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Maos Chaos

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Eum erstenmal seit Bestehen des Kommunismus haben wir heute die Gelegenheit, eine revolutionäre Auseinandersetzung in einem kommunistischen Staat auch durch die Brille anderer, mit diesem ver-feindeter kommunistischer Staaten betrachten zu können.

Wer es unternimmt, die parteiamtlichen Erklärungen und die Presseartikel durchzusehen, die im Osten in den letzten Monaten über die Vorgänge in China veröffentlicht wurden, der gelangt zu folgendem Schluß: Mit Ausnahme einiger weniger, allerdings sehr bemerkenswerter, Interpretationen ist vom Osten In Sachen China kaum mehr zu erfahren, als wir schon wissen oder zu wissen glauben. Ja, zum Teil ist die Beurteilung im Osten sogar undifferenzierter, und man spürt deutlich, daß der Osten im innerchinesischen Machtkampf selbst Partei ist. Darüber hinaus hat man Rücksicht auf die Stimmung im eigenen Land zu nehmen — in Osteuropa ist man allzugerne geneigt, Mao kurzerhand mit den eigenen Stalinisten und Dogmatikern zu identifizieren —, und schließlich färbt auch das Verhältnis des jeweüigen osteuropäischen Landes zur Sowjetunion aiuf die Beurteilung der Vorgänge in China ab. Die rumänische Presse berichtet anders über die chinesische Kulturrevolution als etwa die tschechoslowakische.

Besonders aufschlußreich jedoch Ist der da und dort festzustellende Unterschied in der China-Beurteilung zwischen parteiamtlichen Verlautbarungen und den Zeitungsartikeln . marxistischer „Revisionisten“. Die Revisionisten neigen auf Grund der Erfahrungen im eigenen Land dazu, die Vorgänge in China nach dem Schema „Sta-Hnismus — Antistalioismus“ zu beurteilen, womit sie diesen Vorgängen freilich keineswegs gerecht werden. Denn Stalin hat den Parteiapparat in ein Machtinstrument verwandelt, mit dessen Hilfe er ein erstarrtes und unwandelbares totalitäres System errichtete. Mao hingegen versucht, soviel steht bis heute wohl eindeutig fest, das genaue Gegenteil: seine „große proletarische Kiüturrevolution“ ist eindeutig gegen den Parteiapparat gerichtet, den er aus seiner „bourgeoisen“ Erstarrung lösen und wieder in ein revolutionäres Kampfinstrument zurückverwandeln möchte. Zu diesem Zweck hat Mao die Jugend gegen die Partei mobilisiert.

Das Paradoxe ist nun, daß die osteuropäischen und sowjetischen Parteileute zum Teil deshalb so vehement gegen Mao auftreten, weil sie, im Gegensatz zu den Revisionisten, die Vorgänge in China durchaus richtig beurteilen und Ihren primär gegen den Parteiapparat gerichteten Charakter erkennen und verurteilen. Die entschiedensten Gegner Maos in Osteuropa sind also einerseits die Revisionisten, weil sie fälschlicherweise Mao mit Stalin identifizieren, anderseits die Stalinisten und Dog-matiker, weil Maos „permanente Revolution“ gegen den Parteiapparat, fände sie in Europa Nachahmung, ihre eigenen Positionen erschüttern würde.

Freilich gibt es daneben sehr bemerkenswerte Versuche einer objektiven Berichterstattung und Interpretation, von denen gleich einige erwähnt werden sollen. Doch zuvor erscheint es notwendig, eine — unvollständige — Liste jener an die Adresse Chinas gerichteten Vorwürfe zusammenstellen, über die im ganzen sowjetisch beeinflußten Osten Einigkeit zu herrschen scheint. Diese Vorwürfe lauten: Maos Kulturrevolution ist antimarxistisch und antileninistisch; sie mißachtet die objektiven Gesetze des Klassenkampfes, da sie sich nicht auf das Proletariat stützt; sie ist „volunta-ristisch“; sie ist nichit die Folge sozio-ökonomischer Entwicklungen, sondern die Folge davon, daß ein einzelner der ganzen Nation seinen Willen aufzuoktroyieren versucht; sie stützt sich auf die Armee und ist gegen die Partei gerichtet; außenpolitisch ist sie eine Manifestation eines chinesischen Großmacht-Chauvinismus and -Nationalismus mit dem Ziel, aus China das Zentrum der Weltrevolution zu machen und eine Hegemonie Chinas zu errichten; indem sie dadurch, daß sie die Sowjetunion und deren Bruderparteien zu Hauptgegnem erklärt, die kommunistische Weltbewegung spaltet, dient sie dem Imperialismus; vor allem verhindert sie auch die Schaffung einer kommunistischen Einheitsfront zur Unterstützung Vietnams und dienit so der amerikanischen Aggression in Vietnam.

Zu den einzelnen Vorwürfen wäre das eine oder andere zu sagen. Aber wesentlicher ist wohl, nun einige jener Berichte wiederzugeben, die durch ihre Sachkenntnis und durch ihre differenzierende Interpretation auffallen.

Allen voran ist hier paradoxerweise eine Analyse aus der DDR zu nennen, nämlich der von Günter Mittag, Mitglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees der SED, auf der 13. Tagung des Zentralkomitees erstattete Bericht. Darin heißt es:

„Die sogenannte proletarische Kulturrevolution ist der zum Scheitern verurteilte Versuch einer Gruppe der chinesischen Führer, die komplizierten Probleme des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus in China... auf dem Weg rein militärisch-administrativer Leitung und Organisation ... lösen zu wollen.“

Die schweren Rückschläge auf außenpolitischem Gebiet und im Innern des Landes hätten eine tiefe Unzufriedenheit in der Bevölkerung hervorgerufen.

„Offensichtlich entzündeten sich die Auseinandersetzungen zuerst innerhalb der Armee.*'

Dies lasse „Schlußfolgerungen zu, daß zahlreiche Kommandeure angesichts der Revolution in der Militärtechnik durch Raketen- und Kernwaffen sich nicht mit der von Mao Tse-tung und hin Piao proklamierten Linie einverstanden erklärten, wonach die USA-Interventen bei einem Krieg gegen China ,im Ozean des Vorkrieges untergehen würden'. Nachdem innerhalb der Armee die Kritiker bekämpft und offenkundig gemaßregelt wurden, übernahm die Armeeführung mit...

Lin Piao an. der Spitze die Rolle eines Initiators der großen proletarischen Kulturrevoluton.“

Und dann folgen die entscheidenden Sätze:

„Die bedauerlichen Vorgänge in der Volksrepublik China zeugen vom großen Mißtrauen der chinesischen Führer gegenüber der eigenen Partei, der Arbeiterklasse und allen Werktätigen, vom immer tiefer werdenden Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und der Politik der Führer. Es ist kennzeichnend, daß es den chinesischen Führern nicht gelingt, ihre Linie mit Hilfe der Organisationen der Partei durchzuführen. Im Gegenteil: die Repressalien richten sich offensichtlich in erster Linie gegen die ehrlichen, dem Sozialismus ergebenen Kader der Partei. Der abenteuerliche Kurs richtet sich überhaupt gegen die Partei und ihre führende Rolle. Unter Führung der Armee wurden deshalb als Stoßtrupps die sogenannten Mao-Trupps ... geschaffen.“

Aufschlußreich ist weiter der von Milan. Weiner, dem ersten tschechoslowakischen Korrespondenten in Peking nach dem Sieg Maos, in der Zeitschrift der tschechoslowakischen Journalistenvereinigung, dem „Reporter“, veröffentlichte Artikel. Weiner meint, es seien drei „Trends“ in der chinesischen Kulturrevolution sichtbar: 1. Angesichts der amerikanischen Eskalation in Vietnam bereite sich China auf eine amerikanische Invasion vor. 2. Angesichts des „Revisionismus“ und des bürgerlichen Einflusses in den hochentwickelten sozialistischen Ländern und angesichts der Entwicklung der chinesischen Jugend, die die Revolution nicht mehr miterlebte, habe die Parteiführung beschlossen, mit Gewalt eine Rückkehr zu der romantischen Askese, zum Egaliterismus und zu den Entbehrungen der Yenan-Periode durchzudrücken. (In Yenan hatte sich Mao mit seinen Truppen, nach dem berühmten langen Marsch, auf den Endkampf gegen Tschiangkaischek vorbereitet.) Die Jugend soll wieder mit dem Geist der Partisanen, des Bürgerkriegs und der revolutionären Romantik erfüllt werden. 3. Angesichts der scharfen Auseinandersetzungen innerhalb der Partei versuche ihre Führung die Aufmerksamkeit der Massen von den inneren und äußeren Schwierigkeiten abzulenken.

In der ungarischen Parteizeitung „Nepszabadsäg“ berichtete Ferenc Varnai ausführlich über die Ereignisse in China. Auch hier wird vor allem darauf hingewiesen, daß die Roten Garden gegen die Partei kämpften und die ihnen nicht genehmen Führer absetzten. In Kanton, Nanking und an anderen Orten hätten die Parteikomitees gegen die Roten Garden „Konter-Rote-Gar-den“ und Arbeitergarden organisiert. Die Haltung der Mao-Lin-Gruppe wird hier als kleinbürgerlich, was sie zweifellos nicht ist, und chauvinistisch charakterisiert. Der Personenkult habe enorme Proportionen angenommen, denn Lin Piao habe erklärt: „Präsident Mao steht unendlich höher als Marx, Engels, Lenin und Stalin. Es gibt heute keinen Menschen in der Welt, der mit Präsident Mao verglichen werden könnte.“

Schließlich zitiert das ungarische Parteiblatt sogar noch Madame Tabouis, die Veteranin des französischen Journalismus, die in „Paris Jour“ geschrieben hatte, daß in der Vietnam-Frage ein modus vivendi zwischen Amerika und China bestehe, da Amerika genau wisse, daß es seine Eskalation solange fortsetzen könne, ohne eine chinesische Intervention fürchten zu müssen, solange es nicht China selbst angreife. Während sich die sowjetischen Parteiführer zu den Vorgängen in China zurückhaltend äußern, , um nicht der chinesischen Führung das willkommene Argument in die Hand zu liefern, Moskau mische sich in innerchinesische Angelegenheiten ein — ein Argument, das, angesichts der etwas prekären Beziehungen zwischen Moskau und den osteuropäischen Staaten, gefährlich werden könnte —, legt sich die sowjetische Presse wenig Zurückhaltung auf. Die „Prawda“ etwa schrieb kürzlich, in China herrschten „Pogrome und Terror“, es sei zu blutigen Zusammenstößen gekommen, und in Nanking seien 100.000 Arbeiter mit Ziegelsteinen, Feuerlöschern, Tischen und Stühlen auf die Roten Garden losgegangen. Auch zeigte sich dieses Blatt äußerst besorgt über die „Dezimierung“ der Kader von Partei, Gewerkschaften und kommunistischer Jugendliga. Schon in einem früheren Artikel hatte die „Prawda“ geschrieben, der Hauptkampf Maos richte sich gegen das Parteiaktiv, die Parteikader, da diese begriffen hätten, welchen Schaden Maos Bruch mit der Sowjetunion China zugefügt hatte.

Aus dieser — es sei wiederholt: höchst unvollständigen — Übersicht über die Reaktion des sowjetisch beeinflußten Ostens auf die Vorgänge in China ergibt sich also, daß zwischen Ost und West heute Einigkeit darüber besteht, daß Maos „große proletarische Kulturrevolution“ ein atemberaubender Versuch ist, den chinesischen Parteiapparat, der sich auf den Pfründen der Revolution behaglich einzurichten begann, wieder revolutionär „auf Draht“ zu bringen. Mao ist seinen Prinzipien treu geblieben, wonach die Revolution permanent zu bleiben habe, die dialektischen Widersprüche und mit ihnen Kampf und Konflikt ewig seien und auch im Sozialismus und Kommunismus weiter bestehen bleiben, und daß man diese dialektischen Widersprüche auf die Spitze treiben müsse, um den Motor des Fortschritts in Gang halten zu können. Ob Mao. dieser letzte Mohikaner der Weltrevolution, sich mit diesen Prinzipien in China durchsetzen wird, bleibt eine offene Frage. Setzt er sich aber durch, wenn auch nur temporär, dann stellt diese China der perrnanenten Revolutioa für die übrigen Kommunisten der Welt eine Herausforderung dar, der gegenüber diejenige durch den Neo-kapitalismus beinahe verblaßt. Diese Sorge schwingt in beinahe allen „östlichen“ Kommentaren zu den Vorgängen in China mit.

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