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Mütter, Moral, Demagogie

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Der amerikanische Wahlkampf windet sich qualvoll, seinem Ende entgegen. Die Länge des Wahlkampfes, die seit der Entwicklung moderner Verkehrsmittel ihren Sinn verloren hat, hat ein einziges Gutes. Sie stellt die Amtsbewerber vor die Wahl, entweder auf ihre allerletzten geistigen Reserven zurückzugreifen, um das Interesse der Wähler nicht erlahmen zu lassen, oder die Geringfügigkeit der Reserven zu offenbaren. Aus diesem Grund hat sich schon so mancher zu Anfang seiner Wahlkampagne dem Weißen Haus näher gesehen, als zu ihrem Ende. Die Kehrseite der Medaille ist Jedoch Niveaulosigkeit, sowie der ab stoßende Versuch, die Amtsinhaber mit Jauche aus dem Amt zu schwemmen.

So auch diesmal! Zu Anfang jener weltbewegenden Woche, in der Chruschtschows Fall, Maos Atombombe, und Jenkins Vergehen beinahe zu derselben Zeit stattfanden, war dem Herausforderer der Atem ausgegangen. Nachdem er auf keinem Sektor der weitgesteckten Front einen Erfolg erzielte, nahm die Zahl seiner Anhänger ständig ab. In seiner Verzweiflung konzentrierte er sich auf die einzige Frage, in der er noch Erfolgsmöglichkeiten witterte, nämlich die der Verantwortung für den Niedergang der öffentlichen Moral.

Moral und Politik

Dieser Niedergang, der ein Kennzeichen der gesamten westlichen Welt ist, wurde ausschließlich dem Weißen Haus zur Last gelegt. Eine, unter dem kitschigen Namen „Mothers for Morality“ (Mütter für die Moral) ad hoc organisierte Gruppe von Goldwater-Anhängerin- nen wandte 100.000 Dollar für einen Film auf, der mit unzüchtigen Nackt photos drastisch den Sittenverfall Amerikas zeigen sollte. Bilder einer schwarzen Limousine, aus der in rascher Fahrt Bierdosen herausflogen, wurden reichlich eingestreut. Der Präsident soll nämlich einmal auf texanischen Landstraßen in schnellem Tempo eine Hand am Steuer und in der anderen eine Dose Bier gehabt haben.

Senator Goldwater untersagte schließlich die Vorführung des Filmes, weil er erkannte, daß dieser zu einem Bumerang werden konnte. Gleichzeitig zog er aus dem Verbot dep Nutzen, daß seine Pose eines fairen Gegners bestätigt wurde. Als der Jenkins-Fall auf flog, posierte der Senator noch mehr. „Ich lehne es ab, darüber zu sprechen“, erklärte er nobel. Wahrscheinlich aus der Wirkung seines persönlichen Charismas heraus, war es dem Senator nämlich bisher möglich gewesen, seinen Gegner schlecht zu machen, dann treuherzig zu versichern, er würde nie etwas Schlechtes über ihn sagen, ohne verlacht zu werden. Allerdings mehren sich jetzt die Kritiken an seiner Auffassung von Moral in der Theorie und in der Praxis.

Sie zeigt sich auch im Jenkins-Fall drastisch. Er überläßt es seinen Anhängern, „darüber zu sprechen“. „Er selbst redet über Billy Sol Estes, Bobby Baker und den Rest der merkwürdigen Käuze, die Johnson um sich versammelt hat“, pausiert, und ein Sprechchor erdröhnt „Und Walter Jenkins“. Der Senator findet nichts dabei, wenn er fragt: „Würden Sie einen Gebrauchtwagen von Lyndon Johnson kaufen?“ Auch mit der Behauptung „Der Mann im Weißen Haus steht fest und unverfroren auf der Seite der Lüge und der Vertuschung“, meint er, er habe nichts Schlechtes gesagt.

In einer Wählerbefragung vor der ereignisreichen Woche waren 74 Prozent mit Johnsons NATO-Politik, 71 Prozent mit seiner Kuba-Politik einverstanden, wogegen nur 56 Prozent die Politik in Vietnam billigten. Ein Debakel dort noch vor den Wahlen würde also Goldwater Auftrieb geben.Weiterhin könnte dieser von dem Regierungswechsel in Moskau profitieren, weil er immer behauptet hat, der russisch-chinesische Bruch sei nicht von Dauer. Wenn sich dafür Anzeichen ergäben, würde das die Wähler mehr beeindrucken, als die Tatsache, daß die Prognose von falschen Voraussetzungen ausging. Seine ideologischen Scheuklappen machen den Senator gegen geopoli- tische und sozialpolitische Gegebenheiten blind.

Goldwaters Hüftschuß

Am meisten verschreckt Goldwater die Wähler mit seinen Anschauungen über die Atombombe. Es bestärkte sie in ihrer Furcht, daß er, bevor er in der Moralfrage auf Gold stieß, zur Verzweiflung seiner Ratgeber, von diesem Thema nicht lassen konnte. Überhaupt meinen 86 Prozent der Befragten, Johnson habe die Verteidigung in gutem Stand gehalten. Seitdem hat sein Gegner jedoch in seinen Angriffen auf Verteidigungsminister McNamara unerwartete Schützenhilfe erhalten. Ein von den Demokraten beherrschter Unterausschuß des Kongresses hat den Minister beschuldigt, er habe „Programme, die für die nationale Sicherheit wesentlich seien“ aus budgetären Rüdesichten gekürzt.

Auch in einem anderen Abschnitt der Wahlfront ist die Position des Senators sehr schwach, im Wahlfahrtsabschnitt. Zwar hegen die Wähler keinen Wunsch nach einem Ausbau der Wohlfahrtseinrichtungen, aber sie wollen die bestehenden nicht opfern. Ihr Kernstück ist „social security“ (Sozialfürsorge). Zu Anfang des Wahlfeldzuges wollte Goldwater das System auf eine freiwillige Basis stellen. „Wer es haben will, kann es haben. Wer es nicht will, braucht nicht dafür bezahlen“, war seine gimpelfängerische Parole. Die Fachleute, aus welcher Partei sie auch herkommen, sind sich darüber einig, daß ein Verlust von nur 15 Prozent der Versicherten unter 30 zu einem Bankrott des Systems spätestens 1988 führen würde. Inzwischen hat sich der Senator auf die Absicht dringend nötiger Reformen beschränkt. Aber, weil er damals einfach von der Hüfte schoß, kann er jetzt die Wähler nicht überzeugen.

Auch in der Rassenfrage scheint der Senator nicht in dem erwarteten Maße von dem „white backlash“ (dem Widerstand gegen die allzuschnelle Gleichberechtigung der Farbigen) profitiert zu haben. Dabei sind Anzeichen für den backlash überall zu finden. Die Feindseligkeit der italienischen Wähler in New York gegen Robert Kennedy geht zum großen Teil darauf zurück. In Kalifornien hat die sogenannte Rumford-Vorlage, die jedes Verbot der Rassendiskriminierung im Immobilienhandel für gesetzwidrig erklären will, gute Aussichten in einem Plebiszit angenommen zu werden. Der Präsident versuchte lange, eine Erörterung dieser Frage zu vermeiden. Er stellte sich ihr jedoch vor kurzem, noch dazu im Süden, und fand sogar Beifall für seine Hoffnung auf ein besseres Einvernehmen zwischen den Rassen.

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