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Menschenstaat und Tierstaat

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In der vergangenen Ära hatte man es von politischer Seite für notwendig gehalten, Nation als etwas unbedingt Verpflichtendes zu definieren. Eine naturgegebene, gleichsam dem mensdilichen Organismus innewohnende Gesetzmäßigkeit bewirke den Zusammenschluß der Menschheit zu Nationen und dränge zu einer bestimmten ethischen Haltung, die für jede Nation eigentümlich'und charakteristisch sei. Die Gebote der politischen Diktatur mußten zugleich Gebote der menschlichen Natur sein, dann konnte man Verstöße gegen das Machtgebot gleichzeitig als Verstöße gegen die eigene Natur, als „Sünden wider das Blut“ brandmarken. Die Nation mußte auf eiiem überindividuellen Dasein, auf einer Art Nationalseele beruhen.

Es handelt sich nun darum, für diese Behauptungen einen naturwissenschaftlich exakten Beweis zu erbringen, und so wandte man sich an die Biologie, und suchte sich hier unter teilweiser Vergewaltigung des Tatsachenmaterials eine Reihe von Argumenten zusammen.- Ein solches Beweisstück lieferte nun einmal das Schlagwort „Zellen-s t a a t“, worunter man den vielzelligen Organismus verstand, dessen organische Gebundenheit man als Vorbild dem Menschenstaat gleichsetzte und somit auch der Nation. Daß hier das Wort Staat in beiden Fällen nur vergleichsweise Anwendung finden darf, liegt ohne weiteres auf der Hand. Weiterhin setzte man stillschweigend voraus, daß ein Tierstaat und der Menschenstaat grundsätzlich dieselben Gemeinschaftsgebilde darstellen sollen. Schon aus der Verschiedenheit der den Staat zusammensetzenden Individuen ist zu erkennen, wie unberechtigt eine solche Gleichsetzung ist. Dennoch hat sie so weitgehend Eingang in unser heutiges Denken gefunden und sich so fest in dem Vorstellungsleben eines Großteils der Allgemeinheit festgesetzt, daß man, wenn man Betrachtungen über Nation und Nationalität anstellt, meist Begriffe in Anwendung bringt, die nur bei Tier-gesellschaften angebracht erscheinen. So weitgehend auch teilweise die unbestreitbaren Übereinstimmungen zwischen Tier- und Men-schenstaat auch sein mögen, so darf nicht ■ übersehen werden, daß beim Menschen eben das geistige Moment gestaltend und formgebend über das rein Tierische, Anlagemäßige hinausgreift und nun erst dasjenige schafft, was wir als Persönlichkeit bezeichnen, auf der letzten Endes auch das menschliche Gemeinschaftswesen beruht. Wenn wir also von einer österreichischen Nation sprechen, so dürfen wir nicht den nationalsozialistischen Tierrassenbegriff übernehmen und mit ihm nun einen gut österreichisch gezimmerten Nationälrassenbegriff konstruieren.

Dem sozialen Tier wie dem Menschen wohnt der Geselligkeitstrieb, der Gemeinschaftstrieb inne. Im Gegensatz dazu gibt es sozial indifferente Tiere, für die sich das Leben in der gleichen Weise abspielt, ob sie mit vielen ihrer Art zusammenleben oder einzeln. Es gibt ausgesprochen asoziale Tiere, die allein leben wollen und sämtliche Artgenossen zu vertreiben suchen. Es gibt aber auch solche, die nur die Gesellschaft ihres Ehepartners suchen, weitere Artgenossen aber nicht dulden wollen. Schließlich gibt es unter den Tieren ausgesprochen sozial veranlagte, die nur dann vollkommen zur Entfaltung kommen, wenn sie mit vielen ihrer Art zusammenleben. Hier bestehen Verständigungsmittel, eine gegenseitige instinktive Hilfsbereitschaft sowie eine Abneigung gegen das Alleinsein. Rein instinktmäßig stimmt der Mensch mit solchen sozialen Tieren überein. Wesentlich hingegen sind die Unterschiede, die zwischen dem sozialen Menschen und dem sozialen Tier und somit auch zwischen der Menschen- und Tiergemeinschaft bestehen. Die Form der sozialen Anpassungen sind beim Tier artgebunden. Eine bestimmte Bienen- oder Ameisenart wird immer und überall,.wo sie vorkommt, die artcharakteristische Form des Zusammenlebens erkennen lassen. Verschiedene Staatsformen bei verschiedenen Arten werden einander um so ähnlicher sein, je näher die betreffenden Arten einander stehen. Sogar die Gestalt des Wohnbaues ist für jede Art charakteristisch. Das geht so weit, daß sogenannte Sklaven bei Ameisen, Tiere, die als Puppen von einer anderen Art geraubt wurden, dann bei ihren „Herren“ die für ihre Art charakteristische Form des Nestbaues zeigen, ohne sie je gelernt zu haben, da sie ihnen im Blute liegt. Selbstverständlich ist eine gewisse Lern- und Anpassungsfähigkeit vorhanden, kann sich aber nur in gewissen, bescheidenen Grenzen auswirken. Jedenfalls sind alle sozialen Einrichtungen blutgebunden. Werden sie in ihrer Entfaltung behindert, so entarten sie und werden krank. Also gerade das, was man vom Menschen aussagte. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten einer sozialen Entwicklung: entweder das Artgebundene, Gesunde, Natürliche, das sich auf einer ganz bestimmten, vorgezeichneten Linie abspielen muß, oder das von dieser Linie Abweichende, Krankhafte, Degenerative. Alles dies auf die menschliche Gesellschaft angewendet, entspricht dem nationalsozialistischen Staatsgedanken, und so ist es verständlich, daß Staat und Nation unter allen Umständen übereinstimmen müßten. Der Gedanke einer Kollektivseele erscheint aber, selbst beim Tierstaat unangebracht. Die sozialen Instinkte ergeben durch das Zusammenwirken der einzelnen Individuen zwar ein harmonisches, aber kein organisch zur Individualität gebundenes Ganzes.

Was nun die Menschengemeinschaft anlangt, so haben wir einmal dieselben instinktmäßigen Voraussetzungen. Während sich aber beim Tier in diesen alles soziale Leben erschöpft und die Instinkte die eigentliche Ursache der Gemeinschaft darstellen, tritt beim Menschen das geistige Moment zu diesen Voraussetzungen hinzu und schafft willensmäßig die Staatsform. Verschiedene rassisch also abstammungsmäßig gleichartige Völker können sich in eine beliebige Anzahl von Staatsgemeinschaften aufspalten, ebenso wie rassisch unterschiedliche Völker sich in einer Gemeinschaft zusammenfinden können. Gemischte Herden von Huftieren oder gemischte Ameisennester können hie nicht als Homologien dienen, da Herden sich mit Staaten nicht vergleichen lassen und gemischte Ameisennester als verbindendes Moment lediglich den einheitlichen „Nestgeruch“ als Ursache haben. Im Men-scKenstaate kann die Staatsform jeweils “geändert werden, wogegen sie im Tierstaate anlagemäßig bedingt ist. Würde eine Tierart von einer Gemeinschaftsform in eine andere übergehen, so hätte sich damit die Tierart grundsätzlich geändert. Es ist also ohne weiteres ersichtlich, daß man das Wort Staat nur per analogiam im Tierreich zur Anwendung bringen darf. Keinesfalls können aus an Tierstaaten gewonnenen Beobachtungen als Aufschlüsse über das Wesen der Menschengemeinschaft betrachtet werden. Noch weniger dürfen wir daher tiermäßige Artgebundenheit des sozialen Lebens beim Menschen voraussetzen. Aus diesem Grunde haben wir uns, wenn wir von Nation sprechen, die Frage vorzulegen, welchem der drei Komponenten, aus denen sich dieser komplexe Begriff zusammensetzt, wir die Hauptbedeutung beimessen wollen. Daß Sprach- und Stammesgemeinschaft nicht zusammenfallen, wurde schon allzu oft erörtert. Sollte ein Staat nur dann Daseinsberechtigung haben, wenn seine Grenzen mit bestimmten Sprachgrenzen zusammenfielen, so wäre zu fragen, welcher Staat wohl stärker seine Daseinsberechtigung unter Beweis gestellt hätte als die vielsprachige Schweiz. Sollte man aber den Staats- und Nationalbegriff unbedingt nach dem Wortsinne „Nation“ definieren wollen, so müßte wieder gefragt werden, ob es wohl einen besseren Österreicher je gegeben hat als Prinz Eugen *oder ob Napoleon nicht als Franzose bezeichnet werden dürfe.

Es sind demnach zwei Momente, adf denen das menschliche Gemeinschaftsleben beruht. Beide Momente sind geistiger Natur. Es ist einmal die gemeinsame Tradition, die Vergangenheit: gemeinsame Schicksale und eine Kette gleichgerichteter Willensentscheide, die die Individuen zu einer Gemeinschaft geistiger Art zusammenfügen — es ist fernerhin der gleichgerichtete Blick auf die Zukunft, das gemeinsame Ziel, dem die einzelnen Menschen entgegenstreben und das somit ein harmonisches Zusammenarbeiten und im weiteren eine harmonische Einigung der an sich verschiedenen Persönlichkeiten bewirkt. Will man in diesem Sinne von Nation sprechen, dann kann schließlich auch von einer österreichischen Nation die Rede sein. Will man Nation hingegen in ihrem ursprünglichen Wortsinn anwenden, dann müßte man zugeben, daß gemeinsame Nationalität nicht die Voraussetzung für eine Lebensgemeinschaft sein muß, wofür gerade unser kleines Österreich ein beredtes Beispie! erbringt.

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