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Muster der Demokratie

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Wer in der Londoner Presse unlängst die Budgetdebatten des britischen Parlamentes verfolgte, wird nicht ohne ein Gefühl der Bewunderung und zugleich des Neides, das trotz allen physisdien und seelischen Erschütterungen des letzten Jahrzehntes 1 unverändert hohe und sachliche Niveau habe feststellen können, auf dem sich auch die Kritik der Opposition bewegt hat. Dabei handelt es sich überdies um Probleme, die im gegenwärtigen Zeitpunkt als die Lehensfragen Großbritanniens angesehen werden müssen: um den bis auf 325 Millionen Pfund verbrauchten amerikanischen Milliardcnkrcdit, um das Passivum der Zahlungsbilanz, das die Höhe von 700 Millionen Pfund im Jahr zu erreichen droht, die Belastung des englischen Budgets mit 175 Millionen Pfund an Besatzungskosten in Deutschland und in anderen Ländern, um die ungenügende Kohlenförderung usw. Um so mehr mußte der ruhige und maßvolle Ton der umfassenden Kritik auffallen, die im Oberhaus der zur Opposition gehörende Lord Brand, Vertreter des britischen Schatzamtes in Washington während des Krieges und anerkannter Bankmann, geübt hat. Es loh it sich, den Gedankengang dieser, an klassische Vorbilder in der britischen Parlamentsgeschidite gemahnenden rednerischen Hochleistung nachzuskizieren und daraus zu lernen, wie prächtig sich in einer organisch gewachsenen Demokratie schärfste, sachliche Kritik mit Achtung vor dem Gegner und Einhaltung vornehmer Spielregeln verträgt! Die Rede ist für uns noch aus dem Grunde besonders interessant, da sie Themen anschlägt und Erscheinungen beleuchtet, die mit unseren aktuellen wirtschaftlichen und finanziellen Problemen gewisse Analogien aufweisen.

Lord Brand entwickelte folgende Gedankengänge: Die heurige Handelsbilanz der Vereinigten Königreiche dürfte ein Defizit von 450 Millionen Pfund aufweisen. Dieses sei das Ergebnis des übermäßigen Importdranges und der beträchtlichen Preissteigerungen im Ausland, in erster Linie auf dem Ernährungssektor. Die erhöhten amerikanischen Preise haben allein 28 Prozent der Dollaranleihe aufgezehrt. Die landwirtschaftliche Produktion des Inselreiches habe sich zwar im Kriege erfreulich gehoben, befriedige den Bedarf jedoch nur zu einem geringen Teil. Interessantervfeise hat ungefähr zur gleichen Zeit der britische Finanzminister in einer öffentlichen Versammlung den vorjährigen Beitrag der heimischen Landwirtschaft zur Deckung des Lebensmittelbedarfes Englands in Prozenten bekanntgegeben — auch hierin wird sich eine gewisse Parallele mit den österreichischen Verhältnissen erkennen lassen. Die heimische Produktion Englands vermochte zu decken: 25 Prozent des Bedarfes an Brotgetreide, 12 Prozent an Käse, 7 Prozent an Butter, 27 Prozent an Zucker, 36 Prozent an Speck, 44 Prozent an Frischfleisch; der Abgang mußte aus Überseeeinfuhren gedeckt werden. Diesem Defizit könne England nicht durch Steigerung des Exportes allein steuern; der unsichtbare Export lasse sich freilich noch, besonders auf dem Sektor der Seefrachten, steigern. Es komme daher auf eine einschneidende Eindämmung der Einfuhr, in erster Linie an Lebensmitteln, bis zu der untersten, tragbaren Grenze an. Das Budget müsse andererseits unbedingt ins Glqichgewidit gebracht werden. England sei bald am Ende seiner Anleihereserven angelangt. Sobald diese erschöpft wären, würden sich Schwierigkeiten aller Art und eine bedenkliche Arbeitslosigkeit einstellen. Es wäre ein schwerer Fehler, sich der Hoffnung hinzugeben, daß England jemals wieder eine gleichwertige Anleihe in den Vereinigten Staaten aufnehmen könnte; diese war einmalig und auf die besondere Notlage nach Kriegsende zugeschnitten. Von nun ab werde Großbritannien gleich allen anderen Ländern um eine neue Anleihe „Schlange stehen“ müssen. Es sei noch äußerst fraglich, ob der amerikanische Kongreß der großzügigen europäischen Stützungsaktion Mr. Marshalls früher zustimmen werde, als für Großbritannien der kritische Augenblick eintrete. England leide, wie viel Länder, an einem Überhang von Kaufkraft, die Taschen seien mit Geld gefüllt, aber es fehle an kaufbaren Gütern. Das Volk er-, warte zu viel von der Regierung und verlasse sich in allem auf sie. Die Regierung sei ohne Zweifel in einer schwierigen Lage. „Ich spreche“, rief der Redner, „nicht als Politiker, sondern als Wirtschaftsmann, wenn ich feststelle, daß die sozialistisdie Doktrin sich stets nur mit der Verteilung der Reiditümer befaßt hat und nicht mit der Schaffung von Gütern. Die Verteilung der Reichtümer ist nun durdi eine Reihe von Jahren als universelles Heilmittel gelehrt worden. Jetzt sind wir aber am Ende der Verteilung angelangt. Die einzige Möglichkeit einer Heilung liegt ausschließlich in der gesteigerten Schaffung von Gütern.“ England werde seine Probleme lösen, wie jedes Volk. Sicher sei aber, daß England nicht auf Kosten anderer Länder leben könne. Es müsse sich daher zu beträchtlichen und opfervollen Besdineidungen seiner Einfuhren entschließen, auf jede Weise seine Anstrengungen noch anspannen und den internationalen Handel fördern, dem der MarshalLlPlan hoffentlich einen kräftigen Impuls verleihen werde. „Niemand kann uns sagen“, sdiioß Lord Brand, „wie sich d,ese schwierige Situation entwickeln wird. Wenn aber der Ernst der Verhältnisse es erheischen sollte, daß wir, wie einst im Krieg, als eine einige Nation handeln müssen, würden wir ohne Zweifel Mittel und Wege dazu finden.“

Schöne Worte? — Nein, eine einzelne Stimme, die nüchtern die unerschütterliche Überzeugung der geschlossenen Gesamtheit eines großen Volkes zum Ausdruck bringt. Man könnte nur wünschen, auch hierin eine leise Analogie mit unseren heimischen Ver hältnissen feststellen zu können.

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