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Millionär in der Sowjetunion

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Gibt es eine neue „Bourgeoisie“ in der Sowjetunion?

Die heutige soziale Struktur der Sowjetunion ist von Stalin geschaffen worden. Bis zum Jahre 1936 teilte das Sowjetgesetz die Bevölkerung in zwei ungleiche Teile. In Staatsbürger und in Personen, die kein Wahlrecht, weder aktives noch passives, besaßen, also vollkommen rechtlos waren. Die Intelligenz, also die Wissenschafter, Techniker, Lehrer, die ganze gebildete Schicht hatte wohl als „Werktätige“ die staatsbürgerlichen Rechte, mußte dem Sowjetstaate dienen, wurde jedoch moralisch und materiell diffamiert. Diese Intelligenz galt als „bour-geoise“ Intelligenz, die nur so lange arbeiten sollte, bis eine neue „proletarische“ Intelligenz herangezogen worden war, die den Geist der kommunistischen Revolution repräsentierte. Die Propaganda beschimpfte die „alte“ Intelligenz. Ihrer Aufnahme in die diktatorisch regierende Partei wurden Schwierigkeiten bereitet, ihre materiellen Wünsche blieben unberücksichtigt. Besonders schlimm war das in der Zeit zwischen 1928 und 1934. Damals gab es eigentlich keinen Handel. Die Bevölkerung wurde durch die sogenannten „geschlossenen Verteilungsstellen“ versorgt. Für jeden einzelnen Beruf gab es solche Verteilungsstellen. Und die Regierung sorgte dafür, daß der Rubel einen ganz verschiedenen Wert hatte, je nachdem, in welcher Tasche er sich befand. Ein und dieselbe Ware hatte verschiedene Preise. Wohl erhielt der Ingenieur einen weit höheren nominellen Lohn ak der gewöhnliche Arbeiter. Doch der Ingenieur zahlte für die Ware in seiner Verteilungsstelle einen um ein Vielfaches höheren Preis als der Arbeiter in der seinen.

Aber noch während die propagandistischen Angriffe gegen die alte Intelligenz andauerten, verschob sich schon unmerklich das materielle Verhältnis. Das gewaltige Industrialisierungsprogramm brachte die Sowjetregierung in ein Abhängigkeitsverhältnis von den Wissenschaftern und Technikern. Die Arbeiter bekamen immer noch alles billiger geliefert. Doch nur das absolut Lebensnotwendige. In den Verteilungsstellen der Intelligenzberufe tauchten immer mehr Waren auf, die eine bessere Lebenshaltung gestatteten. Unmerklich wurde die Intelligenz damit gewonnen. Das war die Geburtsstunde jener Schicht, die man heute die ..neue Bourgeoisie“ nennt. Denn bald darauf führte Stalin eine neue Maßnahme durch. Einige hunderttausend Arbeiter und Bauern wurden in die Werkstätten, wissenschaftlichen Institute. Laboratorien und Behörden entsandt, wo die „alte“ Intelligenz diese Vertreter der „proletarischen“ Schichten anlernen mußten, die auch in Abendkursen weitergebildet wurden. Wir können hier den ganzen Prozeß nicht eingehend schildern. Mit Verschwendung ungeheurer materieller und menschlicher Mittel gelang es dem Regime Stalins sehr schnell, die sogenannte „alte“ Intelligenz in einer gießen Masse der neuen „roten“ Intelligenz aufzulösen. Als dieser Prozeß so ziemlich abgeschlossen war, erschien ein Gesetz, das den weiteren Aufstieg von einem strengen Studium abhängig machte, gleichzeitig wurde die Einheit der „Intelligenz“ verkündet und die Gleichberechtigung aller Bürger vor dem Gesetz. Die bisherige Behandlung der Intelligenz wurde Trotzki und der Opposition in die Schuhe geschoben. Die Propaganda, nach der alle gleich verdienen und leben sollten und der Arbeiter im Vergleich zu den anderen Klassen der Bevölkerung materiell besser gestellt sein müsse, wurde als antimarxistische Ketzerei gebrandmarkt. Stalin verkündete den Grundsatz, „Jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Leistungen“ als die Grundlage der sozialistischen Wirtschaft. Die Verherrlichung körperlicher Arbeit hörte auf. Jetzt wurde geistige, vor allem „schöpferische“ Arbeit als wertvoller angesehen. Die Propaganda verlangte, daß die Intelligenz mit Liebe und Vertrauen umgeben sein muß. Im Grunde genommen handelt es sich hier um ein logisch ausgebautes System des Anreizes zu produktiver Arbeit innerhalb der totalitären Staatswirtschaft. Jedem soll vor Augen geführt werden, daß er durch größere

Leistungen, dadurch, daß er lernt, auch besser leben kann. Eigentlich sollte das durch den Lohn selbst erreicht werden. An Stelle der Verteilung trat der Staatshandel mit seinen Lockungen. Die Preise wurden einheitlich, der Rubel sollte jetzt einen einheitlichen Wert und absolute Gültigkeit haben. Doch die andauernde Mangelwirtschaft erlaubte es nicht, nur durch den Unterschied in der Entlohnung den Lebensstandard des einzelnen zu bestimmen. Man mußte zu einer Reihe von Maßnahmen greifen, die der privilegierten Schichte Ware, Genüsse und Wohnungen sichern. Damals, 1935, wurde auch die Parole: „Fröhlicher und schöner leben“ ausgegeben. Damals wurden die neuen Geschäfte eröffnet, staatliche Modesalons geschaffen, die ersten Modeschauen veranstaltet. Damals fuhr Genossin Jemtschurkinowa, die Gattin Molotows, als Präsidentin des größten staatlichen Parfümerie- und Kosmetik-Trustes nach Amerika, um dort das Neueste auf diesem Gebiet zu studieren. Nach ihrer Rückkehr eröffnete dieser Trust luxuriöse Parfümerie-geschäfte. In Moskau eröffnete der Staat auch einige ganz moderne, mit ausländischen Apparaten ausgestattete Schönbeitssalons. Proletarischer Stil war nicht mehr gefragt. Die Jungkommunisten sollten lernen, Krawatten zu tragen, sich zu pflegen und zu benehmen. Die Armee und die Behörden stellten Lehrer ein, die ihren höheren Beamten Tanzen und Tischmanieren lehrten: An Stelle des „Volksspeisehauses“ traten Restaurants verschiedener Stufen, darunter sehr luxuriöse. In den Kurorten wurden Sanatorien und Erholungshäuser mit allem Komfort gebaut. Alles war jedoch so geordnet, daß man alles, von der Ware bis zum Sanatorium, dem Rang nach zugewiesen bekam. Das Gleichheitsprinzip kehrte sich in ein extremes Ungleichheitssystem um. In den Fabriken gab es damals mindestens viererlei Kantinen. Die Masse der Arbeiter wurde durch ein einfaches Mittagessen verpflegt. Dann gab es eine Kantine für die Angestellten. Hier wurde schon gedeckt, das Menü bestand aus drei Gängen. Einen weiteren Speiseraum hatten die Ingenieure und Akademiker. Schon viel luxuriöser und besseres Essen. Endlich das Speisezimmer der Direktion und der höchsten Funktionäre.

So entstand das äußerliche Bild einer neuen Bourgeoisie mit bürgerlicher Lebenshaltung. Doch dieses Bild täuschte. Gäbe es in der Sowjetunion wirklich eine neue Bourgeoisie, dann hätte man die berechtigte Hoffnung, daß sich das Sowjetregime rasch wandeln würde. Denn eine neue Bourgeoisie müßte ja rasch die wirtschaftliche und politische Struktur des roten Reiches ändern. Doch es ist eben kein neues Bürgertum, sondern, obwohl die Schicht die bürgerlichen Lebensformen annimmt, etwas ganz anderes — eine neue Funktionärsklasse, die im Namen des Staates die Produktionsmittel, die dem Staate gehören, verwaltet. Diese „organisierende Schicht“ ist daher in der Lage, die Güterverteilung zu ihren Gunsten zu regeln. Es ist eine ganz neue Klasse, deren Psychologie sich erst bildet und deren Entwicklung noch nicht vorausgesehen werden kann.

Von außen sieht man in der sowjetischen Oberschicht nur Rangunterschiede. Und doch ist die Sowjetintelligenz noch immer in zwei Teile gespalten - in die alte und in die neue, aus der Revolution stammende. Es ist die neue Intelligenz und die Arbeiteraristokratie, die den kleinbürgerlichen Kitsch und die Mode aus der Zeit vor 1914 bevorzugt. Wenn jemand einen russischen Kommunisten darauf anspräche, daß so plötzlich statt des „proletarischen“ spartanischen Lebensstils offen bürgerlicher Komfort Trumpf geworden sei, erhielte er zur Antwort: „Wir haben die Revolution nicht gemacht, um genau so schlecht zu leben wie unter den Kapitalisten, sondern ebenso gut wie die Kapitalisten.“ Und das erklärt die merkwürdige Erscheinung, daß in der heutigen Sowjetunion die Mode wie vor 1914 herrscht. Man will alles so haben, wie man es bei der „Bourgeoisie“ in Erinnerung hat. Und man kennt ja nur das russische Bürgertum vor 1914. Daher auch die altmodischen Uniformen mit den goldenen Achselstücken - auch die Offiziere und Beamten proletarischer und bäuerlicher Abstammung wollen so aussehen wie „echte“ Offiziere und Beamte, also so wie in der Zeit vor 1914 unter dem Zaren.

Die „alte“ Intelligenz und ihr Nachwuchs, die ist anders. Sie ist es, die jetzt am meisten verdient. Diese Kreise kaufen keine neuen Möbel und Rosenteppiche. Da sie keine ihnen gefallenden Sachen finden, sind sie um mehr als ein Jahrhundert zurückgegangen.

Man kauft alte Möbel aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Damals war Mahagoni das Holz, aus dem die Möbel des Landadels und der wohlhabenden Kaufleute gemacht wurden. Mahagoni ist auch heute sehr gesucht. In den Stuben der Vertreter dieser Schicht stehen alte Mahagonimöbcl, an den Wänden hängen alte Bilder, Aquarelle und Biedermeierminiaturen, die Lampen stammen aus derselben Zeit und überall sieht man die Perlenstickereien, die so charakteristisch für diese Epoche waren.

Die heute befolgte Politik datiert also seit 1935. Sie ist nicht neu.

Am meisten verdienen in der Sowjetunion die Schriftsteller. Das ist bei den russischen Auflagen verständlich. Dann kommen die Künstler aller Art, die Wissenschafter und die Techniker Also alles, was Tantiemen für seine Leistungen bezieht. Diese Berufe stellen auch die etwa 1000 sowjetischen Millionäre. Bis vor kurzem war es nicht so leicht, in der Sowjetunion als „werktätiger“ Millionär zu leben. Ein erfolgreicher Schriftsteller, dessen Bankkonto dank eines viel gespielten Theaterstückes lawinenartig anschwoll, jammerte, daß er nicht wisse, was er mit dem vielen Geld anfangen soll. Er kam auf die Idee, einen größeren Betrag dem Staate zu schenken. Doch davon riet man ihm dringend ab. Ein solches Geschenk würde nur als eine Demonstration der Mißachtung der Sowjetvaluta angesehen werden. Mit den entsprechenden Folgen.

Wie kann nun ein Sowjetmillionär sein Geld ausgeben? Nun. natürlich kann er gut essen und trinken. Der Ankauf von teuren Pelzen und Juwelen stößt schon auf Schwierigkeiten. Der Staat verkauft solche Sachen nur von bescheidener Qualität.

Theoretisch kann ein Sowjetbürger, der eine entsprechende Stellung hat, sein Geld in folgendes investieren: eine Wohnung, ein Auto und höchstens zwei kleine Landhäuser. Eines in der Nähe der Stadt, in welcher er wohnt und eines im Süden, etwa in der Krim, dem Kaukasus oder auch am Baltischen Meer, falls er nicht gerade in Leningrad lebt. Denn beinahe alle Sowjetmillionäre leben in Moskau oder Leningrad. Doch ist es durchaus nicht so einfach, das alles zu kaufen. Zum Erwerb eines Autos ist die Kaufgenehmigung viel wichtiger als das Geld. Und sie ist meistens nicht so einfach zu haben, auch für einen Sowjetmillionär nicht. Noch schwieriger ist es mit der Stadtwohnung und dem Landhaus. Es braucht viel Protektion, viel Laufereien, bis man das hat. Und dann muß man noch lange warten. Ueberhaupt, im Grunde genommen, ist das Geld nebensächlich. Alle Sowjetmillionäre gehören eigentlich nur zur „zweiten“ Gesellschaft in der Sowjetunion.

Die Spitzen der Partei und Regierung, die ganz hohen Generäle und Beamten bilden die ersten. Und man kann auch für gar kein Geld den Eintritt in Sanatorien und Erholungsheime, in Landhäuser und Weekendhotels erreichen, die dieser kleinen Gesellschaftsschicht vorbehalten sind.

So legt der Sowjetmillionär sein Geld meist in Antiquitäten an. Er sammelt alte Möbel, Porzellan, Glas und Silber, Miniaturen und Bilder, oder auch seltene Bücher.

Der Feldzug gegen die veraltete Mode, gegen Geschmacklosigkeit und Kitsch, hat seine tiefere Bedeutung. Denn gleichzeitig hat die Sowjetregierung große Bestellungen auf Konfektion im Ausland getätigt..

Das Ganze zeigt, daß in der Funktionärs-klasse, der sowjetischen Oberschicht, eine psychologische Wandlung vor sich geht. Die Entwicklungsetappe, die unter dem Motto: „Wir wollen alles haben und so leben wie einst unsere Bourgeoisie gelebt hat“, ist beendet.

Die Söhne und Töchter von Arbeitern, die Enkel von Leibeigenen gehen jetzt weiter. Und in dieser Entwicklungsperiode russischer Kultur wendet sich natürlich der Blick nach Westen.

Wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklungsperiode.

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