London 1913 - Rambouillet 1999

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Ein Blick in die Linzer "Tages-Post" vom 11. März 1913 macht die Tiefendimensionen der aktuellen Konflikte auf dem Balkan eindringlich bewußt.

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Ein Blick in die Linzer "Tages-Post" vom 11. März 1913 macht die Tiefendimensionen der aktuellen Konflikte auf dem Balkan eindringlich bewußt.

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Die Konferenz von Rambouillet hat keine großen Fortschritte gebracht. Damals, 1913, war es nicht viel anders. In London ging es um die Verteilung der Beute aus dem Ersten Balkankrieg. Die Großmächte auf der einen, die verbündeten Balkanvölker auf der anderen Seite - und jeder gegen jeden. Als nichts herauskam, was alle akzeptiert hätten, brach der Zweite Balkankrieg aus - und der führte indirekt, über Sarajewo, in den Ersten Weltkrieg und zum Untergang des europäischen Kräftesystems des l9. Jahrhunderts.

Seit 1878, seit dem Berliner Kongreß, zerbröckelte die Macht des Osmanischen Reiches auf europäischem Boden. Als 1911 Italien die Türken überfiel, um auf ihre Kosten in Libyen Kolonien zu erobern, sahen die Nachbarn auf dem Balkan ihre Zeit für gekommen: Montenegro erklärte am 8. Oktober 1912 den Krieg und stieß gegen Skutari vor, Serbien, Bulgarien, Griechenland folgten wenige Tage später. In wenigen Wochen war von der Ägäis bis zum Skutari-See das türkische Gebiet in der Hand der Angreifer.

Wer sind die Albaner?

Die (westlichen) Großmächte sahen diese Entwicklung mit Unbehagen. Montenegro und Serbien galten als getreue Verbündete Rußlands, das auf dem Balkan nicht zu stark werden sollte. Italien und Österreich-Ungarn wollten einander nicht zu viel Einfluß in Albanien zugestehen - und die Albaner selbst fühlten sich zwischen den Interessen der Großmächte wie der Nachbarn zerrieben, sie strebten nach Unabhängigkeit.

Albaner? Wer waren diese? "Albanien" war ein historisch-geographischer Begriff, durch Karl Mays "Durch das Land der Shkipetaren" als "wilde Gegend" abgestempelt, bis dahin politisch abgedeckt durch die türkischen Vilajets Iskodar, Yannja, Manastir und Kosova; besiedelt von Bewohnern, die im Norden und Osten slawische, im Süden griechische Dialekte sprachen, im Inneren eine eigene Sprache, das Albanische; orthodoxe Christen im Osten und Süden, Katholiken im Norden, Muslime im Mittelteil; ohne klare Grenzen, die daher von allen in Frage gestellt wurden.

So fühlten sich die Großmächte veranlaßt, sich einzumischen. Österreich-Ungarn, Deutschland, Frankreich. Großbritannien, Italien und Rußland schickten ihre Botschafter nach London, um mit den Osmanen und den "Verbündeten" Friedensbedingungen auszuhandeln. Ein erster Waffenstillstand war bald wieder gebrochen worden. Am 30. Mai 1913 unterzeichneten alle Beteiligten einen Friedensvertrag, der die Abtretung der europäischen Türkei an die Verbündeten und die Unabhängigkeit Albaniens festsetzte - aber die Einzelheiten, vor allem über die Grenzen, blieben noch offen.

"Balkanvorgänge" Und da liegt mir nun ein Zeitungsblatt vor, das "live" von damals berichtet: die "Tages-Post" aus Linz vom Dienstag, dem 11. März 1913, mit einem feuilletonistischen Bericht auf der Seite 1 über den Fall der Festung Janina im Epirus am 6. März, und einer Reihe von Meldungen über "Die Balkanvorgänge".

Da heißt es etwa "aus wohlinformierten Londoner Kreisen", daß die "Verbündeten" auf die Note der Großmächte - darin waren die Friedensbedingungen formuliert worden - noch nicht geantwortet hätten, und daß sie "keineswegs ein Schiedsgericht der Großmächte, sondern nur deren Vermittlung annehmen würden". Die Haltung der "Verbündeten" sei "ziemlich schroff" und dürfte nach dem Fall von Janina noch schroffer werden. (Wie hieß es in Rambouillet seitens der Serben? Keine NATO-Truppen zur Kontrolle im Kosovo!)

Während der Londoner Verhandlungen wurden die Kriegshandlungen nicht eingestellt, besonders um das belagerte Adrianopel (Edirne) und die bulgarische Südgrenze wurde in diesen Tagen heftig gekämpft. Die "Tages-Post" berichtet darüber aus Sofia wie aus dem türkischen Hauptquartier.

Gleichzeitig aber setzten die Serben alles daran, im Westen des Gebietes ihre Interessen abzustecken - auch mit Gewalt. So wird die Berliner "Vossische Zeitung" mit Wiener Berichten zitiert: "Die albanische Abgrenzung ist ihrer Lösung in keinem einzigen Teile nähergerückt. Alle Einzelheiten über bereits feststehende Versicherungen, wie dies von französischer Seite behauptet wird, finden von hiesigen unterrichteten Stellen keine Bestätigung."

In Serbien sei die Militärpartei am Werk, um auch in Albanien für Serbien eine neue Lage zu schaffen. Ein serbisches Expeditionskorps von 30.000 Mann werde zwischen "Ipek und Uskub" zusammengezogen und befinde sich bereits im Anmarsch auf die montenegrinische Grenze. 10.000 Serben sollen mit Belagerungsgeschützen nach Skutari abgehen, 20.000 bei Durazzo eine starke Stellung einnehmen.

Ipek, Uskub, Manastir - Skutari, Durazzo: noch gelten die türkischen, an der Adriaküste die italienischen Ortsnamen. Pec, Skoplje, Bitolja werden sie später auf serbisch, Shkoder, Durres auf albanisch heißen. Aber bis dahin dauert es noch. Damals zählten auch Uskub/Skoplje, die heutige Hauptstadt Mazedoniens, und das serbische Heiligtum Pec zum Großraum "Albanien", um den heftig gekämpft wurde.

Und wieder die "Vossische Zeitung", die aus "Uskub zu den serbischen Massakern an den Albanern" meldet: "Aus dem Innern Albaniens eingetroffene Reisende berichten von neuen Kämpfen zwischen den Albanesen und den serbischen Truppen, namentlich in der Gegend zwischen Katschanik und Prizrend (Kacanik und Prizren im südlichen Kosovo, unweit der Grenze zu Mazedonien - wo sich auch jetzt die "Säuberungen" abspielen; Anm. d. Red.). Die Serben sollen wieder mehrere Dörfer zerstört haben. Die Niedermetzelung der albanischen Bevölkerung dauert an."

Aber auch zwischen den "Verbündeten" des gewonnenen Krieges sind die Gemeinsamkeiten längst geschwunden: Serbien und Bulgarien stehen in erbitterter Konkurrenz um den Besitz von Mazedonien, Bulgarien und Griechenland streiten um Thrakien und Ägäisch-Makedonien. Zwar stehen noch serbische Truppen bei der Belagerung von Adrianopel, aber, wie die "Tages-Post" meldet, herrsche in Belgrad "Erregung gegen Bulgarien", und "ein Blatt" fordere die Zurückziehung der serbischen Truppen und die Auflösung des serbisch-bulgarischen Bündnisvertrags.

Deutscher König Soweit der Stand vom 11. März 1913 in der Linzer "Tages-Post". Sie berichtet - zumindest in dieser Nummer - nichts von den Bemühungen der Albaner, ihren eigenen Staat aufzubauen. Schon im November 1912 hatte eine provisorische Regierung in Vlone/Valona die Unabhängigkeit Albaniens ausgerufen und sich der Unterstützung Italiens und Österreich-Ungarns versichert. Sie mußte sich im Frühjahr 1914 der Alliierten Kontrollkommission unterwerfen, die die Großmächte eingesetzt hatten und die von Skutari/Shkoder aus versuchte, Ruhe und Ordnung herzustellen Unter dem Druck der Großmächte mußten sich Serben und Montenegriner aus Durres und Shkoder zurückziehen, die Griechen aus dem Süden, wo für die griechisch sprechenden Epiroten eine Autonomieregelung festgelegt wurde. Schließlich setzten die Großmächte den deutschen Fürsten Wilhelm zu Wied als König von Albanien ein, der sich von Durazzo/Durres aus bemühte, ein stabiles Regime aufzubauen, aber abziehen mußte, als der Erste Weltkrieg ausbrach und die finanzielle Unterstützung der Großmächte plötzlich ausfiel.

Spielball der Mächte Wieder wurde Albanien zum Spielball der Mächte, erneut besetzt von Griechen, Serben, Montenegrinern, Italienern, dann wieder von Österreichern, Deutschen, Bulgaren. Von Süden stießen Franzosen bis Korce vor. Das Kosovo wurde zum Zankapfel zwischen Wien und Sofia - die Deutschen mußten vermitteln. Noch Jahre nach dem Abzug der Mittelmächte konnten sich die Sieger nicht über die Grenzen Albaniens einigen. Italien hielt bis 1923 die Insel Sazan im Golf von Vlone besetzt.

Als dann endlich Albanien eine endgültige Regierung besaß, Mitglied des Völkerbundes wurde und auch seine Grenzen nicht mehr in Frage standen, begann auch schon der Aufstieg Achmed Zogus vom demokratisch gewählten Ministerpräsidenten über den autoritär regierenden Präsidenten zum König Zog I., der total von Italien abhängig war. Was ihn nicht davor schützte, von seinen Freunden überrannt und verjagt zu werden, als Benito Mussolini mit Hitlers Einmarsch in Prag gleichziehen wollte.

Das Weitere ist noch in Erinnerung: Mussolinis Versuch, im Herbst 1940 es Hitler mit einem Angriff auf Griechenland gleichzutun, der Gegenstoß der Griechen bis nach Mittelalbanien, der deutsche Angriff auf Jugoslawien und in dessen Folge die Angliederung des Kosovo und von Teilen Mazedoniens an das italienisch besetzte Albanien - und schließlich nach dem Abzug der Deutschen 45 Jahre kommunistischer Volksrepublik in Albanien. Mazedonien wurde Teilrepublik Tito-Jugoslawiens, die Albaner im Kosovo erhielten Autonomiestatus. Erst Slobodan Milosevi'c hob diesen wieder auf, womit er den Grundstein für die Konflikte legte, die nun in Rambouillet beigelegt werden sollten.

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