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Lübke und die Todeslager

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Dem deutschen Bundesprasiden- ten fiel es nicht leicht, zu entscheiden, in welcher Form er den Anschuldigungen entgegentreten solle, er sei am Bau von KZ’s beteiligt gewesen. Die Anstifter dieser Anschuldigungen sind in Ost-Berlin zu suchen. Daran ist kein Zweifel. Die Behauptungen wurden nach und nach aber auch in der Bundesrepublik aufgegriffen. Es lag nahe, daß daran die Forderung geknüpft wurde, die Sache schnellstens und genauestens aufzuklären.

Die erste Welle der Behauptungen liegt schon einige Jahre zurück. Damals hat das Bundesinnenministerium eine ausführliche Dokumentation veröffentlicht. Außerdem hat das Bundeskabinett damals — auch im Einverständnis mit der oppositionellen Sozialdemokratie — eine Erklärung abgegeben, in der es sich hinter Lübke stellte. Wie sich nun zeigt, hat diese Gegenaktion die Angreifer nicht entmutigt.

Zum Teil mag es daran liegen, daß es nicht leicht ist, die Behauptungen bis ins letzte zu widerlegen, denn das aus Ost-Berlin stammende Material hat noch niemand aus dem Westen im Original einsehen können. Vorgezeigt werden allenfalls Photokopien. Dazu hat Ost-Berliin in einem Fall zugeben müssen, daß auf den Photokopien die Unterschriften auf einer Durchschrift nachgezogen worden sind, weil sie beim Photokopieren nicht deutlich genug herausgekommen waren.

Unterkünfte oder „Lager”?

Das Maximum dessen, was gegen Lübke behauptet wird, ist folgendes: Er war während des Krieges bei der Baugruppe Schlempp tätig, die aus etwa zehn Personen bestand. Hier hat er Planzeichnungen abgezeichnet beziehungsweise unterschrieben, die für den Bau von Unterkünften angefertigt worden waren. In diesen Unterkünften sind später KZ-Häftlinge untergebracht worden. Hat nun Lübke gewußt, wissen können, wofür die Unterkünfte bestimmt waren?

Hinzu kommt der Streit der Schriftsachverständigen über die Echtheit dreier Unterschriften, die aus Ost-Berlin in Faksimile verbreitet worden sind. Ein amerikanischer und ein Schweizer Sachverständiger sind der Meinung, es handle sich tatsächlich uim die Unterschrift des jetzigen Bundespräsidenten. Hingegen stützen sich deutsche Sachverständige auf einen, nach ihren Angaben unverrückbaren Erfahrunigssatz. Wenn man die in verschiedener Größe vorgelegten Unterschriften Lübkes auf gleiche Größe bringt, so sind sie deckungsgleich. Kein Mensch ist aber nach dem zitierten Erfahrungssatz in der Lage, dreimal, noch dazu in verschiedener Größe, genau die gleiche Unterschrift zu leisten. Jede Unterschrift ist anders.

Als die Anschuldigungen aufkamen, befand sich Lübke in der fatalen Lage manches Deutschen, der seine Vergangenheit unter dem Hitler-Regime pauschal bewertet wissen will. Aber die Anschuldiger picken sich in der Regel Einzelheiten heraus, die gewiß kaum wiegen, wenn man das Gesamtbild des Angeschuldigten, wie es sich während zwölf Jahren darstellte, betrachtet.

Theodor Heuss ist in einer ähnlichen Lage souverän verfahren. Er hat, als die Frage an ihn herantrat, sofort erklärt, daß er kurze Zeit für „Das Reich” gearbeitet, doch aufgehört habe, als er den Charakter erkannte, der dem Blatt durch Goebbels von Anfang an zugedacht gewesen war. Hätte Heuss nicht unverzüglich reinen Tisch gemacht, so hätte vermutlich auch er seine Schwierigkeiten bekommen. Im Grunde ging in diesem Fall wie im Fall Lübke und zahllosen anderen Fällen der Streit um die Frage, wo die Grenze zu ziehen ist, jenseits derer die Befleckung beginnt.

„Stern” kontra Lübke

Dem Ansehen der Demokratie und des Staates ist der Fall Lübke in jedem Fall abträglich. Die Urheber und Verfechter der Anschuldigungen bestreiten dies. Sie erklären, daß sie der Wahrheit dienen wollen. Was Ost-Berlin angeht, so wird man allerdings füglich sagen dürfen, daß es ihm mit Sicherheit nicht um die Wahrheit, sondern um das Skanda- lon und die Beunruhigung geht, die der Fall in der deutschen Öffentlichkeit auslöst.

Hier ist bereits durch die anti- parlamentarische Opposition so viel aufgewühlt und in Bewegung geraten, daß die Plattform, auf der sich diese Demokratie gründet, an vielen

Stellen durchlässig und anfällig geworden ist.

Die Maßstäbe der gesellschaftlichen Ordnung und des ethisch richtigen politischen Verhaltens werden mehr und mehr in Frage gestellt. Alle Welt sieht und beklagt dies. Jedermann ruft nach Abhilfe. Aber das Schiff treibt dahin, und es findet sich kein Steuermann, der es aus den Strömungen herausbringt. Nur die Verworrenheit der Verhältnisse macht es möglich, daß gerade der Chefredakteur des „Stetn”, Henri Nannen, sich zu einem Hauptankläger gegen Lübke macht, obgleich er selbst im Dritten Reich nicht Wider standskämpfer, sondern Kollobora- teur war.

Er gehört zu denen, die Lübke auffordern, sich durch eine Klage reinzuwaschen — oder unterzugehen. Lübke hat denn wohl auch zunächst daran gedacht, Klage zu erheben. Aber gegen wen? Die Drahtzieher sitzen in Ost-Berlin und sind für ihn nicht faßbar. Fast hat es deshalb den Anschein, daß Nannen immer schärfer gegen Lübke ausholte, um ihn zur Klage zu zwingen.

Aber ein Prozeß Lübkes gegen irgendwen würde allemal zu einem monströsen Schauprozeß werden mit Beweisanträgen und anderen prozessualen Manövern, denen sich ein Staatsoberhaupt schwerlich aussetzen kann. Außerdem könnten Presseerzeugnisse für sich die Wahrnehmung berechtigter Interessen und die Freiheit der öffentlichen Meinung beanspruchen. Ein Prozeß aber, aus dem Lübke nicht als eindeutiger Sieger hervorginge, dem das Gericht nicht ausdrücklich bescheinigt hätte, unbelastet zu sein, wäre eine schwere Niederlage nicht nur für ihn, sondern für die demokratische Wirklichkeit in der Bundesrepublik. Fraglos geht es hierum den Drahtziehern aus Ost- Berlin in erster Linie.

Statt Prozefi — Erklärung

Deshalb hat sich schnell die Auffassung durchgesetzt, Lübke von einem Prozeß abzuraten. Darnach bot es sich von selbst an, daß der Mann Lübke vor die Öffentlichkeit treten und darstellen sollte, wie er sich im Dritten Reich verhalten hat. Auch dieses Vorgehen hat indes seine Problematik. Lübke besitzt so gut wie keine Ausstrahlungskraft. In

Reden vor größerem Kreis und im Fernsehen wirkt er unbeholfen. Er hat sich daher mit der dezidierten Erklärung begnügt, alle Behauptungen seien Verleumdungen. Nannen wieder hat sich für die Verbalinjurien entschuldigt.

Politisch kam die Krise höchst ungelegen. Lübikes ungeschicktes öffentliches Auftreten hat seit geraumer Zeit zu der Frage geführt, ob er nicht zurücktreten oder gar zum Rücktritt gezwungen werden sollte. Solche Erwägungen sind auch in einigen Kreisen der Union angestellt worden. Sie sind jedoch in den Ansätzen steckengebldeben. Hinzu trat der Gedanke, daß Lübkes Amtszeit — zehn Jahre nach einer Wiederwahl — im nächsten Jahr abläuft, in dem zugleich Bundestagswahlen stattfinden. Eine Wahl des Bundespräsidenten vor 1969 würde jedoch zu einer schweren Belastungsprobe der Großen Koalition führen, weil ein sozialdemokratischer Kandidat einem Kandidaten der Union gegenüberstehen würde. Vor den Rückwirkungen einer solchen Auseinandersetzung auf den Zusammenhalt der Koalition, zumindest auf deren Arbeit, schreckte man zurück.

Abgesehen davon hat Lübke eine hohe sittliche und religiöse Auffassung von seinem Amt. Er würde nicht zurücktreten, wenn er nicht guten Gewissens sagen könnte, daß sein Gesundheitszustand ein längeres Verbleiben im Amt nicht erlaube. Er hält es für seine Pflicht, seine Amtszeit durchzustehen. Zur Zeit hat es den Anschein, daß die Mehrheit in der Union und in der SPD ebenfalls der Ansicht ist, das normale Ende der Amtszeit abziuwarten.

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