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Luftschlacht über dem Dorf

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Der bekannte ungarische Schriftsteller bäuerlicher Abstammung, Peter V e r e s, beschreibt in der neuen Folge seines Tagebuchs, das den Titel „Szämadäs“ („Rechenschaft“) trägt, wie sich einmal gegen Ende des zweiten Weltkrieges die über Ungarn einfliegenden alliierten Fliegerverbände gerade über seinem Dorf mit den nur spärlich vorhandenen deutschen Jagdflugzeugen in eine Luftschlacht verwickelten. Der Kampf tobte in der Luft hoch über dem kleinen ungarischen Dorf, das weit und breit keine Rüstungsindustrie, keine Eisenbahnanlagen oder auch nur brauchbaren Wege besaß und auch keine Soldaten oder irgendwelche Kommandostellen beherbergte. Die Bewohner des Dorfes hatten auch von einem Krieg nur sehr vage Vorstellungen. Die Detonationen trieben die Leute aus den Häusern, und die Bauersleute, viele Frauen und Kinder, wurden dutzendweise Opfer der herabfallenden Granatsplitter in dem sonst stillen, unbekannten Dorf im Nordosten Ungarns.

In diesem Detail des auch sonst gewiß lesenswerten Buches von Peter Veres wird etwas Wesentliches über die Seelenhaltung eines Großteils der Bevölkerung Ungarns schon zur Zeit des zweiten Weltkrieges, der deutschen Besetzung und, vielleicht noch in gesteigertem Maße, auch heute ausgesagt.

Die Menschen betrachten noch immer — und dafür gibt es viele schlüssige Beweise — die Gärungsprozesse und Fraktionskämpfe innerhalb der Kommunistischen Partei ihres Landes als eine Luftschlacht, die aus imbekannten Motiven, für fremde Interessen hoch über ihren Köpfen geführt wird. Nur in einem besteht ein Unterschied zur Verhaltensweise der Bevölkerung des kleinen ungarischen Dorfes: heute geht man, wenn man aus der Ferne Detonationen hört, gleich in Deckung. Dafür gibt es die allgemein üblichen Möglichkeiten: kleine Opportunismen, willfährige Anpassung an die jeweils neue Sprachregelung, die Betonung dessen, daß man ein Fachmann sei, der mit der Politik nichts zu schaffen habe, und man lebe sich heute ohnehin besser als früher..,

Das Regime in Ungarn hat allerdings in den letzten Jahren keine Mühe gescheut, um mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Wohl wurde die Sozialisierung der Landwirtschaft beendet und die Verstaatlichung aller Wirtschaftszweige, die kleinsten Handwerkerbetriebe mit inbegriffen, mächtig vorangetrieben. Doch das ging mit der langsamen, aber stetigen Verbesserung der Wirtschaftslage des einzelnen Hand in Hand. Über 95 Prozent der Arbeitnehmer in Ungarn arbeiten, laut amtlicher Statistik, bereits im „sozialistischen Sektor“. Die Trennungslinien innerhalb der Bauernschaft, zwischen Einzelbauern und Kolchosbauern, sind gefallen, denn heute gehören bereits alle der zweiten Kategorie an. Damit ist dem Regime K ä d ä r etwas gelungen, was R ä k o s i mit viel Propaganda und noch mehr Terror niemals ganz erreichen konnte. Zwischen 1959 und 1961 sind mehr als 900.000 ungarische Bauernfamilien in die „Produktionsgenossenschaften“ eingetreten, die landwirtschaftliche Nutzfläche gehört damit zu 95,5 Prozent den Produktionsgenossenschaften und den staatlichen Betrieben an. Durch diese Erfolge angespornt, propagieren die Kommunisten heute in Ungarn den Gedanken der „nationalen Einheit“.

Vor einem Jahr fand in Moskau der XXII. Parteikongreß statt. Die Weichen wurden gestellt: nach der langen Schonzeit, die wohl mit Fraktionskämpfen vergangen ist, mußte der Stalinismus, und was immer man in den verschiedenen Kategorien der Machtausübung und in den einzelnen Ländern des einstigen großen „Friedenslagers“ darunter verstand, wie es scheint, endgültig liquidiert werden. Die Reaktion folgte in Ungarn durch die wohl auch technisch bedingte Spätzündung erst fast ein Jahr später, aber sie war jetzt da: es wurde nämlich der VIII. Parteikongreß in Ungarn angekündigt. Und das Zentralkomitee der „Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei“ hat in einem langen Kommunique noch Mitte August mitgeteilt, daß die „gesetzbrecherischen Prozesse, die man in den Jahren des Personenkultes gegen Männer der Arbeiterbewegung geführt hat“, nunmehr abgeschlossen seien. Jahre des Personenkultes: das waren in Rußland die Jahrzehnte unter Stalin, in Ungarn die Jahre unter R ä k o s i. Die Prozesse gegen die „Männer der Arbeiterbewegung“ — damit sind wohl Kommunisten und ehemalige Sozialdemokraten gemeint, von denen mehrere heute zum engsten Führungskreis gehören, oder, wie im Falle Marosän, bis vor kurzem noch gehörten —, diese düsteren Inszenierungen, man denke nur an den Rajk-Prozeß, fanden in Ungarn in den Jahren von 1949 bis 1953 statt.

Nun seien also die vergilbten Akten über die Folterungen, Gehirnwäsche, Hinrichtungen, Konfiszierungen, Einkerkerungen auch der Witwen, der Freunde und Mitarbeiter, geschlossen. Man hat diesen etwas späten Termin damit begründet, daß man bisher, seit der „Gegenrevolution“ von 1956, mit der „Reorganisation der Arbeitermacht“, der Wiederherstellung der Ordnung und Wiederankurbelung der Produktion beschäftigt war. Tatsächlich hat man wohl auf den Wink aus Moskau gewartet. So ist aber an dem nunmehr einstimmig gefaßten Beschluß, Räkosi, Gero und noch andere aus der Partei auszuschließen, das Erstaunlichste, daß dies erst 1962 geschah. Ebenso erstaunlich ist es, daß ein Mann, wie Käroly K i s s, der seinerzeit als Vertrauter Räkosis die sogenannte Parteikontrolle in Händen hielt und sich bis zuletzt in Amt und Ehren befand, jetzt nur „abberufen“, aber nicht eigentlich gemaßregelt wurde. Kürzer verfuhr man da mit den Werkzeugen. Die Blutrichter, Staatsanwälte und Folterknechte der Polizei von damals wurden hinausgeworfen, aufs Land versetzt, vielen von ihnen wird der Prozeß gemacht — diesmal wohl unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Der stellvertretende Justizminister, acht Richter des Obersten Gerichtshofes, der stellvertretende Leiter der obersten Anklagebehörde wurden ihrer Ämter enthoben. Diese Leute waren also noch während der Vergeltungsmaßnahmen nach dem Volksaufstand von 1956 voll in „Aktion“. Der jetzt entlassene Stellvertreter des Obersten Staatsanwaltes erhielt noch im Mai 1958 für seine Mitwirkung „bei der Niederschlagung der Gegenrevolution und der Festigung der Ordnung nach 1956“ eine hohe Auszeichnung. Einer von den Richtern des Obersten Gerichtshofes, die jetzt gemaßregelt wurden, Dr. Istvan T i m a r, leitete unter Räkosi die besondere Abteilung bei der Geheimpolizei, wo man die Geständnisse der Delinquenten vorbereitete. Er wurde noch unter der ersten Ministerpräsidentenschaft Imre Nagys im Jahre 1953 zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. 1957 kam er wieder frei und wurde zuerst Leiter der Abteilung für Gesetzentwürfe im Justizministerium, später erster Stellvertreter des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes. Nun hofft man in Ungarn, daß hinter dem Auf und Ab der Karriere dieses „Richters“ und seiner Kollegen endgültig der Schlußpunkt gesetzt wurde. Die neuernannten Nachfolger scheinen, westlichen Pressemeldungen zufolge, wirkliche Juristen und nichts als das zu sein.

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