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Little Rock

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Nichts gelernt und nichts vergessen I

Es ist, als ob über einen großen Teil der Bevölkerung der Südstaaten der nordamerikanischen Union neun Dezennien hinweggerollt seien, ohne in ihrem Wandel auch die Geister gewandelt zu haben. Vielleicht aber sind drei Generationen nicht ausreichend, um die tiefwurzelnden Gegensätze auszugleichen und alle jene Vorurteile zu beseitigen, die der mörderische Sezessionskrieg 1861—1865 in den Südstaaten • hinterlassen hat. Und so füllten die schwarzen Girls von Little Rock im Staate Arkansas (sprich A'rkanso mit flachem o) die Schlagzeilen der Weltpresse und dienten den Kommunisten als Propagandamaterial. Zunächst einmal, weil der juristisch und auch politisch schlecht beratene Gouverneur Orville E. Faubus es für zeitgemäß hielt, sich auf einen offenen Konflikt mit der Bundesregierung bzw. mit dem obersten Träger der Exekutivgewalt, Dwight Eisenhower, einzulassen. Daß er dabei, trotz der offensichtlichen Mäßigung des Präsidenten, letzten Endes unterliegen mußte, war von allem Anfang an klar.

Es ergibt sich also die Frage, warum der Gouverneur, der keineswegs ein „Negerfresser“ ist, sich derartig exponierte, obwohl es nicht an Warnungen aus dem eigenen Lager fehlte. Da wies z. B. die bedeutendste Zeitung des Staates, die „Arkansas Gazette“, darauf hin, daß in allen Fragen des Gesetzes die Regierung der Vereinigten Staaten das letzte Wort zu sprechen habe. Die Zeitung betonte dabei, daß einer der bedeutendsten Juristen des Landes, der seither verstorbene Chefrichter des Obersten Bundesgerichtshofes Charles E. Hughes, in einer von ihm verfaßten Entscheidung dieses Gerichtshofes über einen Kompetenzkonflikt zwischen Bundesregierung und Bundesstaat festgestellt habe: „ .,. Es ist also undenkbar, daß die Verfassung der Vereinigten Staaten und die vom Kongreß erlassenen Gesetze dem Fiat eines Gouverneurs eines Bundesstaates unterstellt sein sollen.“ Der verfassungsrechtliche Standpunkt war also seit langem fixiert.

Nachdem nun der gleiche Oberste Gerichtshof die Rassentrennung in den Schulen des Südens für verfassungswidrig erklärt hatte, war die juristische Seite des Fragenkomplexes eigentlich restlos geklärt. Dazu kam noch, daß der vom Bürgermeister der Stadt ernannte, in seinem Kompetenzbereich aber selbständige Schulrat von Little Rock die „Integration", d. h. die Oeffnung der Central High School für farbige Schüler, in Uebereinstimmung mit der Entscheidung des Obersten Bundesgerichts angeordnet hatte.

Daß eben dieser Schulrat sich später selbst desavouierte und im Bundesdistriktsgericht der Stadt einen Aufschub der „Integration" im Interesse von Ruhe und Ordnung erbat, konnte das juristische Bild nicht ändern, gab aber dem Gouverneur den reichlich durchsichtigen Vorwand, die Schule durch ein Militäraufgebot

für den Besuch farbiger Schüler sperren zu zu lassen, als der Bundesrichter Ronald Davies das Ansuchen des Schulrates abgelehnt hatte. „Es ist“, so sagte Herr Faubus, „Pflicht eines Gouverneurs, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten und eventuellen Aufruhr und Blutvergießen zu verhindern. Meiner Meinung nach steht diese Pflicht eines Gouverneurs über jedem Spruch eines Bundesgerichtes.“

Mit diesem Entschluß begab sich der Gouver-. neur, juristisch gesehen, auf Glatteis, und die Affäre Little Rock wuchs sich zur Tragikomödie aus. Hier forderte der Gouverneur eines Bütides- Staates den Präsidenten der Vereinigten Staaten heraus, den sein Amtseid zur Wahrung der Verfassung als oberstes Gesetz des Landes verpflichtet. In seinem Eifer als Schützer von „Ruhe und Ordnung“ ließ Herr Faubus ganz außer acht, daß der Bundesregierung eine Reihe von Machtmitteln zur Verfügung steht, mit denen er in die Knie gezwungen werden kann:

Ein aus der Zeit des Sezessionskrieges stammendes und heute noch gültiges Gesetz ermöglicht es dem Präsidenten, in Fällen von Auflehnung Bundestruppen in den betreffenden Staat zu senden.

Sektion 242, Titel 48, U. S. Code, sieht in Fällen von Auflehnung gegen das oberste Gesetz des Landes die strafgerichtliche Verfolgung des betreffenden Amtsinhabers vor.

Dem Präsidenten steht als oberstem Befehlshaber der Streitkräfte der Vereinigten Staaten das Recht zu. im Dekretwege die Nationalgarde eines oder aller Bundesstaaten in den Bundesdienst zu übernehmen und so seinem alleinigen Befehl zu unterstellen.

In Washington dachte man vorerst gar nicht daran, eines dieser Mittel anzuwenden. Mit weiser Mäßigung begnügte sich Präsident Eisenhower damit, zu betonen, er werde die Verfassung der USA und ihre Gesetze mit allen ihm zu Gebote stehenden legalen Machtmitteln schützen. Gouverneur Faubus erschien zu einer Unterredung im Weißen Haus und erklärte sich bereit, einen gemäßigten Weg einzuschlagen. Anderseits aber zog er die Nationalgarde nicht zurück. Und so kam es, wie es kommen mußte. Auf Antrag des Bundesanwaltes erließ der Bundesdistriktsrichter Davies eine vorläufige Verfügung gegen die Verwendung der Nationalgarde und machte diese Verfügung dauernd, als es der Gouverneur ablehnte, vor Gericht zu erscheinen und Gründe anzuführen, warum diese Verfügung nicht in Rechtskraft erwachsen solle. Und als es zu Unruhen kam, unterstellte Eisenhower die Nationalgarde dem Bundesbefehl und ließ die Negerkinder durch Soldaten in die Schule geleiten.

Der Gouverneur hatte anscheinend keine Lust, sich auf ein sehr peinliches Strafverfahren wegen Mißachtung des Gerichtes einzulassen, sondern zog es vor, Berufung einzulegen und bekanntzugeben, daß er bis zum Obersten Bundesgericht gehen werde. Das war eitel Spiegelfechterei, denn es ist höchst unwahrscheinlich, daß sich der Bundesappellhof und das Oberste

Gericht bereit finden werden, ihre eigenen Beschlüsse umzustoßen. Warum aber hat sich der Gouverneur überhaupt auf einen so aussichtslosen Konflikt eingelassen?

Wer die Mentalität der meisten amerikanischen Politiker einerseits und das kleine Einmaleins politischer Taktik kennt, findet darauf mühelos die richtige Antwort: Gouverneur Faubus reflektiert auf einen dritten Amtstermin und hat die Absicht, im Jahre 1958 wieder als Kandidat aufzutreten. In einem Staat, der rund zwei Millionen Weiße und eine halbe Million r.Nichtweißer“, der Mehrzahl nach Neger, zählt, ist es laut Einmaleins ratsam, auf den leicht erregbaren Wogen des Rassenstolzes, der Voreingenommenheit und „guter südstaatlicher Tradition“ zu segeln, an den Dünkel jener Bevölkerungsschichten zu appellieren, die als Ewiggestrige den Zusammenbruch der Südstaaten nicht vergessen haben, aber auch nicht lernen konnten, daß man das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen kann und die Zeit der sogenannten weißen Vorherrschaft in der Welt endgültig vorbei sei. Wahrscheinlich ist der Bürgermeister von Little Rock, Woodrow W. Mann, der Wahrheit sehr nahe gekommen, als er dem Gouverneur den Vorwurf machte, er fühle sich als „man of destiny“, also als Mann der Bestimmung, des Geschicks, als Verfechter der „Staatenrechte“ gegen die Hydra Bundesregierung. Wie dem auch sei, es ist Gouverneur Faubus jedenfalls gelungen, von sich reden zu

machen, und das ist für einen amerikanischen Politiker Gebot Nr. 1 der politischen Taktik.

Es mag sein, daß die Rassengleichheit für die Central High School in diesem Jahr nicht mehr in die Praxis übersetzt wird, obwohl das Berufungsverfahren keine aufschiebende Wirkung hat. Aber die Mehrzahl der farbigen Schüler wird voraussichtlich aus persönlichen Sicherheitsgründen die Schule meiden und sich in der „Neger High School“ von Little Rock einschreiben lassen. In der Gesamtheit gesehen ist das, was sich in Little Rock zugetragen hat, eine der letzten Zuckungen der zum langsamen, aber sicheren Untergang verurteilten Rassenherrschaft, ist doch zum Beispiel selbst in den traditionsbelasteten Südstaaten der Negerpolizist, der vor fünf Jahren noch unmöglich gewesen wäre, eine bleibende Figur im Straßenbild. Die Rassentrennung in den öffentlichen Verkehrsmitteln ist fast restlos abgeschafft und das Wahlrecht der Neger trotz des erbitterten Widerstandes südstaatlicher Bundessenatoren weitgehend garantiert. Auch wenn sie es heute noch nicht wahrhaben wollen, die Unbelehrbaren in den Südstaaten werden es lernen: Als nämlich am 9. April 1865 der Südstaatengeneral Robert E. Lee vor dem Oberbefehlshaber der Nordarmeen U. S. Grant „bedingungslos“ kapitulierte, ging die Voraussetzung zur Vorherrschaft der Weißen in den Südstaaten verloren. Und keine Macht der Welt wird sie wiederaufrichten.

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