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„Mit dem russischen Kaiser immer Frieden halten..

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Am 1. November 1918, als das Chaos des deutsdien Zusammenbruchs bereits begonnen hatte, begrüßten die russischen Blätter damit den Beginn der Weltrevolution. Das allrussische Zentralexekutivkomitee annullierte formell den Vertrag von Brest-Litowsk und sandte eine repräsentative Delegation zum Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte nach Berlin. Den deutschen Linkskräften wurde durch Presse und Rundfunk eine Soforthilfe durch Getreidelieferungen angeboten. Aber die Begeisterung wurde sehr bald gedämpft, als die immer gefestigtere deutsche Regierung sich ablehnend verhielt und auf Lieferungen der Vereinigten Staaten ausdrücklich hinwies. So sah sich Deutschland einer Entscheidung zwischen Ost und West zum Beginn der neuen Epoche gegenüber. Die Sozialdemokratische Partei nahm Wilsons Programm des Friedens auf und erteilte somit der Aufforderung zur Weltrevolution Leninscher Prägung eine Abfuhr, die von welthistorischer Bedeutung sein sollte. Denn die Furcht vor einer deutsch-russischen Zusammenarbeit bestimmte nunmehr in steigendem Maß die Politik des Westens gegenüber den Besiegten. Nicht unbegründet, denn schon am 20. Dezember 1918 klang zum erstenmal bei einer Offiziersversammlung des deutschen GenenjJstabes ein neues Motiv auf, das nunmehr durch Jahrzehnte hindurch die deutsche Außenpolitik bestimmen sollte: General Seeckt sprach in eiskalter Einschätzung der Gegebenheiten davon, das Reich wieder „bündnisfähig" zu machen, und im Mund dieses Soldaten konnte diese Forderung nach einem Bündnis nur mit dem Osten verstanden werden. Im Deutschland des Jahres 1919 führten — so grotesk es klingt, alle diese Wege nach dem Osten. Die Industrie mit ihren Riesenkonzernen befürchtete die Erdrückung durch die amerikanische Konkurrenz. Im Offizierskorps waren die Mahnungen Friedrichs II. nicht vergessen, ebenso wie Wilhelms I. letzte Worte auf dem Totenbett, „mit dem russischen Kaiser immer Frieden zu halten". Die ungefüge und undurchdringliche Sphinx Rußland wirkte faszinierend, obgleich der latente Bürgerkrieg in Deutschland noch Rechts und Links gegeneinander bluten ließ. Hielt man es im Westen für undenkbar, daß zwischen dem Kommunismus, den maßgebenden deutschen Faktoren der Schwerindustrie und der Heeresführung ein Paktieren auf weite Sicht möglich war, so ist durch die jüngste historische Forschung, die sich vor allem auch auf Archivbestände in England und Amerika stützen kann, das Dunkel der deutsch-rassischen Beziehungen wesentlich geklärt worden (Edward Hallett C a r r : ..Berlin-—Moskau", Deutschland und Rußland zwischen den beiden Weltkriegen, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 189 Seiten).

Der Beginn der deutsch-russischen Intimität war nicht allein das Angebot zur Teilnahme an der Weltrevolution, sondern ein wesentlicher Kontakt, der fast wie ein politischer Hintertreppenroman klingt. Als die deutsche Polizei Anfang Februar 1919 den unter der Maske eines österreichischen Kriegsgefangenen in Berlin weilenden Karl R a d e k verhaftete, glaubte sie in diesem prominenten russischen Emissär einen entscheidenden Faktor der inneren Unruhen gefangen zu haben. Eine Haft im Moabiter Gefängnis in schweren Ketten war der Beginn der Mission Radeks. Aber schon im August 1919 nahm er in einem bevorzugten Raum eine Mittelstellung zwischen einem Gefangenen und einem Ehrengast ein, begründete nach seinen eigenen Worten einen „politischen Salon", und durfte von Oktober 1919 an in einer Privatwohnung Empfänge abhalten, bis er Anfang Dezember 1919 unbehelligt nach Moskau zurückkehrte. Aber nicht nur junge begeisterte Kommunisten oder Journalisten wie Maximilian Harden und der Engländer Philips P r i c e gehörten zu den Besuchern. Prominente Türken, darunter der frühere Premierminister Talaat und der Kriegsminister Enver Pascha, holten sich Ratschläge bei dem klugen, kleinen, hinter seinem sonderbaren Bart und den dicken Brillengläsern hervorlugenden russischen Politiker, der aus dem österreichischen Galizien stammte Die Besueherli’Ste verzeichnete noch andere Prominente: Generäle des Reichswehrmini-

steriums und — Walter Rathenau, einst faktischer deutscher Wirtschaftsminister, der ein Angebot der deutschen Industrien und Techniker inmitten philosophischer Gespräche sehr real an den Mann zu bringen wußte. Während noch die deutsche Linke in dem unbeirrbaren Glauben der Weltrevolution verharrte, spannten sich hier Verbindungen, deren Tragweite und Dauer erst später wirksam werden sollten. Radek war vor allem den kühlen Rechnern des Generalstabs, wie Seeckt und seinem politischen Alter ego, Major von Schleicher, im strengsten Reservat einer Privatwohnung begegnet, und Seeckt konnte später in seiner mahnenden Schrift: „Deutschland zwischen Ost und

West", kn Jahre 1933, als Hitler die letzten Bindungen an Rußland einzureißen begann, io selbstgefälligem Stolz und souveräner Verachtung der Politiker und Diplomaten niederschreiben: „Die Anbahnung der Verständigung zwischen Rußland und Deutschland ist durch militärische Hände gegangen." Diese Hände waren die „Sondergrappe R" des Reichswehrministeriums, die Privatabkommen der großen. Konzerne Westdeutschlands, die das Rußlandgeschäft lockte, kurzum die äußerste Rechte, die „Unter den Linden" und im Schützengraben des deutschen Bürgerkrieges jeden Kontakt zu „Links" ver- leugnete. Gab es doch noch neben dem verlockend erscheinenden Zukunftsbild eines deutsch-russischen Bündnisses einen Faktor, welcher der um den Aufbau einer bündnis- fähigen deutschen Wehrmacht besorgten deutschen Generalität besondere Sorgen bereitete. Dies war der polnische Staat: geschaffen aus dem Optimismus der Generäle der Mittelmächte und später der Politiker des Westens, war seine Existenz bis Mai 1920 die Gefahr für die Sowjetunion. Der Rausch des Siegesmarsches gegen Warschau mündete in eine dramatische Niederlage, nicht zuletzt verür- sacht durch den Eingriff französischer Generalstabsoffiziere, die durch Anwendung des klassischen Riposte-Manövers die Armeen unter dem roten Stern zurückschlugen. In diesen Wochen waren die Sympathien der Reichswehrführung auf seiten der rassischen Heersäulen. Der Streik deutscher Hafenarbeiter, ja selbst der Zustrom von freiwilligen deutschen Bataillonen und nicht zuletzt der Kontakt von Stabsoffizieren der beiden Armeen in Soldau auf ostpreußischein Boden kennzeichnet die Einstellung gegenüber Polen. Auf dem allrussischen Sowjetkongreß im Dezember 1920 erörterte Lenin bereits die Frage der sowjetisch- deutschen Beziehungen zum erstenmal in einem anderen Zusammenhang als dem der Weltrevolution. Nachdem er Deutschland das fortgeschrittenste vLand mit Ausnahme Amerikas" genannt hatte, fuhr er fort:

„Dieses Land, das durch den Versailler Vertrag gebunden ist, lebt unter Bedingungen, die es ihm nicht erlauben, zu existieren. Und in dieser Lage wird Deutschland natürlicherweise zu einem Bündnis mit Rußland gedrängt. Als die russischen Armeen sich Warschau näherten, war ganz Deutschland in Gärung. Ein Bündnis mit Rußland war für ein unterdrücktes Land, das die Möglichkeit hat, gigantische Produktionskräfte in Bewegung zu setzen, eine Aussicht, die dazu diente, in Deutschland politische Verwirrung hervorzurufen; die deutschen Schwarzen Hundertschaften marschierten Seite an Seite mit den russischen Bolschewisten und den Spartakisten. Unsere Außenpolitik besteht — solange wir noch allein sind und die kapitalistische Welt stark ist — in dem Zwang, Uneinigkeiten auszunützen. Unsere Existenz hängt erstens von dem Bestehen einer radikalen Spaltung im Lager der imperialistischen Mächte ab, und zweitens von der Tatsache, daß der Sieg der Entente und der Versailler Frieden die große Mehrheit der deutschen Nation in eine Lage geworfen hat, in der sie nicht leben kann die deutsche Bourgeoisregierung haßt die Bolschewisten tödlich, aber die Interessen der internationalen Lage treiben sie gegen ihren Willen zum Frieden mit Rußland.“

So hat Lenin noch vor dem Vertrag von Rapallo deutlich auf die Bereitschaft der Sowjetregierang angespielt, deutschen Schritten weitestgehend entgegenzukommen. Der Weg nach Rapallo wurde erst endgültig geöffnet, als nach dem Zusammenbruch des Aufstandes an der Ruhr im März 1921 die deutsche Revolution und die Weltrevolution keineswegs eintrafen und die gleiche Reiehswehrführang, die bereits mit Moskau ihren Pakt abgeschlossen hatte, rücksichtslos den Aufstand der kommunistischen Arbeiter an Rhein und Ruhr niederwarf. Der Rapallo-Vertrag im April 1922 war die folgerichtige Konsequenz von Entwicklungen, die schon längst angebahnt worden waren, aber im westlichen Lager Empörung und Besorgnis auslösten. Von Rapallo an haben die deutschen Regierungen der Folgezeit den kunstvollen Weg zwischen West und Ost meisterhaft zu beschreiten versucht. Aber immer, auch im Klima des Genfer Völkerbundpalastes, blieb, von gelegentlichen Störungen abgesehen, die realpolitische Interessengemeinschaft bestehen, die selbst Stresemann nach den Entdeckungen von Carr mit Hilfe der Reichswehr aufrechterhielt, obwohl gerade dieser deutsche Reichskanzler so bedingungslos für die Oeffentlichkeit auf die Integration mit dem Westen hinarbeitete. Es ist zu hoffen, daß das in amerikanischer Hand ruhende Stresemann- Archiv hierin bei einer Publikation Klarheit schaffen wird. Polen blieb neben der Furcht vor einer Einkreisung das Bindeglied dieser seltsamen außenpolitischen Ile, und noch bei den Genfer Debatten bei der Abrüstungskonferenz stimmte Reichskanzler Brüning im April 1932 einem Bankett zum zehnjährigen Gedenken von Rapallo zu. In diesen letzten Tagen des deutschen Schicksalsjahres 1932, als der Schatten Hitlers über Deutschland stand, schrieb der durch den Ruhestand zur Untätigkeit gezwungene und verbitterte Generaloberst Seeckt seine berühmte Broschüre: „Deutschland zwischen Ost und West", deren Schlußfolgerung die Prophezeiung war, „daß Deutschland, wenn es Rußland die kalte Schulter zeige, eines Tages Polen an der Oder haben werde."

Hitlers Machtantritt war die Wende der deutschen Beziehungen zu Rußland. Trotz der schärfsten Verfolgungen der KPD bemerkte Molotow auf der Tagung des zentralen Exekutivkomitees im September 1933 noch, daß „die UdSSR keinen Grund habe, ihre Politik gégen-über Deutschland zu ändern", und man vermeinte aus einer Aeußerung Hitlers in seiner Reichstagsrede vom 23. März 1933 über die Trennung der ideologischen und außenpolitischen Bereiche um so mehr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit herauslesen zu können, als Polen durch ein plötzliches militärisches Auftreten im Danziger Hafen nach den Erinnerungen Francois-Poncets und Dirksens damals mit dem Gedanken eines Krieges spielte, dem sich allerdings Frankreich ablehnend zeigte.

Der entscheidende Schlag ließ nicht lange auf sich warten. Schon im Sommer 1933 hatte Hugenberg durch eine Denkschrift auf der Londoner Weltwirtschaftskonferenz die Westmächte zu einem internationalen Mandat der Reorganisation Rußlands aufgefordert. Am 26. Jänner 1934 platzte die Sensation des deutsch-polnischen Bündnisses als Beginn der diplomatischen Ueberraschungen. Damit war die deutsch-russische Freundschaft an ihrem „ewig empfindlichen Punkt" tödlich getroffen worden und die Politik von Rapallo aufgegeben. Hitlers Entscheidung für diesen Frontwechsel ist rätselhaft und umstritten. Sie hat keineswegs den Beifall der führenden Generäle gefunden, aber diese Generäle bestimmten nicht wie einst aus dem Ministeramt Schleichers die Politik, sondern wurden immer mehr und mehr Befehlsempfänger. Wenn dieser Schritt eine-bemerkenswerte Parallele zur Nichterneuerung des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages im Jahre 1890 darstellt, so war er auch ein Vorspiel zur Kriegserklärung von 1941. Denn Hitler versuchte nunmehr seinen Sprung in den Ostraum vielleicht im Bunde mit Polen durchzuführen. Als sich aber 1939 dieser Weg als nicht gangbar erwies, gelang es in wenigen Wochen, nicht zuletzt auf Grund der vorangegangenen historischen Bindungen, im Augustpakt am Vorabend des zweiten Weltkrieges erneut, scheinbar die Bindungen von Rapallo aufzunehmen. Nur waren die Voraussetzungen völlig andere geworden und sollten sich noch mehr verschieben: für Rußland eine Pause gegenüber dem sicher zu erwartenden Angriff und für Hitler die Rückendeckung gegenüber der Generalität, die den Alptraum des Zweifrontenkrieges fürchtete. Aber es standen nicht mehr die Probleme der Nachkriegszeit zur Debatte, sondern der Zusammenprall der europäischen Großmächte, und an der hartnäckigen militärischen Widerstandskraft und Uebeilegenheit der britischen Diplomatie scheiterte das Grundkonzept des Ribben- trop-Paktes, der letzten Endes von beiden Partnern unter der Eventualität eines möglichen Zusammenstoßes abgeschlossen wurde. Die Folge war die gespenstische Erfüllung der Prophezeiung Seeckts: ein vergrößertes Polen nunmehr im russischen Machtbereich an der Oder im Jahre 1945. Welch anderen weltpolitischen Bedingungen stehen nun die Romantiker einer deutsch-russischen Zusammenarbeit, die so gerne die Tradition Seeckts aufgreifen wollen, gegenüber!

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