscheint so zwar sehr effektvoll, hält aber einer vergleichenden Geschichtswissenschaft nicht voll stand. Ganz ohne den Wirt wird die Rechnung nie gemacht. Und der „Wirt“ sind immer die Großmächte, die, jede für sich, eifersüchtig darüber wachen, daß nicht „der andere“ im neutralen Alpenraum Positionen bezieht. So war es gestern, so ist es auch heute.

Das vorliegende Buch ist deswegen geeignet, in weiten Teilen eine nüchterne zukunftsweisende' Perspektive zu geben. Wenn man seiner dennoch nicht restlos froh werden kann, so ist hier zunächst der apodiktische, gerne zu Vereinfachungen neigende , Stil zu nennen. Dazu kommen einige historische Irr- tümer. Zum Beispiel gab es 1921 nicht, wie der Verfasser schreibt, im ganzen Burgenland eine Volksabstimmung (S. 203), sondern nur im öden-

burger Zwickel. Auch stammt der Name dieses jüngsten österreichischen Bundeslandes keineswegs von den „vielen Wehlbauten 'aus Altertum, Mittelalter und Türkenzeit“ (S. 203), sondern von den vier westungarischen Komitaten Preßburg, Wieselburg, Mattersburg und Edsen- burg, auf deren ehemaligen Gebieten sich heute zum Großteil unser Burgenland erstreckt. Ganz Kärnten und Steiermark zu fordern (S. 208), wäre 1919 selbst den verbohrtesten großserbischen Chauvinisten nicht eingefallen. U. a. m. „Der von Österreich frei'lich an anderer Form ersehnte Anschluß“: Dieser Satz sollte wohl heißen: Von den Vorkämpfern des Anschlusses in Österreich... In dieser Form ist er ein typisches Beispiel für die schon oben bedauerte Vorliebe des Autors zu „schreck lichen Vereinfachungen“ und damit zu Beugungen eines objektiven Geschichtsbildes.

Zum Schluß seiner Studie kommt Manfred Seil aber ins Träumen. Seine Träume gelten Südtirol. Selbstverständlich würde das Land an der Etsch und Bisack den neutralen Alpenraum ideal abrunden. Aber alles, was der Verfasser über eine freiwillige Herausgabe Südtirols nach einer durch die UNO kontrollierten Volksabstimmung oder über einen eigenen Südtiroler Staat mit drei nationalen Bestandteilen schreibt, entbehrt jeder Deckung durch die realen Machtverhältnisse.

Uber Landkarten gebeugt, neue Grenzen einzuzeichnen, mag die Phantasie 'beflügeln. Ob dem Gedanken der neutralen Alpen, den zu predigen Seil auszag, damit ein guter Dienst erwiesen wird, bleibe dahingestellt. Statt Licht Zwielicht: das können weder die Alpen noch ihre neutralen Bewohner brauchen.

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