6738095-1966_30_01.jpg
Digital In Arbeit

Mehrparteien-Kommunismus?

Werbung
Werbung
Werbung

Im Weltkommunismus zeigt sich eine neue Form der Spaltung. Das berühmte Testament Togliattis hatte zum erstenmal in „offizieller“ Form ein Abrücken westeuropäischer Kommunisten von Moskau erkennen lassen und die Reaktion sozusagen aller westeuropäischen kommunistischen Parteien auf das Urteil im Moskauer Schriftstellerprozeß gegen Sinjawskij und Daniel markiert den Beginn einer westlich-kommunistischen Einheitsfront Moskau gegenüber. Die dem Studium der Probleme des Weltkommunismus gewidmete Zeitschrift „Ost-Probleme“ meinte sogar, es tue „sich langsam eine unübersehbare Kluft zwischen Ost- und Westli’ommunisten auf“.

Einer der wichtigsten Diskussionspunkte in der beginnenden Auseinandersetzung zwischen West- und Ostkommunisten ist das Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie. Unter dem Eindruck des unbeirrten Festhaltens der europäischen Völker an der überlieferten Form der parlamentarischen Demokratie, beginnen die Westkommunisten, vorsichtig ihre Einstellung dem Parlamentarismus gegenüber zu wandeln und sich — zumindest was den „Übergang zum Sozialismus“ anbelangt — zu einem beschränkten Mehrparteiensystem zu bekennen.

Das mag einerseits eine taktisch bedingte Wandlung sein, die durch die Einsicht diktiert ist, daß anders der Kommunismus in Westeuropa — wenn überhaupt — keine Chance hätte, je in irgendeiner Form seine Ziele zu erreichen. Aber es ist nicht nur Taktik. Die Tatsache, daß der

„Sozialismus“ in Osteuropa in ungeahnte Schwierigkeiten geraten ist und es ihm nicht gelingen will, das Volk für sich zu gewinnen, beginnt den Westkommunisten die Augen zu öffnen für den politischen Wert einer echten politischen Opposition — auch für den „Sozialismus“. Und so wenig ideal die Zustände bei uns im Westen auch sind — auf dem Hintergründe der Zustände im Osten beginnen nun selbst unsere Kommunisten langsam den Wert unserer politischen demokratischen Freiheiten zu erkennen. So hat kürzlich der Chefideologe der österreichischen KP, Franz Marek, die These vertreten, die Kommunisten sollten die von der bürgerlichen Gesellschaft erarbeiteten politischen Freiheiten nicht negieren, sondern müßten sie übernehmen und auf ihnen aufbauen.

Auch die SED hat in ihrem Antwortschreiben auf die „offene Antwort“ der SPD erklärt, sie denke nicht daran, „daß etwa in einem vereinigten Deutschland nur eine Partei den Ton angeben wird“. Aber sie hat dieses scheinbare Bekenntnis zum Mehrparteienstaat dann sogleich wieder mit dem Hinweis entwertet, daß es ja in der DDR „fünf Parteien, die auf freiwilliger Basis Zusammenarbeiten“, gebe. Die DDR als echter Mehrparteienstaat — das kauft Ulbricht im Westen freilich niemand ab, denn weder entsprechen die Parteien in der DDR auch nur entfernt dem, was wir unter einer Partei verstehen, noch ist deren „freiwillige“ Zusammenarbeit etwas anderes als ein Hörigkeitsverhältnis gegenüber der SED ohne Möglichkeit echter Opposition. Das Kriterium eines parlamentarischen Mehrparteienstaates ist, daß eine Oppositionspartei an die Regierung gelangen kann, aber von einer solchen Auffassung dürfte die SED weit entfernt sein.

Das heißt nicht, daß es nicht auch im Osten Stimmen gibt, die für die Schaffung einer echten Opposition plädieren. Erwähnt sei hier bloß ein Aufsatz von Julius Strinka in der slowakischen Kulturzeitschrift „Kul- tumy Zivot“, in dem es unter anderem heißt, es erscheine als ein großes Handicap für den Sozialismus, daß der Macht gegenüber ein Korrektiv fehle, das durch institutionalisierte Garantien geschützt werde. Deshalb fehle es an wahrer politischer Verantwortlichkeit, denn „wo es keine Kritik gibt, da gibt es auch keine Verantwortlichkeit“.

Auch in Jugoslawien wird das Problem der Schaffung einer echten politischen Opposition diskutiert. (Vgl. Mihailov: Bekenntnis zu Djil- las, „Forum“, Juni Juli 1966.) Ernst- zunehmender Einbruch in das bisherige Eimparteiendenken ist vorläufig erst bei den beiden größten westeuropäischen Parteien erfolgt: der italienischen und der französischen. Auf der Sitzung des ZK der französischen KP — die bis vor kurzem eine Hochburg des Stalinismus war — übernahmen die Führer des französischen Kommunismus die These ihrer früher arg bekämpften italienischen Genossen, wonach der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus unter Respektierung eines Mehrparteiensystems zu erfolgen habe. So erklärte etwa René Piquet: „Wenn wir sagen, daß die Konstruktion des Sozialismus auf der Grundlage einer Pluralität der Parteien erfolgen muß, dann meinen wir das nicht propagandistisch, sondern wir berücksichtigen dabei die neuen Realitäten. Wir respektieren die anderen Parteien und die Minderheiten.“ In der vom ZK verabschiedeten Resolution heißt es dazu: „Unser Volk kann die Bedingungen eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus schaffen. Aus dieser Perspektive weist unsere Partei den Gedanken zurück, daß die Existenz nur einer einzigen Partei eine obligatorische Voraussetzung dieses Überganges sei.“ Waldeck-Rochet, der Generalsekretär der französischen KP, erklärte dazu, es liege auf der Hand, „daß die Anerkennung einer Mehrzahl demokratischer Parteien ein politisches System mit weitreichenden demokratischen Freiheiten voraussetzt“. Unter den Bedingungen unserer Epoche würde der Übergang zum Sozialismus in Frankreich „zwangsläufig Formen annehmen, die originär und von denen verschieden sein werden, welche 1917 in Rußland und nach dem zweiten Weltkrieg in anderen Ländern in Erscheinung traten“.

Freilich: diese Schwalben machen noch keinen Sommer. Die innerkommunistische Diskussion über den Mehrparteienstaat hat eben erst begonnen, und noch sind alle wichtigen Fragen offen. So vor allem die Frage, wie die Freiheit der Parteien zu garantieren sei, ob das Recht einer Opposition, eines Tages die Regierung zu übernehmen, institutioneil garantiert wird, ob eine freie Presse und freie Wahlen garantiert werden usw. Von alledem ist man noch sehr weit entfernt, ja, es ist überhaupt fraglich, ob echte politische Freiheit mit den kommunistischen Vorstellungen vom Sozialismus vereinbar ist. Aber die beginnende Wandlung im Denken der Kommunisten beweist doch zumindest eines: daß die politische Freiheit ein Wert ist, den auch die Kommunisten langsam als solchen anzuerkennen beginnen müssen und daß ein Dialog mit dem Marxismus, dem es wirklich um die Freiheit und nicht nur um die Verteidigung von Interessen geht, sich lohnt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung