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NA TO ist für uns wichtiger als EU

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dieFurche: Welche Forstellung hat Präsident Havel von Europa?. Ivan MedeK: Er ist überzeugt, daß Europa heute die einmalige Chance hat, trotz verschiedener Nationen, ethnischer Gruppen und Gebiete, eine Einheit zu bilden, in der die Einzelteile gleichberechtigt sind. Wenn dies gelingt, wird sich die künftige europäische Geschichte von jener, die wir kennen, grundsätzlich unterscheiden. Die bisherigen Versuche, Europa zu einen - Römer, Habsburger, Spanier, Franzosen, Deutsche -, waren nur machtpolitisch bestimmt. Erst heute haben wir die Möglichkeit, eine gleichberechtigte Gemeinschaft europäischer Nationen zu bilden. Dafür steht Havel.

diefurche: Wenn man plakativ spricht, dann kennzeichnet den Westen eine Einheitstendenz, im Osten kocht jeder noch sein eigenes Süppchen Schauen wir nur nach Südslawien Ivan medek: Präsident Havel führt regelmäßige Gesprächemit allen seinen Nachbarn, die man nach Li-tomysl, dem Ort des ersten derartigen Treffens, benannt hat. Dabei erörtert er diese Frage. Er ist der Meinung, daß ein EU-Beitritt grundsätzlich von den innenpolitischen Bedingungen, dem Stand der Vorbereitungen des jeweiligen Staates abhängt.

diefurche: Zehn osteuropäische Staaten wollen in die EU. Ist das zu verkraften?

Ivan medek: Wir sind uns bewußt, daß das keine einfache Sache ist und viele Probleme mit sich bringt. Wir werden uns aber mit ihnen befassen.

dieFurche: Theoretisch ist das viel einfacher als praktisch-politisch Ivan medek: Das weiß ich genau. Ich glaube aber, daß es nicht nur unsere Ansicht ist, daß sich auch Europa selbst ein bißchen ändern muß. Bei den Vereinigten Staaten von Europa handelt es sich nicht nur um Brüssel.

dieFurche-, Ist das auch die Meinung von Präsident Havel3 IVAN medek: Er wird zu dieser praktischen und theoretischen Frage am 15. Mai in Aachen eine große Rede halten. Havel ist ein Demokrat. Er glaubt, daß jedes Land seinen eigenen Weg nach Europa finden muß. Es geht um keinen Wettbewerb, nicht darum, daß man der erste ist. Es geht um Beiträge, die die verschiedenen Länder für Europa leisten sollen.

diefurche: Soll Europa ein Bundesstaat oder ein Staatenbund werden3 Ivan medek: Vielleicht könnte man sagen: eine Gemeinschaft von Staaten. Es gibt keine andere Möglichkeit. Natürlich muß es mehr sein als Brüssel, auch im praktischen Sinn.

diefurche: Zum Beispiel3 ivan medek: Was die Wirtschaft betrifft, so bin ich der Meinung, man sollte eher von verschiedenen Vereinbarungen ausgehen als von Anordnungen und Begeln. Es ist auch meine persönliche Überzeugung, daß Europa wirtschaftlich und sozial vielfäl-

Ivan Medek faßt alle

Berichte zusammen, die Präsident Havel zur Entscheidungsfindung heranzieht. Er weiß am besten, wie der Präsident denkt.

tig bleiben wird, daß es immer Unterschiede wie beispielsweise zwischen Schweden und Portugal geben wird. Hier gelten die gleichen Prinzipien wie in einer Familie. Die Rei-chen haben die Pflicht, sich um Arme zu kümmern. Die Starken müssen die Schwachen verteidigen. Aber es ist nicht möglich zu glauben, daß alle gleich reich oder stark sein werden.

dieFurche: Der Bevölkerung eines Nettozahlerlandes wie Osterreich ist das schwer beizubringen Ivan Medek: Ich sehe und verstehe dieses Problem. Aber das ist das gleiche wie zu fragen, warum ich mich um meine Großmutter kümmern soll, die arm geworden ist.

DIEFURCHE: Für Osteuropa, hat man den Eindruck, sind EU und NATO so etwas wie Zauberworte: Ist man erst einmal drinnen, wird wirtschaftlich alles rosig oder bricht der ewige Friede aus. Sieht sich Osteuropa denn nur als Empfangender?

IVAN MEDEK: Es geht hier um den Informationsstand der Bevölkerung. Je besser sie informniert ist, desto besser kann sie sich vorstellen, was eine EU-oder NATO-Mitgliedschaft mit sich bringt. Wie in jeder demokratischen Gesellschaft besteht auch hier die Gefahr, daß man Informationen vielschichtig auslegen und mißbrauchen kann. Schauen Sie nur in Ihr eigenes Land: Man kann mit wahrhaftigen Informationen über die EU die Bevölkerung einerseits positiv stimmen, sie andererseits, wie dies Jörg Haider macht, mit den gleichen Argumenten einschüchtern.

diefurche: Gibt es in Tschechien so etwas wie eine Europa-Begeisterung? IVAN medek.: Die absolute Mehrheit der tschechischen Bevölkerung ist sicherlich für den EU-Beitritt. Dagegen sind nur Badikale rechts und links. Gewisse Zweifel hegen die Sozialdemokraten, die aber grundsätzlich auch dafür sind. Würde jetzt ein Referendum stattfinden, das nach der Verfassung möglich, aber nicht notwendig ist, bekämen wir eine absolute Mehrheit für den EU-Beitritt.

diefurche: Warum drängt Tschechi-

en so sehr in die NATO? Ivan Medek: Das ist eine gute Frage. Für uns ist die NATO heutzutage wahrscheinlich wichtiger als die EU. Das hat etwas mit unseren historischen Erfahrungen zu tun. Neutralität ist aufgrund unserer geopoliti-schen Lage unmöglich und undenkbar. Sie würde auch eine negative Haltung unsererseits zum europäischen Sicherheitssystem signalisieren, so als ob uns die europäische Sicherheit egal wäre. Wenn wir in die NATO aufgenommen werden, wollen wir uns von ihr nicht nur beschützen lassen, sondern auch unsere Beiträge leisten. Das ist eine der wichtigsten Fragen in bezug auf die Mitverantwortlichkeit für Europa und in breiterem Sinne auch für die Welt.

dieFurche: Und Rußland3 Ivan Medek: Wir sind unabhängig davon. Von Rußland aus wird kein Druck ausgeübt, außer mit Worten.

diefurche: Zum Ferhältnis Österreich- Tschechien- Das Atomkraftwerk Temelin ist nach wie vor Streitthema. Ivan Medek: Das ist aber kein Präsidententhema. Er kann da nicht sehr viel tun.

diefurche: Ein Präsident, der als moralische Instanz so hochangesehen ist wie Havel, müßte doch hier seine Stimme erheben?

Ivan medek: Ich selbst glaube, daß die Frage von Atomkraftwerken nicht nur oder nicht hauptsächlich eine moralische, sondern eine Fachfrage ist.

diefurche: Die Beziehungen zu Deutschland trübt noch immer die Fertriebenen-Frage. Ivan medek: Es ist uns sehr willkommen, daß an einer gemeinsamen Erklärung zu dieser Frage die Fachleute hinter verschlossenen Türen arbeiten. Nach dieser Erklärung, auf die beide Seiten Einfluß nehmen wollen, werden auch die verschiedenen propagandistischen Aussagen sowohl von Seiten der Deutschen wie auch der Tschechen fallen.

dieFurche: Es geht hier doch um handfeste Probleme: Zurückgabe des Eigentums und Entschuldigung. Ivan Medek: In jeder Gesellschaft ist es schwierig zu beurteilen, wieweit man gehen kann, wenn man sich für Sachen entschuldigt, die die eigenen Vorfahren begangen haben und wieweit man in die Geschichte zurückgehen soll. Mit Ausnahme von ein paar hundert Leuten haben die zehn Millionen heutigen Tschechen nie einem Deutschen etAvas zuleide getan, umgekehrt auch nicht die 80 Millionen jetzigen Deutschen den Tschechen -mit Ausnahme von ein paar hundert in der Vergangenheit. Es gibt keine Schuld der Nation, es ist immer die Schuld konkreter Leute in einer konkreten historischen Zeit. Ich glaube, je erwachsener die europäische Gesellschaft wird, desto einfacher werden wir über solche Sachen hinwegkommen.

sprach Franz Gansrigier.

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