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Linkskatholiken und marxistische Macht

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Der Einmarsch der Truppen der Staaten des Warschauer Paktes in die CSSR hat die Linkskatholiken in arge Verlegenheit gebracht. Sie klagen nun die Sowjets des Verrats am Marxismus an, bezeichnen sie als Erben des zaristischen Imperialismus und behaupten, das brutale Vorgehen habe die Hoffnung auf einen humanen und demokratischen Kommunismus für lange zerstört.

Nun ist das Werk von Karl Marx so widerspruchsvoll und vieldeutig sowie von Friedrich Engels’ Inter- pretation zusätzlich belastet, daß es sehr schwer fällt, von Verrat am Marxismus zu sprechen. Wer den „wahren“ Marxismus besitzt, bleibt eine Streitfrage. Die Chinesen mit ihrer Kulturrevolution, dem ständigen Infragestellen alles bisher Erreichten, können sich ohne Zweifel auf die „permanente Revolution“ marxistischer Prägung berufen. Für sie sind die Sowjets ebenso Revisionisten wie die Jugoslawen und die Tschechoslowaken. Die permanente Revolution chinesischer Prägung stellt aber eine Sisyphos-Tragödie dar und setzt voraus, daß es keinen Endzustand geben kann. Da aber das Endziel des Marxismus der neue Mensch und die klassenlose Gesellschaft ohne Staat ist, können auch die Sowjets ihre chinesischen Genossen als marxistische Sektierer bezeichnen.

Was aber die Tschechoslowakei betrifft, so erklärte Dr. Eduard Gold- stücker in seinem Fernsehinterview, daß das schlechte materielle Leben die erste Ursache gewesen sei, die zum sogenannten Prager Frühling geführt habe. Bei der allgemeinen Erbitterung über die schlechten Lebensbedingungen sei der Vorstoß der Intellektuellen auf fruchtbaren Boden gefallen. Als sich nun eine Reformergruppe innerhalb der KPTsch fand, die die alte Führung für das Versagen verantwortlich machte, gewann sie nahezu die gesamte Bevölkerung für sich. Die Reformergruppe war bereit, Freiheiten zu gewähren, die bisher in keinem kommunistischen Staat gewährt worden waren, vor allem die Presse- und Diskussionsfreiheit sowie die Sicherung der persönlichen Freiheit. Darüber hinaus wurde in Aussicht gestellt, daß zumindest innerhalb der Partei Gruppierungen möglich sein werden, ja unter Umständen sogar mehrere Parteien zugelassen würden. Das aber ging gegen das marxistische System, das bisher immer als monistisch gehand habt wurde, und anerkannte indirekt das pluralistische System der „dekadenten“ westlichen Welt. Die KPTsch war deshalb für die Sowjets konterrevolutionär eingestellt. Da sie sich aber immer als zum kommunistischen Block zugehörig erklärte, war das sowjetische Vorgehen eine Strafexpedition gegen ketzerische Elemente. Daß zusätzlich noch imperialistische Machtinteressen hinzukamen, macht die Lage nur noch gefährlicher.

Auch Lenins Götzenbild müßte fallen

Das Vorgehen der Sowjets in der Tschechoslowakei ist deshalb kein Verrat am Marxismus, weil es keine eindeutige Klarheit, was „wahrer“ Marxismus ist, gibt und geben kann. Das sowjetische Vorgehen ist aber unleugbar ein Verstoß gegen die Humanität und die Freiheitsrechte des Menschen, doch in dieser Hinsicht bedeutet das tschechoslowakische Beispiel keine Neuheit. Die „dishumanistischen“ Elemente waren im sowjetischen Kommunismus von Anfang an vorhanden. Schon die Oktoberrevolution stellte eine blutige Terroraktion einer Minderheit dar, und Lenin wußte sehr wohl das brutale Vorgehen theoretisch zu verteidigen. Um des höheren Zieles willen, wurde der marxistische Grundsatz der Selbstkritik aufgegeben und mit ihm gleichzeitig die Frage der Humanisation. Der so gelästerte katholische Wahlspruch „ad maiorem Dei gloriam“ erfuhr unter Lenin seine marxistische Umdeutung. Zuerst wurde die Partei zum Gott erklärt und unter Stalin der Generalsekretär. Lenin schuf auch den kommunistischen Orden, nämlich die Partei der Berufsrevolutionäre außerhalb der Arbeitsklasse, was im Widerspruch zu Marxens Lehre stand. Hat der XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion das Götzenbild Stalins zertrümmert, so müßte der sogenannte humane Marxismus allmählich auch das Götzenbild Lenins zertrümmern. Schon Otto Bauer nannte Lenin „unmoralisch“, und Bauer kann man schwerlich als kalten Krieger bezeichnen. Das hat nichts mit Lenins geschichtlicher Größe zu tun, die aber ebensowenig Stalin abgesprochen werden kann.

Vom ersten Jahr der Revolution an bis heute war die Selbstkritik und damit die Humanisierung und Demokratisierung den kommunistischen Staaten etwas Fremdes. Stalin ersetzte sie zynisch durch die Selbstanklage, Chruschtschow aber wurde zum Vatermörder, indem er den pater patriae Stalin für alles verantwortlich machte und damit sich selbst und seine Genossen von den eigenen Verbrechen absolvierte.

Was aber den imperialistischen Zug des sowjetischen Marxismus betrifft, so war er spätestens 1922 evident, als russische Sowjettruppen mit brutaler Gewalt den Freiheitswillen der autonomen Sowjetrepublik Georgien unterdrückten. Der Stalin-Hitler-Pakt von 1939 war der erste Schritt über die eigenen Grenzen hinaus, und nach dem Sieg über Hitler erreichte der sowjetische Imperialismus einen fulminanten Höhepunkt.

Diese Tatsachen muß man den so leicht vergeßlichen Idealkommunisten ins Gedächtnis rufen, wenn sie plötzlich so tun, als ob das sowjetische Vorgehen in der CSSR ein schlimmer Rückfall in die Stalin-Ära gewesen sei. Nach Chruschtschow sind keine stalinistischen Terrorakte mehr möglich, frohlockte Wilfried Data-, der leidenschaftlichste Streiter unter den progressiven Katholiken, in seinem Buch „Linkskatholizismus“, so, als ob nur Väterchen Stalin das Abwegige im sowjetischen Marxismus gewesen wäre. Als Daim im September 1964 in Moskau weilte und den staunenden Sowjets das Bündnis zwischen Kommunisten und katholischer Kirche vortrug, bereitete der von ihm so gepriesene Chruschtschow die dritte große Kirchenverfolgung in der Geschichte der Sowjetunion vor, was den Ersten Sekretär nicht hinderte, mit Bibelsprüchen durch die Welt zu ziehen und seinen Schwiegersohn zum Papst zu senden.

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