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Mißglückte Kulturpolitik
Doch hinter dieser Maske verbarg sich der brutale Reichsstatthalter: Am 1. März 1944 wurde der österreichische Widerstandskämpfer Doktor Jakob Kastelic zum Tode verurteilt, der die „Großösterreichische Freiheitsbewegung“ ins Leben gerufen hatte. Zu den Gnadengesuchen der Mutter und der Schwester des Verurteilten schrieb Schirach in einem Begleitschreiben an das Hauptamt für Gnadensachen in Berlin:
„Ich sehe keine Veranlassung, den erbetenen Gnadenerweis zu befürworten, wenn ich mir auch voll bewußt bin, wie schwer durch die Vollstreckung des Urteiles vor allem die 84jährige kranke Mutter des Verurteilten und seine beiden Buben im Alter von fünfeinhalb und dreieinhalb Jahren, die erst im Jänner
1941 ihre Mutter verloren haben, getroffen werden.“
Dr. Kastelic wurde am 2. August 1944 im Wiener Landesgericht geköpft.
Nebenbei versuchte Schirach von Wien aus, sein eigentliches Vorhaben auszuführen, nämlich Kulturpolitik zu betreiben. In einer Rede über das „Wiener Kulturprogramm“ im Burgtheater setzte er den Anfang:
„Meinen Sie nicht auch, daß es besser ist, grundsätzlich alle zu fördern, die ein Recht zur künstlerischen Aussage haben, als durch strenge Anlegung des Maßstabes eines Zeitgeschmacks die Gefahr auf sich zu laden, unter den vielen Unzulänglichen und Halbzulänglichen den einen Überragenden zu unterdrücken?“
Mit diesen vernünftigen ligaan- ken hatte er wieder Pech, denn sie richteten sich direkt gegen Hitlers und Goebbels’ Kulturpolitik. So verscherzte er sich die Gunst seiner letzten Freunde in Berlin. Die Abberufung vom Gauleiteramt drohte. Dazu kam es freilich nicht mehr...
In den letzten Kriegstagen überließ er die gesamte Führung SS-Stellen, tauchte in Tirol unter und stellte sich im August 1945 den Amerikanern (nachdem er einige Zeitlang mit einem gefälschten amerikanischen Ausweis als Übersetzer für die Besatzungstruppen gearbeitet hatte).
Der Nürnberger Gerichtshof verurteilte Schirach am 1. Oktober 1946 zu 20 Jahren Haft. Die Begründung lautete: Als Reichs jugendführer schaltete er nach der Machtübernahme der Nazi durch Gewalt alle anderen Jugendgruppen aus, die mit der Hitlerjugend konkurrierten, und sicherte so eine Nachschubquelle für sämtliche Naziformationen. Als
Gauleiter veranlaßte er die Judendeportation aus Wien, obwohl er wußte, daß die Juden ein jammervolles Ende im Ghetto erwarten würde. Daher schuldig des Ver brechens gegen die Menschlichkeit.
Das offizielle Österreich fand damals diese Strafe zu niedrig. Das Justizministerium der Republik Österreich hatte bereits am
30. Oktober 1945 um Schirachs Auslieferung an österreichische Behörden ersucht und wiederholte acht Tage nach der Urteilsverkündung das Begehren.
Dieses Auslieferungsverfahren schwebt bis heute.
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