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Matt auf El

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IN DER LANGE GASSE AUF DEM TROTTOIR stehen ein paar Herren, starren durch die große Glasscheibe in das Café Alserhof und unterhalten sich halblaut:

„Es tat’ ich spielen ...”

„Das wär’ vielleicht noch besser, da greift er auch gleich den Läufer auf C 7 an. “

Ein Ausruf des Entsetzens: „Ist der wahnsinnig? Ausgerechnet B 5? Also, jetzt kann er nicht mehr decken. Zwei, drei Züge vielleicht noch. Dann kommt Matt auf E 1...”

„Viel war eh nicht mehr zu machen!”

Der Mann hinter der Glasscheibe kann die Unterhaltung nicht hören. Unaufhaltsam steuert er auf seinen Untergang zu. Auch drinnen im Kaffeehaus stehen Kiebitze rund um das Schachbrett, aber sie schweigen, wie es sich gehört.

Und der Ober schlängelt sich mühsam durch das Gedränge und klopft einem auf die Schulter: „Der Herr dort sucht einen Partner! Wollen S’ spielen?”

Partner gibt es für jeden. Für den Anfänger ebenso wie für den Fortgeschrittenen. Nur wer mit einem falschen Zug zeigt, daß er noch nicht sicher weiß, wie die einzelnen Figuren ziehen, ist unten durch. Schacb im Café Alserhof...

UNGEFÄHR EIN DRITTEL des großen Kaffeehaussaales haben die Schachspieler mit Beschlag belegt. Auf jedem Tisch wird eine Partie ausgetragen. Lind rundherum stehen und sitzen die Kiebitze. Der Mokka wird auf 1 einem kleinen Extratischchen untergebracht. Und manchmal wird er kalt. Rauchschwaden ziehen über die Schachbretter, legen einen dünnen Schleier auf das Kampffeld und lassen einzelne Figuren auf Sekunden verschwinden wie Schlachtschiffe, die sich für den Gegner unsichtbar machen wollen.

Im Oberstock ist gerade “in Blitzturnier in Gang.

Ein Glockensignal. Eine Stimme: „Weiß!”

Vier weiße Figuren werden in die Hand genommen und auf ein anderes Feld gesetzt. Gedämpftes Klappern. Stille. Fünf Sekunden Starren auf weiße und schwarze Quadrate.

Gong. Kommando: „Schwarz!” Vier Hände schnellen vor.

Gong. „Weiß!” Gong. „Schwarz!” Gong. „Weiß!” Immer fünf Sekunden

Brett und entscheidet dort, wo noch kein Partner mattgesetzt wurde, auf Grund von Figurenverhältnis und Stellung über Sieg und Niederlage.

Eine Partie ist aber noch so verworren, daß man beim besten Willen nicht sagen kann, wer besser steht. Also wird eine Minute Spielzeit zugegeben. Sechs Züge für jeden Partner. Gong. „Weiß!” Gong. „Schwarz!” Gong .. . Nach einer Minute stehen einem schwarzen König und einem schwarzen Springer ein weißer König und zwei Bauern gegenüber, von denen einer sich anschickt, die Achterreihe zu erreichen, auf der er sich in eine Dame verwandelt. Weiß hat eindeutig gesiegt.

EINE TAFEL an der Fassade des Café Alserhof verkündet, daß hier dar „Wiener Schachverein” seinen Sitz aufgeschlagen hat. Ein bekanntes Schachcafé war das Alserhof immer schon, heute ist sein Name auf der ganzen Welt ein Begriff, überall, wo intensiv Schach gespielt wird.

Wien hat, die Schachklubs zahlreicher Betriebe nicht mitgerechnet, an die dreißig Schachklubs, darunter, an erster Stelle zu nennen, der „Schachklub Hietzing”, dem auch der „Wiener Schachverein” angeschlossen ist. In der Weltrangliste der Schachnationen steht Österreich an fünfzehnter Stelle.

Von den zehn besten Schachspielern der Welt sind augenblicklich acht Russen, und der beste deutsche Schachspieler, Unzicker, schätzt, daß auf einer Weltrangliste der einzelnen Schachspieler, die freilich nicht existiert, auf den ersten 50 Plätzen etwa 30 und auf den ersten 1000 Plätzen an die 800 Russen aufscheinen würden.

DIE WIEGE DES SCHACHSPIELS stand in Indien, wo es wahrscheinlich im sechsten Jahrhundert entwickelt wurde. Durch die Araber, welche die Regeln ausbauten und verfeinerten, kam es nach Spanien und dann ins übrige Europa, wo im 15. Jahrhundert die auch heute noch gültigen Regeln entstanden. Ein gewisser André Dan- ican Philidor (geboren 1726) legte den Grundstein zur Lehre von den Eröffnungen und zur Schachtheorie. Und seit 1866 gibt es die Weltmeister:

Steinitz. Analysiert als erster fremde Partien, entwickelt die erste Schachstrategie: Zuwarten, kleine Vorteile sammeln, bis sich die Chance, die Kombination, von selbst ergibt. Stei-

Kiebitze vor dem Fenster haus die Hose und das Studium. Entdeckt das „psychologische Schach”, macht absichtlich Fehler, um die Gegner in Sicherheit zu wiegen, verwirrt klare Situationen mit wenigen Zügen, so daß nur er sich noch auskennt. Mit 26 Jähren Weltmeister.

dazwischen. Wer sich beim Ertönen des Signals nicht zu einem Zug entschlossen hat, muß irgendeine Figur rücken, egal, welche. Wer das Zugreifen verpaßt, hat verloren.

Nach genau sieben Minuten werden alle noch offenen Partien abgebrochen. Ein Schiedsgericht geht von Brett zu nitz gewinnt und gewinnt, und die Gegner fragen sich vergeblich, welche Fehler sie machen. Sie machen keine.

Lasker. Der Hunger treibt ihn in die Kaffeehäuser von Berlin, wo er als Schachwunderkind entdeckt wird Spielt um sein Frühstück, um sein Mittagessen, erspielt sich im Kaffee-

Capablanca. Spielt roboterhaft auf Nummer Sicher. Lasker denkt an die Relativitätstheorie und an seine Gedichte und gibt seinen Titel 1921 fast ohne Gegenwehr an den reichen Argentinier ab.

A1jechin. Will um jeden Preis erster sein und wird es 1927. Be kämpft nachlassende Spielstärke mit der Schnapsflasche. Siegt mit glasigen Augen. Macht seine Gegner mit allen Mitteln verrückt. Knallt die Figuren aufs Brett, hält laute Selbstgespräche. Verliert den Titel an E u w e, erscheint nächstes Mal zur Entscheidungspartie gegen den Katzenfeind Euwe mit einer prächtigen Siamkatze und ist wieder Weltmeister. Stellt sich als Blindspieler zur Schau und verdient damit ein Vermögen: Spielt gegen 32 Gegner gleichzeitig, sie sitzen vor ihren Schachbrettern, er kehrt ihnen den Rücken, ruft ihnen seine Züge aus dem Gedächtnis zu, behält alle 32 Stellungen im Kopf. Alkohol und Blindspiel ruinieren seinen Körper. Stirbt 1946 in Lissabon mit einem Kotelett in der Hand.

Botwinnik. 1948 Weltmeister. Gibt den Titel nach zehn Jahren an den Letten Tal ab, der in wenigen Jahren die ganze Sowjetelite überrundet hat. Straft 1961 den alten Erfahrungssatz Lügen, wonach die Spielstärke mit dem 40., spätestens 45. Jahr unweigerlich nachläßt. Wird überlegen neuerlich Weltmeister.

ZURÜCK INS ALSERHOF! Da gibt es zum Beispiel einen Herrn Doktor Soundso, der kann überhaupt nur blitzspielen — für jedes langsame Spiel ist er einfach, so erklärt er selbst, zu nervös. Die übliche Schachuhr wird aufgestellt, eigentlich sind es zwei Uhren in einem Gehäuse, aber es läuft immer nur das Uhrwerk desjenigen Spielers, der gerade seinen Zug bedenkt. Hier wird nicht, wie beim richtigen Blitzturnier, die Zeit für jeden einzelnen Zug abgemessen, sondern die gesamte Bedenkzeit jedes Spielers. Doktor Soundso gibt sich selbst für die ganze Partie drei bis vier Minuten, dem Gegner zehn — und gewinnt fast immer.

Und hier das andere Extrem: Die Meisterschaftspartie, die zwei bekannte Wiener Schachspieler vor Monaten gegeneinander austrugen, wurde nach vier Stunden im Endstadium als „Hängepartie” vertagt.

Kurze Angabe für Schachfreunde: Zu diesem Zeitpunkt waren noch die beiden Könige, zwei auf der gleichen Feldfarbe operierende Läufer und vier Bauern auf der einen Seite, drei auf der anderen auf dem Brett. Wenn eine normale „Kaffeehauspartie” zwischen gewöhnlichen Sterblichen auf diesem Stand angelangt ist, während der Ober bereits die Sessel auf die Tische stellt, pflegt man ihn um zehn Minuten Geduld anzuflehen: „Warten S’ doch einen Moment, Herr Franz — wir sind eh gleich fertig!”

Die beiden Meister setzten sich ein paar Tage später neuerlich zusammen, um ihre im Endstadium abgebrochene Partie zu Ende zu spielen. Lind sie spielten daran noch viereinhalb Stunden. Und das Ende war ein klassisches Remis — ein Unentschieden.

BEI INTERNATIONALEN TURNIEREN kann die Unterbrechung einer Partie ein entscheidendes Geschenk an Überlegungszeit bedeuten. Deshalb werden die Sowjetspieler auch immer von Sekundanten begleitet, die ihnen helfen, die unterbrochenen Partien abends im Hotel zu analysieren. Der westliche Gegner ist dabei meistens auf sich allein angewiesen.

Anderseits ist folgender Vorfall verbürgt: Bei einem amerikanischen Spieler, dessen Partie gegen einen sowjetischen Gegner vor Jahren bis zum nächsten Morgen unterbrochen wurde, meldeten sich nacheinander vier sowjetische Spieler am Telephon mit dem Angebot, ihm bei der Analyse seiner Hängepartie zu helfen. Sie erschienen ahnungslos, machten zuerst verlegene Gesichter, gingen dann doch an die Arbeit — mit dem Ergebnis, daß ihr Landsmann, dem sie den Sieg aus irgendwelchen Gründen nicht gönnten, eine Niederlage einstecken mußte.

Denn das Schach ist zwar ein königliches Spiel, aber auch die Könige haben nicht immer fair gespielt.

Was für die Könige jeglicher Spiele und Sports besonders dann gilt, wenn es nicht nur um die Ehre geht.

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