6559802-1948_42_01.jpg
Digital In Arbeit

Lostag vor dreißig Jahren

Werbung
Werbung
Werbung

Ein glutrotes Firmament brannte über der Szene des 18. Oktober 1918, einem schicksalsschweren Geschehen.

Die Fronten der Mittelmächte und ihrer Verbündeten waren im Zerbrechen. In Syrien waren die türkischen Streitkräfte geschlagen. Die Armee des Generals Franchet d’Esperey hatte die bulgarische Salonikifront in breitem Aufriß fünfzehn Kilometer tief durchstoßen; der Weg gegen Konstantinopel und gegen Norden war für die Alliierten frei. Vierzehn Tage später war auch die Siegfriedstellung, der letzte Riegel, der noch dem Vordringen der siegreichen englischen, französischen und amerikanischen Armeen zum Rhein hätte wehren sollen, gefallen. Der Tag war gekommen, da Ludendorff, bisher unzugänglich dem Friedensverlangen des österreichischen Verbündeten, nach eiligstem Friedensschluß rief. Daß der Damm der österreichischungarischen Stellungen in Oberitalien noch hielt, hatte angesichts der Ereignisse an den anderen Fronten wenig mehr zu sagen. Die militärische Katastrophe, die über die Mittelmächte hereingebrochen war, bedurfte keiner Propheten mehr. Auf die Friedensnote der Mittelmächte hatte Wilson in hartem Tone nach Berlin erwidert; die Antwort nach Wien war noch ausständig.

Wenn in dieser Lage noch Aussicht bestand, den im Innern des österreichischen Staates sich erhebenden Gefahren einer weit fortgeschrittenen Zersetzung des staatlichen Zusammenhalts mit politischen Entschließungen begegnen zu können, so war gewiß jetzt die letzte Stunde da. Ihr entsprach das kaiser- liche Manifest, das an diesem Oktobertage in Wien erschien. Es sollte zur Umbildung der zentralistischen 1867er Verfassung Österreichs in eine bundesstaatliche, zur Umwandlung der österreichischen Reichshälfte durch einen freien Entschluß der österreichischen Völker in einen „Bund freier Völker aufrufen:

„Nunmehr muß ohne Säumen“ —- setzte nach feierlicher Einleitung das von Ministerpräsident Hussarek gegengezeichnete kaiserliche Manifest fort — „der Neuaufbau des Vaterlandes auf seinen natürlichen und daher zuverlässigsten Grundlagen in Angriff genommen werden. Die Wünsche der österreichischen Völker sind hiebei sorgfältig miteinander in Einklang zu bringen und der Erfüllung zuzuführen. Ich bin entschlossen, dieses Werk unter freier Mitwirkung seiner Völker im Geiste jener Grundsätze durchzuführen, die sich die verbündeten Monarchen in ihrem Friedensanbot zu eigen gemacht haben. Österreich soll dem Willen seiner Völker gemäß zu einem Bundesstaate werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet. Der Vereinigung der polnischen Gebiete Österreichs mit dem unabhängigen polnischen Staate wird hiedurch in keiner Weise vorgegriffen. Die Stadt Triest erhält, dem Willen der Bevölkerung entsprechend, eine Sonderstellung.

Diese Neugestaltung, durch die die Integrität der Länder der ungarischen heiligen Krone in keiner Weise berührt wird, soll jedem nationalen Einzelstaate seine Selbständigkeit gewährleisten; sie wird aber auch gemeinsame Interessen wirksam schützen und überall dort zur Geltung bringen, wo die Gemeinsamkeit ein Lebensbedürfnis der einzelnen Staaten ist.“

Der hier entrollte Plan einer Aufgliederung des alten Völkerstaates in eine Gemeinschaft von national abgegrenzten, mit einem einheitlichen Minoritätenrecht ausgestatteten Bundesstaaten griff auf die Ideen zurück, die schon siebzig Jahre zuvor in den Beschlüssen des Kremsierer Reichstages aufgeleuchtet waren: das von der Natur und der Geschichte dem Donaureiche vorgeschriebene Wesen des Völkerstaates sollte auch in seiner staatsrechtlichen Gestaltung, in einer Föderation gleichberechtigter nationaler Einheiten zum Ausdruck kommen. Je lebendiger und quälender das Nationalitätenproblem in Österreich auftrat und je heftiger die zentralistische Politik der herrschenden magyarischen Klasse die nichtmagyarischen Minoritäten bedrängte, um so vernehmlicher wurde der Ruf nach einer Reichsreform im Sinne der nationalen Autonomie. Er tönt aus Anton Springers 1850 erschienener Schrift „Österreich und die Revolution“ ebenso wie aus dem Munde Palackys oder aus Adolph Fischhofs berühmtem Buche „Österreich und die Bürgschaften seines Bestandes“, er durchdringt ebenso das sozialdemokratische wie das christlichsoziale politische Schrifttum, in dem Dr. Renner und Dr. Seipel seine Verkündiger werden, und er spricht aus den Programmen der Parteien, vielleicht am mächtigsten und begeisterndsten aus dem von Lueger 1905 vorgetragenen Eggenburger Programm, zu dem der Rumäne Aurel Popo- vici mit seiner literarischen Parole „Großösterreich“ den letzten Anstoß gegeben hatte. Der Wirklichkeit scheinbar entgegenreifende Gestalt gewinnt dann der große Reformgedanke in den verschiedenen, im Prinzip aber gleichgerichteten Verfassungsplänen, die den Thronfolger Franz Ferdinand beschäftigen und ihn zu festen Vorsätzen führen, die den Nationalitäten Ungarns, vor allem den Rumänen und Südslawen Österreichs und Ungarns, neue Hoffnungen geben. Als Kaiser Karl das habsburgische Thronerbe antrat, gehörte zu dem Konzept, das ihm sein in Sarajewo ermordeteter Oheim hinterlassen hatte, auch der Plan für den unglücklichen Kriegsereignissen befallen hatten, genötigt, unter den denkbar ungünstigsten Umständen an die Ausführung des Konzepts heranzutreten.

Aber das, was den Inhalt des kaiserlichen Manifests ausmachte, besaß nichts mehr von der Kraft und dem Glanze des alten Staatsentwurfes. Der Abfassung des Manifests waren schwere Auseinandersetzungen zwischen den Ministerpräsidenten Österreichs und Ungarns vorausgegangen. Nicht einmal eine Andeutung, daß die für Österreich verkündigten Grundsätze einer Staatsreform irgendwie für die Gesamtmonarchie Wirksamkeit zu gewinnen bestimmt seien, war von dem schwächeren österreichischen Partner, der einer starken Stütze im Parlamente entbehrte, für das Manifest gerettet worden; Hussareks Programm, das den österreichischen Südslawen die staatsrechtliche Vereinigung der südslawischen Ländergebiete der Monarchie in Aussicht stellen sollte, war gefallen, seine Niederlage gegenüber seinem ungarischen Amtspartner Dr. Weckerle bedeutete sogar gleichzeitig die Preisgabe der Realunion, die bisher die beiden Reichshälften der Monarchie im Siebenundsechziger Ausgleich verbunden hatte, und ihre Ablösung durch eine nur noch in der Person des Monarchen gebundene Gemeinschaft, in der die innere Schicksalsverbundenheit der Völker gelöst war.

So offenbarte das kaiserliche Manifest nur den seelenlosen Torso, nicht den Neubau nach großem Plane, sondern den Zerfall. Nun war es den zur Zerstörung der Monarchie am Werke befindlichen Kräften nicht mehr schwer, ihr Ziel zu erreichen.

Die Tragik, die sich an den Akt vom 18. Oktober knüpft und sich zunächst in der Hilflosigkeit der zur Verteidigung des Reiches damals noch verfügbaren Kräfte äußerte, entbehrt nicht der seit langem wirkenden dramatischen Schuld: die notwendige

Staatsreform, deren Grundsätze sich mit steigender Eindringlichkeit allen am Staate wirkenden Kräften vorgestellt hatten, unterblieb aus drei Ursachen: infolge der Uneinigkeit des deutschen Staatsvolkes, in dem ein Teil der nationalen Autonomie aus falschem Egoismus widerstrebte, infolge der Verhaftung der tschechischen Politik im böhmischen Staatsrecht und infolge der steinernen Unbeweglichkeit, mit der die magyarische Herrenklasse sich den Lebensbedürfnissen des Gesamtstaates widersetzte.

Wer ist von den damals verantwortlichen Führern noch am Leben, der nicht die Folgen der Versäumnisse zu verspüren und die von seinem Volke erlittenen Verluste zu beklagen gelernt hätte? Lassen wir die Toten die Toten begraben, aber für das Leben werden die Völker sorgen müssen. Wenn auch das jetzige Europa noch so zerrissen ist und für konstruktive Pläne kaum eine Zeit ungeeigneter erscheinen mag — die wesentliche Wahrheit, die dem Gedanken an eine friedliche Nebeneinanderordnung der Völker des Donaubeckens innewohnte, besteht weiter. Sie wird — weil auf die Dauer die Wahrheit immer stärker ist als der Irrtum — zur rechten Zeit das Grundelement einer neuen, besseren Ordnung bilden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung