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Macht Gaitskell das Rennen?

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Vom Urlaub erst vor kurzem nach London zurückgekehrt, mußten die meisten englischen Politiker sowie die Sekretariate der Parteien bereits Überstunden machen, um die Ende September und Anfang Oktober fälligen Jahrestagungen besonders gut vorzubereiten. Denn von dem Ergebnis dieser Konferenzen werden zu einem beträchtlichen Teil die Aussichten der Parteien bei den nächsten allgemeinen Wahlen abhängen.

Seit 1951 haben die Konservativen jede Wahlschlacht gewonnen; seit Jänner 1962 konnte die Regierungspartei aber nur eine Nachwahl (Blackpool) für sich entscheiden. Auch die demoskopischen Untersuchungen zeigen, daß die breite Masse mit dem Kabinett Macmillan unzufrieden ist. Wird der nächste Urnengang England eine sozialistische Regierung bescheren? Diese Frage stellen sich nicht nur die Führungsgruppen, die Meinungsforscher, sondern auch die innenpolitischen Kommentatoren der unabhängigen Presse und des Fernsehens, und mit ihnen alle politisch interessierten Bürger des Vereinigten Königreiches. Vor zwei Wochen ist in dem südenglischen Nobelbad Brighton die Generalversammlung der Sozialisten beendet worden. Für eine Woche prägten die Delegierten, von denen mehr als die Hälfte aus den Industriegebieten von Nordwest- und Nordostengland gekommen waren, das Bild dieser typischen viktorianischen Kurortes, hörte man in den prachtvoll ausgestatteten Sälen den Lancashire-, Jordy- und Cockneydialekt. Gerade der Labour Party kam es darauf an, der Nation das Bild einer geeinigten, zielbewußten Partei zu geben, die in zähen, inneren Auseinandersetzungen zeitfremde Ideologien loswerden konnte und das Programm verkündet, wie Großbritannien wieder ein dynamisches Gesicht zurückerhält. Nach Meinung unbeteiligter kontinentaleuropäischer Beobachter jedoch waren die englischen Sozialisten in der Beseitigung von ideologischem Ballast nicht im gleichen Maß erfolgreich wie ihre deutschen Kollegen.

millan gab seinen Entschluß bekannt, Großbritannien in die EWG hineinzuführen, in der Frage der Unabhängigkeit der zentralafrikanischen Kolonien gelang es nicht, die auseinanderklaffenden Interessen der weißen Siedler mit jenen der schwarzen Bevölkerung unter einen Hut zu bringen. Vor allem aber konnte der Führer der Labour Party, Hugh Gaitskell, seine Stellung festigen. Gaitskell ersetzte in diesem Zeitraum einige linksradikale Mitglieder des Führungsgremiums durch gemäßigte Politiker, die sich nicht vor den Notwendigkeiten des

Tages verschließen. Die Laboür Party wandelte sich gleichsam über Nacht von ftiner riesigen Schar verbitterter Politiker in optimistisch in die Zukunft blickende, angriffslustige Männer und Frauen. Denn seit Blackpool zielt die Partei darauf, die neuen, durch „die modernen Naturwissenschaften entfesselten Kräfte zum Dienst für die Gemeinschaft einzuspannen“, durch Planung und Kontrolle (super-vision) eine gleichgewichtig wachsend Wirtschaft herbeizuführen und schließlich „den so geschaffenen Wohlstand gerecht zu verteilen“. Klammert man aus diesen Zielen Planung und Kontrolle aus, unterscheiden sie sich kaum von jenen, welche die „Arbeitsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft“ in Bad Godesberg schon in den 50er Jahren immer wieder in den Mittelpunkt ihrer grundsätzlichen Überlegungen zur Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik gestellt hat.

Was die Anschauungen der Labour Party von jenen einer CDU, der holländischen Schwesterpartei, oder von Kennedy und seinen programmatischen Beratern trennt, verdeutlicht man vielleicht am besten, wenn man mit der sozialistischen Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft Großbritannien beginnt.

In einem vielbeachteten Aufsatz im „New Statesman“ erhob Barbara Castle die Klage, die „laissez-faire“ Wirtschaftspolitik der Konservativen habe dazu geführt, daß jeder sich bequem in seinen Lehnsessel zurücksetzt und danach trachtet, in dem neuen Zeitalter des Überflusses soviel private Vergnügen als möglich herauszuholen und die Parteitagungen von Blackpool und Brighton setzten diesen Gedanken gleichsam fort und meinten, diese Haltung hätte den „witschaftlichen Zerfall und politischen Niedergang“ erst ermöglicht. Die allgemeinen Bedürfnisse wie Gesundheit, Erziehung, soziale Sicherheit und Verkehr blieben unbefriedigt, „unwichtige Industriezweige (non-essential industries)“ hätten sich auf Kosten anderer ausgedehnt, der kommunale Wohnungsbau sei wegen des Baues neuer Bürogebäude und von privaten Gesellschaften errichteter „Luxuswohnungen“ (durchschnittlich 70 bis 90 Quadratmeter) ungenügend. An weiteren „Mißständen“ zählt die parteioffizielle Literatur noch einen übergroßen Aufwand für Werbung, wirtschaftliche Konzentration und Rückgang de Anteils Großbritanniens am Weltexport auf. Als Vergleichsjahr dient 1950, eine Zeit, in der Deutschland und Japan, um nur zwei Länder zu nennen, auf den Weltmärkten noch nicht in Erscheinung traten.

Die Sozialisten bieten jedoch auch ein vollständiges Programm, wie sie diese „Mißstände“ beseitigen und eine „neue und bessere“ Gesellschaft aufbauen werden; dies könnte ihrer Meinung nach nur durch Planung und Kontrolle gehen. Ein „National Indu-strial Planning Board“ müßte geschaffen werden, der langfristige Investitionspläne aufstellen müßte, damit ..eine zweckvolle und rasche Investition der vorhandenen Mittel“ ermöglicht würde. Neben die durchaus noch marktwirtschaftlichen Mittel der beschleunigten Abschreibung und Steuerermäßigung für re-investierte Gewinne hätten garantierte Aufträge und neu zu errichtende staatliche Betriebe zu treten.

Eine Labour-Regierung würde die •clion bestehende Nationale For-schungs- und Entwicklungsgesellschaft dazu benützen, die zentral aufgestellten Planziele zu sichern, indem sie sich des gemeinwirtschaftlichen Unternehmens in fünffacher Form bediente: Verstaatlichung eines ganzen Industriezweiges oder einzelner Unternehmen (Monopolkonzerne), staatliche Beteiligung in privaten Unternehmungen auf Partnerschaftsbasis, Errichtung staatlicher Unternehmen als Konkurrenz für die Privatwirtschaft sowie kommunale und genossenschaftliche Betriebe. Um die private Bautätigkeit ohne Rationierung der Baumaterialien einzudämmen und den kommunalen Wohnungsbau preislich günstig zu gestalten, würde eine Labour-Regierung den Verkaufszwang für Baugrund einfuhren; aller privater Grund müßte einer staatlichen Kommission zum Kauf angeboten werden.

Als diese Absichten der Öffentlich-kei bekanntwurden, stießen sie zum Teil auf heftige Kritik. Einzelne Kommentatoren nannten es unverblümt einen Versuch, in England eine volksdemokratische Gesellschaft zu errichten. Diesen Anwürfen traten die Führer der Labour Party energisch entgegen; Barbara Castle unternimmt in dem schon erwähnten Aufsatz, unterstützt durch zahlreiche Reden Gaits-kells, den Versuch, die Öffentlichkeit Großbritanniens glauben zu machen, daß die sozialistischen Absichten sich an dem französischen Beispiel ausgerichtet hätten, und weist gleichzeitig auf die unbestreitbaren Erfolge der französischen Wirtschaftspolitik hin. Die Labour Party verschweigt nach Ansicht angesehener Publizisten hingegen, daß in Frankreich nur sehr grobe Investitionsziele der Privatwirtschaft bekanntgegeben werden, der ganze Apparat stark dezentralisiert ist und die sogenannte französische Planwirtschaft sich darauf beschränkt, die privaten Unternehmer mit detailierten, langfristigen Wirtschaftsprognosen zu versorgen.

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