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„Mann aus dem Chaos“

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Am 2. Mai 1945 besetzten Panzer der 13. US-PanzerdiVision Braunau am Inn. Ihr Kommandeur, Generalmajor John M i 11 i k i n, bezog das Geburtshaus Adolf Hitlers als Gefechtsstand, 48 Stunden vorher erschoß sich in seinem Ar- beits- und Wohnraum im Bunker der Neuen Reichskanzlei in Berlin jener Mann, der einstmals in dem schlichten Gasthaus zu Braunau als Sohn eines österreichischen Zollbeamten geboren wurde.

Er nahm in der modernen Geschichte nach der Meinung eines britischen Biographen die Stellung eines Alleinherrschers in einem modernen Industrie- und Militärstaat ein, wie sie bisher niemals denkbar erschien. „Mann aus dem Chaos“, „moderner Massenbeweger", „der klassische deutsche Unglücksrabe, der aussah, als hätte es ihn nie gegeben", wie ihn der geistvolle Schriftsteller Hermann Kesten jüngst bezeichnete — das sind die klischeeartigen Deutungen des Phänomens Adolf Hitler. Das faktische Endergebnis der nationalsozialistischen Epoche: die ottonische Grenze und der Verlust der Siedlungsböden einer tausendjährigen Vergangenheit, eine Auslaugung der Substanz Mitteleuropas wie nie zuvor, und nicht zuletzt eine soziale und politische Unjfchichtung, deren Virulenz und endgültige Ergebnisse noch gar nicht abgesehen werden können. Zwischen dem Haß einer zerstörten mitteleuropäischen Kultur- und Staatengemeinschaft und der noch immer vorhandenen magischen Vergottung muß die historische Forschung ihren Weg suchen: der

Pfad ist schmal, das Gestrüpp und das Dunkel um die wirklichen persönlichen, politischen und psychologischen Hintergründe des Aufstieges Hitlers hat dieser selbst geschaffen.

Mit Einsatz der letzten Mittel eines totalitären Staatsoberhauptes wurde schon bei seinen Lebzeiten alles Quellenmaterial über die unklare Abstammung, Jugend und Herkunft entweder von der allmächtigen Gestapo beschlagnahmt oder dem Zentralarchiv seiner Partei einverleibt, wobei die privatesten Dokumente stets von einem der nächsten Begleitadjutanten verwahrt wurden. Alle diese Quellen wurden rechtzeitig vernichtet, und der Historiker ist deshalb entweder auf noch lebende und damit sehr problematische Augenzeugen oder auf Quellen aus zweiter Hand angewiesen. Nur dort, wo es gelang, Originaldokumente noch zu retten, kann man mit wirklichen Enthüllungen rechnen, zu denen übrigens die Publikation eines ehemaligen oberösterreichischen Politikers in einer westdeutschen Wochenzeitung zählen — weil dieser Mann gewichtige Akten dem Zugriff der Gestapo entzog.

Aber nicht nur Enthüllungen des Biographen und der Versuch einer Wertung Hitlers stehen augenblicklich zur Debatte. Aus der Feder des Oxforder Historikers Allan B u 11 o c k ist kürzlich eine Biographie erschienen, die sich hauptsächlich auf die gedruckten Quellen beruft; sie wird von der angelsächsischen Kritik etwas überschwenglich als Standardwerk gerühmt. Die beiden deutschen Autoren Walter Görlitz — dessen Werk über den deutschen Generalstab in diesen Blättern seinerzeit besprochen wurde — und Herbert A. Quint haben sich in dem vorliegenden biographischen Werk: „Adolf Hitler" — Eine Biographie, Steingrubenverlag, Stuttgart, 656 Seiten, der Riesenaufgabe unterzogen, die Geschichte Hitlers aufzuzeichnen.

Veit Valentin, der emigrierte Historiograph der deutschen Revolutionsgeschichte, bemerkte einmal richtig: Hitlers Geschichte ist die Geschichte seiner Unterschätzung. Daraus ergibt sich schon die Schwierigkeit der Forschung. Denn neben dem Mangel an Quellen verdunkelt noch allzu stark das Gräberfeld von Millionen Toten die Beurteilung eines Phänomens, das die „Massenseele" des modernen Menschen mit dem Mythos und den pseudoreligiösen Werten zu erfüllen vermochte, wie kaum ein anderer mitteleuropäischer Politiker vor ihm. Daß selbst die klassische, nüchterne Schule des preußischen Generalstabes diesem Massenbeweger sich zuwendete und erliegen konnte, ist heute durchaus kein Rätsel mehr. Denn schon 1922 schrieb der später verantwortliche Chef der Wehrmachtspropaganda und damalige Oberleutnant Kurt Hesse in einer vielbeachteten Studie „Feldherr Psychologos jene Worte, die eigentlich den Bankrott der überlieferten Staatstradition und die Beschwörung des Mythos ankündigte:

„Woher er kommt, niemand vermag es zu sagen. Aus einem Fürstenpalast vielleicht oder einer Taglöhnerhütte. Doch jeder weiß: Er ist der Führer, ihm jubelt jeder zu... und so wird er sich denn einmal ankündigen, er, auf den wir alle voll Sehnsucht warten, die Deutschlands Not heute tief im Herzen empfinden, daß tausend und aber hunderttausend Hirne ihn malen, Millionen Stimmen nach ihm rufen, eine einzige deutsche Seele ihn sucht.. .

Die Bühne war also bereitet, noch lange ehe aus der Enge der bayrischen Politik nach 1919 der ehemalige Meldegänger des bayrischen Infanterieregiments 16 in das Blickfeld der einzig realen Macht der deutschen Nachkriegsgeschichte, nämlich der Reichswehrführung, geriet. Sein Leben bis zum Ende des Krieges ist oft durchforscht worden und bietet heute kaum mehr neue Sensationen.

Der Sohn eines österreichischen Zollbeamten, dessen Jugendjahre in Wien als gescheiterter Kunststudent, Taglöhner und Gelegenheitsarbeiter ihm jene tiefen Ressentiments gegen das alte Reich der Donaumonarchie einprägten, die bis zum Lebensende Hitlers in einer seltsamen komplizierten Haßliebe ein wesentliches Merkmal seiner Politik bleiben sollten. Dabei war der Vater im dun-

k kelgrünen Waffenrock des kaiserlichen Zollbeamten ebenso ein heimliches Ideal wie die einmalige ritterliche Lebensform des österreichischen Offizierskorps, dessen äußere Umgangsformen vom Handkuß bis zur eleganten schwarzen Salonhose auch der Diktator gerne nachahmte und die selbst ausländische Besucher oft betörte. Aber der Haß gegen die „Blutschande Wiens", das „undeutsche Geschlecht der Habsburger“, und nicht zuletzt, wie heute aktenkundlich als fast sicher angenommen werden kann, die bewußte Entziehung von der Wehrpflicht in der Armee der Doppelmonarchie trieben den Entwurzelten nach München, Klingt es nicht wie ein Witz der Weltgeschichte, daß der auf den bayrischen König vereidigte Kriegsfreiwillige noch zusätzlich auch den Eid auf Kaiser Franz Joseph deisten mußte und bis 1925 österreichischer Staatsbürger blieb? Mit Recht

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