6759701-1968_10_01.jpg
Digital In Arbeit

März 1933 bis 1938

Werbung
Werbung
Werbung

Das Jahr 1938 war das fünfte Jahr der sogenannten Selbstauflösung des österreichischen Parlamentarismus im März 1933. 1938 waren die Ereignisse des ersten Jahres der Ära, die man dann die Systemzeit nannte, schon halb vergessen. Wer erinnerte sich in dem strahlenden Frühling 1938 an jenen Streik der Eisenbahner, der dann zu der historischen Kampf abstimmung im Nationalrat vom 4. März 1933 führte? Wer wußte, daß es damals 81:80 „stand”? Wer kümmerte sich noch um die parteiinternen Streitigkeiten, die innerhalb der sozialdemokratischen Partei stattgefunden haben und als Folge derer man den Ersten Nationalratspräsidenten Karl Renner veranlaßt hatte, die Präsidentschaft niederzulegen und zu seiner Fraktion einzurücken, um die Regierung Dollfuß niederzustimmen? Wer konnte noch die darauffolgende Kavalkade von Fehlschlüssen und Fehlentscheidungen richtig aufzählen, die zu der Aufrichtung des autoritären Regimes geführt haben?

Von den überlebenden Tatzeugen, die das Geschehen des Jahres 1933 bewußt in der Erinnerung behalten haben, ist heute jeder mindestens an die 60 Jahre alt. Für diese und die, die ‘ noch älter sind, waren die beginnenden dreißiger Jahre die Jahre ihrer politischen Jugend; sie alle bekamen damals das Wort Diktatur ins Ohr, ob sie rechts oder links standen; der Parteienstaat schien in einer Positionsstrategie erstarrt zu sein; der schwächliche Staat am Rande der Radikalismen war unfähig, die Folgen der Weltwirtschaftskrisis zu steuern. Aber die alten Herren von heute erinnern sich noch, wie man ihnen die Uniformen dar paramilitärischen Vertiände ausgezogen hat: zuerst die des Republikanischen Schutzbundes und dann die der nationalsozialistischen Kampfverbände. Vergessen sind aber die großartigen Vorbereitungen für einen GESAMTDEUTSCHEN KATHOLIKENTAG, der im Herbst 1933 in Wien stattfinden sollte, verhallt die Reden von Dollfuß anläßlich der Gründung einer Vaterländischen Front.

Der Staat hält die Archive, die die Dokumente dieser Zeit enthalten, streng unter Verschluß. Nur die mißbräuchliche Anwendung der Macht des Besatzungsregimes hat es möglich gemacht, daß der Wortlaut des Briefwechsels Mussolini-Dollfuß 15 Jahre später mit einem Vorwort des sozialistischen Vizekanzlers Schärf in der Öffentlichkeit erscheinen konnte. So bleibt es halb unverständlich, warum sich das kleine Österreich, über das nach der Machtergreifung Hitlers vom 30. Jänner 1933 die ersten Wellen der nationalsozialistischen Aggression hinweggingen, bei dem Ausbleiben jeder substanziellen Unterstützung seitens der sogenannten großen Demokratien an den faschistischen Konkurrenten des deutschen Reichskanzlers gewendet hat; um für den Fall eines gefährlichen Konfliktes wenigstens jene Hilfestellung zu bekommen, mit der im Juli 1934 der römische Diktator nach der Ermordung des Bundeskanzlers den ersten Anschlag Hitlers auf Österreich abgewehrt hat. Vier Jahre waren es her, damals im Frühling 1938, daß sich in Österreich die Katastrophe im Schnittbereich zwischen Faschismus und Volksfront vollzogen hatte. Eis sind nicht mdhr viele am Leben, die dalbei- gewesen sind, damals, im österreichischen Bürgerkrieg. Man sieht sie in schütteren Häuflein an den Gedenktagen; vor den Kirchen, wo sie sich noch einmal zu den Totenmessen ihrer Freunde aus Jugendtagen treffen; bei den Aufmärschen, vor den Gedenkstätten auf den Friedhöfen, wo sie die Delegationen der jungen Generation ihrer Parteien anführen, jene, die nicht mehr verstehen können, wie dieses Unfaßbare geschehen ist. Jetzt sind es mehr als zehn Jahre her, seit sich in Wien Schutzbündler und Heimatschützer zu einem Gespräch der Feinde getroffen haben; 1968, bei dem Begräbnis von Julius Deutsch, des Mannes vom 12. Februar 1934, standen die Feinde von einst an einem Grab, das als Symbol eines Humanismus mehr Menschen auf Österreich zu geeignet hat alis langatmige Bemühungen der Staatsoffizialität.

1964, 30 Jahre nach den Februarkämpfen, ging die im Absterben befindliche Koalitionsregierung zum ersten und zum einzigen Male gemeinsam an diesem Gedenktag zu den Gräbern der Opfer; wohlgemerkt nicht zu den Gräbern derer, die als Soldaten und Angehörige der Exekutive gefallen waren; es gibt auch nöch keine Worte und keine Geste, die über die Gräber vom Juli 1934 hinweggehen, insbesondere über das einsame Grab des Kanzlers. Man muß diese Generation wegsterben lassen; sagen die „entideologi- sierten Gesellschaftsingenieure” von heute. Diese „emotionell und ideologisch aufgeladenen Typen von gestern” mit den von ihnen entfachten „irrationalen Dynamismen” glaubt man bald endgültig ausgewintert zu sehen.

Die österreichische Maiverfassung vom Jahre 1934 bleibt im staatsbürgerlichen Unterricht und in den Universitätsvorlesungen über Verfassungsgeschichte ein Hinweis in der Klammer; die Tatsache, daß im Kammerstaat Österreich einige der blassen Theorien der berufsständischen Ordnung unter einer anderen legitimierenden Staatsidee eine Verwirklichung finden, die tragfähig ist, bleibt vertuscht.

Ganze drei Jahre hatte man bis zum sogenannten Anschluß Zeit gehabt, in Österreich ein Gespräch der Feinde in Gang zu setzen. Wer hat heute noch den Mut, sich dazu zu bekennen, damals in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft dabeigewesen zu sein? Wer erinnert sich noch an die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen im Favoritner Arbeiterheim? An diese Existenz zwischen Diskussion und Arretur? Wer hat den Mut, im Wiener Rathaus zu sagen, daß der damalige Bürgermeister Richard Schmitz nicht einfach deswegen ins KZ gekommen ist, weil er Parteigänger Engelbert Dollfuß’ gewesen ist, sondern deswegen, weil er zuletzt anfangs 1938 den letzten Wider stand einer vereinigten Rechten und Linken für Österreich aufrichten wollte? Die Wörterbücher von heute wiesen unter dem Schlagwort Österreich im Jahre 1935 lediglich darauf hin, daß die Konsolidierung des Systems nicht gelungen sei.

Nicht ganz zwei Jahre hat das Juliabkommen vom Jahre 1936 die Spannung mit dem Dritten Reich vorübergehend gelockert. Es ist müßig, 30 Jahre nachher dairüber zu streiten, ob ts damals ein Hang zum Appeasement gewesen ist, der öster- reichischerseits zu dem Abkommen getrieben hat, oder das Resultat jener internationalen Vereinsamung des Ständestaates, das nach dem Engagement Italiens in dem Abes- sinischen Krieg und nach dem Zer- bröseln der Garantiefront von Stresą eingetreten war.

Was wir damals Gott sei Dank noch nicht vollends wußten, das war die Ansicht in den Staatskanzleien der Großmächte, wonach man allgemein die österreichische Unabhängigkeit und staatliche Selbständigkeit nur noch als ein Experiment auf Zeit ansah. Jetzt zog man auch uns, den Angehörigen der Wehrverbände des Systems, die Uniform aus; alles das geschah um zehn Jahre zu spät.

Ein Jahr später, im Herbst 1937, nach der Rückkehr des Bundeskanzlers von einem Entrevue mit Mussolini, wußten wir, daß wir dem Hitlerismus allein Aug in Aug gegenüberstanden/ In dieser Zeit haben konservative und liberale, sozialistische und rechtsgerichtete Politiker vieler Länder, die sich nach 1945 auf ihre Gegnerschaft zum Nationalsozialismus einiges zugute hielten, Hitler auf dem Berghof begrüßt und ihm ihre Bewunderung ausgedrückt. In Wien gingen wir mit einem unheimlichen Gefühl an jenem Büro in der Teinfaltstraße vorbei, in dem, wie allgemein bekannt, ein von der Regierung toleriertes Komitee von Nazis ihr Aktionsprogramm für das Jahr 1938 vorbereitete. Wir haben diese Papiere in Händen, die praktisch das Marschtableau der Machtergreifung wurden: Rücktritt des Bundeskanzlers Schuschnigg, dann Ubergangsregierung, dann Volksabstimmung, dann reines NS-Re- gime; alles das unter Bereitstellung der deutschen Wehrmacht.

Die Geschichte der letzten Wochen hat Bundeskanzler Schuschnigg in seinem Buch „Requiem in rot-weißrot” beschrieben, das zu den wertvollsten Dokumenten politischer Publizistik aus jener Zeit gehört. Aber nur wer dabeigewesen ist, damals von 30 Jahren, kann die unausstehliche Spannung nachfühlen, die uns zwischen der Begegnung des Kanzlers mit Hitler am 12. Februar und dem 11. März 1938 erfüllt hat. Es ging zu wie im Frankreich der Bourbonen von 1814, in der Zeit zwischen der Landung Napoleons nach seiner Rückkehr aus Elba und dem Einzug in Paris. Eine Kavalkade der Feigheit, der Gesinnungslosigkeit und der Perfidie ging über das Land hinweg. Aber auch eine Welle der Bekenntnisse zu Österreich; es gab Zeugnisse des Mutes und der Entschlossenheit, die nicht vergessen sind; und viele begannen zu ahnen, wie wahr der Dichter Hammerstein 1935 gesprochen hatte, als er sagte: Man nehme Österreich den Österreichern weg, und alle werden fühlen, was sie verloren haben.

Natürlich wußten wir nicht, daß schon vor Berchtesgaden der italienische Außenminister seinem Tagebuch anvertraut hatte, der Anschluß sei unvermeidlich; wer von ‘uns konnte 1937 den Londoner „Observer” lesen, der den Engländern ungeniert riet, sie sollten sich über dieses kleine Österreich nicht den Kopf zerbrechen; und noch weniger wußten wir von den triumphierenden Berichten des deutschen Botschafters in Paris, der auf das Schwanken der französischen Politik zwischen Anfällen von Energie und passiver Resignation hinwies.

Man dachte an einen letzten Widerstand. Als der Kanzler am 8. März 1938 seinen Abstimmungsplan beriet, waren die Verhältnisse im Land längst untragbar geworden: In der Steiermark ging der passive Widerstand der Nazis in die Vorbereitung der Machtübernahme über; die Verhandlungen mit den „betont Nationalen” verliefen im Sande; und Hitlers Sonderbeauftragter Keppler konnte nach Berlin berichten, die NSDAP sei wieder schlagkräftig und könne bei dem politischen Spiel benutzt werden. Wenn der damalige österreichische Minister Glaise-Horstenau später wahrheitsgemäß berichtet hat, dann war Schuschniggs Gedanke für die Idee einer Volksabstimmung in Österreich nicht so kalt; hätte sonst der Führer dem österreichischen Minister gesagt, er würde am 12. März in Österreich einmarschieren, denn die Volksabstimmung Schuschniggs für Österreich könnte auch gut ausgehen? An demselben Tag, an dem Hitler so zu einem österreichischen Minister sprach, gab er den Münchner, Nürnberger und Breslauer Armeekorps die Weisung zum „Unternehmen Otto”, das heißt zum Einmarsch nach Österreich. Nicht einmal das spätere Regime Seyss-Inquart konnte diesen Einmarsch abwehren, mußte sich zu einer Zeugenschatt für eine „Anforderung deutscher Truppen” hergeben.

Am Abend des 11. März 1938, als die Weltgeschichte die Tür hinter uns zugeschlagen hatte, wußten wir noch nicht vollends, was uns geschehen war. Später, als alles vorbei war, wurden wir Zeuge dessen, wie sich Regierungschefs und Staatsoberhäupter anderer Staaten in der Stunde der Kapitulation vor Hitler (und darnach) verhalten haben: die Tschechen, die Polen, die Dänen, die Belgier und die Franzosen. Der österreichische Bundeskanzler hat seine Tatzeugenschaft und sein persönliches Einstehen als einziger nach der Kapitulation mit der KZ-Haft quittiert. Dieses Los und das ZeKn- tausender in Verfolgungshaft und Todesgefahr war in einem Sinn gnädig: Es ersparte uns, die ganze Perfidie des Restes der Welt von damals zu erfahren. Heute, 30 Jahre nachher, können wir den Aktenpublikationen entnehmen, wie damals große und kleine Demokratien, kleine und große Diktatoren über Österreich gedacht haben:

• Aus Paris relaktionderte um den 12. März der deutsche Botschafter, daß man die vollendete Tatsache akzeptiere;

• in London hätte man zwar etwas gegen die Methode Hitlers, aber nur noch wenig gegen das Faktum;

• in Washington hatte der Außenminister Cordell Hull nur wenige Fragen über das Wie und Warum an den deutschen Botschafter; im übrigen besaß er „durchaus Verständnis für das deutsche Vorgehen”. Es ist derselbe Hull, der fünf Jahre später in der Moskauer Deklaration über die Wiederherstellung Österreichs bescheinigen wird, daß Österreich, das bei Kriegsausbruch nicht mehr bestanden hatte, Verantwortung für den zweiten Weltkrieg trägt, der es sich nicht entledigen kann;

• es kränkt uns heute nicht mehr, daß Tschiangkaisčhek den Anschluß persönlich mit dem Motto quittierte; Ein Volk, ein Reich, genau im Stile Gobbets’;

• aber es war schmerzlich für uns zu hören, daß der schweizerische Bundesrat Motta dem deutschen Botschafter seine Bewunderung darüber ausgedrückt hatte, auf welche Art und Weise der Führer den Anschluß bewerkstelligt hatte; man sei sich über die Unabweisbar- keit dieses größten Ereignisses zwischen den Kriegen längst bewußt gewesen; und man wisse, daß es auch keine Konfliktsgefahr für später gebe.

Man sprach nicht nur mit dem Missionschef des Dritten Reiches in dieser Manier; man sprach so auch unter sich und deswegen gehört diese Dokumentation zum Resümee der Erinnerung.

1938 wurde das kleine Österreich ein Preis und ein Opfer für das Appeasement zwischen den großen Demokratien des Westens und der Diktatur des Hitlerismus. Möge die Zweite Republik aus dieser geschichtlichen Erfahrung für die Existenz in der Balance der zweigeteilten Welt ihre stete Warnung beziehen. Quälen wir uns nicht mit dem Gedanken, wir hätten, nachdem wir 1933 eine innere Freiheit vertan hatten, nur deswegen 1938 die Hilfe der Freien Welt für die Verteidigung der äußeren verspielt. Besagte Verteidiger haben nach dem Untergang des autoritär geführten Österreich ohne Bedenken mehr oder weniger demokratisch regierte Staaten sogar vertraglich der hitlerischen Aggression überantwortet: Großbritannien und Frankreich im Herbst 1938 in München die CSSR; Molotow im Verein mit Ribbentrop im Herbst 1939 in dem Vertrag, der die vierte Teilung Polens einleitete; von Cordell Hull vom März 1938 nicht mehr zu reden.

Wir leben in einer Zeit, in der die Kritik die patriotische Pflicht Nummer 1 ist. Eine solche Kritik, freilich in einer ungewohnten Richtung ausgestreut, verbleibt uns als Warnung aus der Erinnerung. Denn:

• Es gibt nicht nur ein heilsames Vergessen in der Geschichte, sondern auch

• ein lebensgefährliches, das die Gefahr tödlicher Rückfälle in sich hat.

Vor diesem gilt es Österreich zu bewahren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung