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Nach 21 Jahren Illusionen

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Vor mehr als 19 Jahren, am 10. Dezember 1948, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die „Universale Deklaration der Menschenrechte“ einstimmig angenommen, die von der UNO als ein „historisches Dokument“ proklamiert wurde. Demnach sollte die reibungslose Ausführung und ein gemeinsamer Leistungsstandard für alle Völker und Individuen sowie Gesellschaftsorgane ohne nationale, rassische und religiöse Unterschiede geschaffen werden, damit die Grundrechte des Menschen: Politische Rechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Bewegungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie Freiheit der Arbeit gesichert und garantiert werden.

Was das Baltikum anbelangt, ist man heute weiter davon entfernt denn je zuvor.

Estland, Lettland und Litauen, die im Jahre 1940 von den Sowjettruppen okkupiert und annektiert wurden, sind derzeit praktisch drei von den 15 Republiken der Sowjetunion. Seither ist in den Baltenländern der bekannte sowjetische Wahlprozeß obligatorisch. Die Balten können, wenn ein Sitz oder Posten vakant wird, nur einen einzigen Kandidaten „wählen“. Besonders mutige Leute können höchstens ein „Njet“ auf den Zettel kritzeln, wenn sie die Gefahr lieben. Dennoch wuchs die Zahl der „Nein-Wähler“ seit Stalins Abgang erheblich in allen drei Ländern. Mit Künstlern, Poeten und Schriftstellern wird das übliche Auf-und-Ab-Spiel praktiziert. Und dies tut besonders weh... Die Fessel der Literatur und der Künste heißt unverändert „Sozialistischer Realismus“.

Der Frontalangriff gegen die Religion wurde abgeblasen, anstatt dessen wird die Taktik der zermürbenden Nadelstichelei angewendet, die subtiler ist und mehr graduelle Methoden erfordert. Die Unterdrük-kung wird mit „administrativen Maßnahmen“, oft mit scheinheiligem Lächeln versüßt; durchgeführt. In den Baltenländern dürfen derzeit generell keine religiösen Bücher und Zeitschriften publiziert werden. Ohne Erfolg hat die UNO-Menschen-rechtskommission — die in Teheran taigte — versucht, die anfangs erwähnte Menschenrechtsdeklaration als bindend t Konvention in Form von zwei Verträgen in die Tat umzusetzen. Der Versuch mißlang; infolgedessen sind die Balten weiterhin ihren uralt-neuen Herren ausgeliefert, deren Hauptanliegen die fortgesetzte Diskriminierung der Religion in den Augen der heranwachsenden Generation ist.

In Estland sind die meisten „Nein-Wähler“, die ihre oppositionelle Einstellung immer bekunden. Die Estische Evangelisch-Lutherani-sche Kirche ist vollkommen der KP untergeordnet, die sich in alle Einzelheiten einmischt und alle Details kontrolliert. Die Geistlichkeit wird von der kommunistischen Administration ernannt.

Der Artikel 97 der sogenannten Verfassung der Lettischen Sowjetsozialistischen Republik garantiert die Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, woraus praktisch nur die Mitglieder der KP Gebrauch machen können.

Litauen ist ein katholisches Land. Aber nur ein einziger von den 14 Vorkriegsbischöfen hat die große Umwälzung überlebt. Zwei neulich ernannte Bischöfe: V. Sladketncius und J. Steponavicius, der Apostolischer Administrator des Erzbistums zu Wilna ist, leiden unter schweren Restriktionen, die sie an der Ausübung ihrer Pflichten hindern. Nichts charakterisiert die Situation der katholischen Kirche in Litauen anschaulicher als die offiziell zugegebene Tatsache, daß in dem Land nicht weniger als 514 Kirchen mit Amtsgewalt geschlossen wurden.

Die baltischen Kinder sollen im Geist der Kollektivität heranwachsen. In jeder Schule gibt es daher Pioniere, Komsomol und diverse atheistische Organisationen, die besonders rührig sind. In höheren Schulklassen werden sogar zukünftige atheistische Propagandisten geschult. Die Teilnehmer genießen verschiedene Begünstigungen. Die Eltern nehmen viele Kinder aus der Schule, um diesem Trend entgegenzuwirken. Es gibt Schulen, die im einem Schuljahr 45 Prozent der Schüler auf diese Weise verloren haben, und in einem einzigen Schuljahr wurden mehr als 10.000 Kinder in Litauen nach Hause genommen. Es ist bekannt, daß zum Beispiel im Jahre 1962 in der Stadt Kaunas 64 Prozent der schulpflichtigen Kinder keine Schule besucht hatten. Um die Eltern die „kommunistische Moral“ zu lehren, wurde in Wilna im Jatore 1960 eine „Elternuniversität“ eröffnet, wo die Schulung immer ein Jahr in Anspruch nimmt und die „Klassen“ mit je 200 Eltern zweimal monatlich zusammenkommen. Mehr Menschenrechte konnte die UNO-Deklaration den einst freien Balten nicht garantieren. Infolgedessen sind die Bewohner von Estland, Lettland und Litauen leider auch noch heute — trotz gepriesener Menschenrechte! — Menschen ohne Rechte. — Auch das gibt es in unserer „humanitären“ Zeit!

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