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Mit der Mauer leben

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DRESDEN, DAS IN JENER HÖLLENNACHT am 13714. Februar 1945 von 2200 britischen und amerikanischen Bombern gnadenlos vernichtet wurde und das dabei im Verlauf weniger Stunden die schwersten Verluste an Menschenleben (300.000) unter allen kriegführenden Städten der Welt (einschließlich Hiroshima) im zweiten Weltkrieg erlitt, bietet dem Besucher heute das Bild einer in großen Teilen wiederaufgebauten Stadt, obwöhl der ehemalige Zauber für immer verloren ist und die neuen genormten Wohnkomplexe kunstlos und einförmig wirken.

Die Straßen sind leer, dunkel und traurig. Da es in Dresden nur eine begrenzte Zahl von Restaurants gibt, sind diese den ganzen Tag überfüllt Die Wohnungsnot ist besonders groß, doch für eventuelle Einwanderer aus der Bundesrepublik stehen neue Wohnungen stets bereit. Die Schaufenster sind zwar mit Waren gefüllt, doch sind es meist qualitativ schlechte Verbrauchsartikel, ohne Geschmack verpackt und ohne allzu große Auswahl angeboten. Luxusartikel sind kaum zu finden, wenn ja, dann außerordentlich teuer. In den Spezialgeschäften, den „Intershops”, in den Ausländerhotels in Ost-Berlin, Leipzig, Dresden, Karl- Marx-Stadt (Chemnitz) und anderen DDR-Großstädten, werden aus dem Westen importierte Waren angeboten. Jedoch kann man dort nur mit harter Westwährung Einkäufe tätigen.

FÜR OSTEUROPA IST DIE DDR, zumindest wirtschaftlich, eine große Attraktion — ein Land, in dem der Lebensstandard höher ist als in allen anderen kommunistischen Ländern. Das Durchschnittsmonatseinkommen in der Zone beträgt etwa 600 bis 700 Ostmark.

Intellektuelle verdienen in der Zone viel besser als ihre osteuropäischen Kollegen. Wissenschaftler und gut eingeführte Privatärzte können mehr als 5000 Ostmark im Monat verdienen. Außerdem sind in der DDR, zum Unterschied von den anderen kommunistischen Ländern, viele Privatgeschäfte, wie Fleischhauerei, Friseure, Eisenwarenhändler bisher noch nicht verstaatlicht worden. Sie sind also kleine selbständige „Kapitalisten” in einem kommunistischen Staat geblieben. Die Statistiken zeigen, daß jede zwölfte Zonenfamdlie ein Auto, jede fünfte einen Kühlschrank, jede vierte eine Waschmaschine und jede zweite einen Fernsehapparat besitzt.

Walter Ulbricht hat mit dem „neuen ökonomischen System der Planung und Leitung (NOSPL)” versucht, den Lebensstandard der Zonenbevölkerung erheblich zu verbessern, um die Verbitterung dem Regime gegenüber zu neutralisieren.

Dieses System der marktwirtschaftlichen Lockerung war erfolgreich und konnte die politische Schlappe der Berliner Mauer wieder wettmachen. Es wurde von den „sozialistischen Bruderstaaten” des Sowjetblocks ganz oder teilweise kopiert.

Trotz ihrer kleinen Bevölkerungszahl (nur noch 17 Millionen) ist dei DDR dank ihren großen Anstrengungen gelungen, zum achten Rang unter den Industrieländern der Welt aufzusteigen. Der Wert der Industrieproduktion stieg im Durchschnitt Jahr für Jahr um fast zehn Prozent. Schiffbau- und elektronische Industrien haben einen besonders merklichen Aufschwung genommen, verzeichnen sie doch eine Produktionsausweitung von 14 bis 18 Prozent.

Die hochwertigen Erzeugnisse, die der westlichen Produktion kaum nachstehen, werden allerdings fast ausschließlich für die Ausfuhr hergestellt und nur in begrenztem Maße für den heimischen Gebrauch gefertigt. Dies ist eine der Hauptursachen für die Unzufriedenheit in der DDR. Es ist also kein unbilliges Verlangen, daß deren Bürger nun, bald 25 Jahre nach Gründung der DDR auch die Früchte ihrer Arbeit genießen wollen.

Dieser vergleichsweise hohe und allmählich steigende Lebensstandard der Zonendeutschen hat an ihrer grundsätzlichen antikommunist.i- schen Einstellung nichts geändert, den sie messen die Bedingungen ihres Lebens nicht an den Verhältnissen anderer kommunistischer Länder, sondern stets an denen der Bundesrepublik. Zahlreiche Zonendeutsche haben Angehörige in Westdeutschland, und viele waren schon einmal oder mehrmals zu Besuch in der Bundesrepublik beziehungsweise West-Berlin, bevor die Berliner Mauer errichtet wurde. Dies bildet einen verstärkten Anreiz für die Zonenbewohner, sich um „drüben” zu kümmern. Träger dieser Verbundenheit ist das Fernsehen. Die DDR-Femsehgeräte haben zwar nur einen Empfangskanal, aber Bastler bauen für sich und ihre Freunde einen zweiten Kanal ein, damit sie westdeutsche Fernsehsendungen empfangen können.

Unerreichbar und doch stets gegenwärtig ist der Wohlstand, dessen Abglanz allabendlich zur Reklamezeit des westdeutschen Fernsehens in die Wohnstuben der Zonenbewohner fällt.

DIE ZONENBEWOHNER HABEN SEIT DEM BAU der Berliner Mauer resignierend eingesehen, daß sie wohl oder übel mit „ihr” leben müssen. „Die Mauer wird mindestens noch 20 Jahre weiterstehen”, sagten viele Zonendeutsche deprimiert.

Sie mucken nicht mehr auf gegen das Regime, sie nehmen es einfach hin. Nach dem mißlungenen Aufstand vom 17. Juni 1953 und seit dem Bau der Berliner Mauer hat der bald zweieinhalb Jahrzehnte währende Prozeß der Gewöhnung die Zonendeutschen dazu geführt, mit dem Regime einen Burgfrieden auf der Basis gegenseitiger mißtrauischer Duldung zu schließen. Die Berliner Mauer hat somit eine „positive” Wirkung erzielt: sie hat zur Beschleunigung des wirtschaftlichen Aufschwungs der DDR merklich beigetragen, denn diese Einsperrung hat den Zonendeutschen gezwungen, fleißiger zu arbeiten, um besser leben zu können.

Eine 21jährige meinte: „Was sollen wir tun? Wir können uns nicht zur Wehr setzen. Da bei uns einer vor dem anderen Angst hat, können wir uns nie zusammentun. Was macht Mut dagegen? Ihr macht überhaupt nichts und sprecht ,nur aushaletn, nur aushalten4. Ja, wie lange sollen wir denn noch aushalten? Wir halten schon Jahre aus, und es hat sich nichts geändert. Ihr könnt da drüben nur quatschen, aber fertig bringt ihr nichts. Aber das alles wollt ihr da drüben ja nicht wahrhaben. Ihr seid ja alle was Besseres als wir!”

Eine 35jährige Hotelempfangsdame, Flüchtling aus Oberschlesien, seufzte voll Pessimismus, die Wiedervereinigung Deutschlands werde vielleicht nie kommen oder allenfalls wäre sie höchstens nur durch einen Krieg möglich. Zur Zeit der Kuba-Krise im Oktober 1962 hätten viele Zonendeutsche einen Befreiungskrieg erwartet: „Jetzt geht’s los!” Auf meine Frage, warum nicht ihre Familie vor Errichtung der Berliner Mauer in die Bundesrepublik geflohen sei, antwortete sie: „Mutter ist zu müde geworden, um die Heimat zum zweitenmal zu wechseln.”

„WIR SIND MÜDE — müde der Propaganda, müde einer neuerlichen Umsiedlung, zu müde für alles”, fuhr sie fort. „Wir leben hoffnungslos von Tag zu Tag. Was nützt uns ein Volksaufstand? Wir versuchten ihn schon einmal am 17. Juni 1953 umsonst, und Teilnehmer des Aufstandes sitzen heute noch immer in Bautzen…”

Ein Ingenieur, der 1300 Ostmark im Monat verdient, erzählte mir von seinen Erlebnissen in China. Er war 1958 vier Monate in Peking, und die Chinesen rieten ihm eindringlich, Chinesisch zu lernen, „weil er diese Sprache in Zukunft brauchen werde.” „Die Chinesen sind arrogante Menschen”, sagte er. Wiederholt gaben sie ihm zu verstehen: „Wir sind die größte Nation der Erde, und die Welt wird eines Tages unter unserer Führung leben!” Das war 1958.

Dieser Ingenieur ist fest davon überzeugt, daß die einzige Hoffnung auf eine Wiedervereinigung Deutschlands sowie auf einen Abbau des Eisernen Vorhangs in Europa in der „Kampfstimmung” zwischen Moskau und Peking liege. Er glaubt, daß ein Krieg zwischen den zwei kommunistischen Giganten unvermeidlich sei. Eines nicht allzu fernen Tages würden die Sowjetmachthaber die dringende Notwendigkeit des Aufbaues einer „gemeinsamen Front” aller Weißen gegen die täglich wachsende chinesische Gefahr einsehen.

RESIGNATION IST DIE GRUNDSTIMMUNG unter den Zonendeutschen. Sie haben die Hoffnung auf eine baldige Beseitigung der Berliner Mauer verloren: von innen her kann das Zonenregime nicht abgeschüttelt werden, nicht einmal durch eine Palastrevolution von oben in Ost-Berlin. Nur eine weltpolitische Entwicklung kann eine Änderung bringen. „Wir unsererseits können gar nichts unternehmen. Wir sind dazu leider nicht stark genug, und mit dem Kopf durch die Wand kann man nicht. Das alles lohnt sich nicht. Aber bitte vergessen Sie uns nicht!” waren Worte, die ich zum Abschied zu hören bekam.

„Sind Sie kein Magier? Könnten Sie uns nicht in Liliputaner verwandeln, in ihre Tasche hineinlegen und nach dem Westen mitnehmen?” Ausdruck jener Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit, die die Deutschen jenseits von Mauer und Stacheldraht erfaßt haben. Menschen, die zu müde geworden sind, um an die baldige Beseitigung der Berliner Mauer, an die baldige Wiedervereinigung Deutschlands zu glauben.

Aber wer im Westen weint über die Spaltung Deutschlands? Nur jene Westdeutschen, die in der Zone Verwandte haben, besuchen die DDR. „Die anderen kommen nicht, obwohl sie dürfen”, sagten viele Zonendeutsche. Für viele Bundesdeutschen scheint die DDR ein fernes Land — eine andere Welt geworden zu sein.

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