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Nach Chruschtschow

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Der Abgang Nikita Chruschtschows als Regierungschef und Parteichef ist sowohl ein Sturz wie eine Ablösung; der Sturz einer Persönlichkeit, die in ihren vitalsten Jahren durch ihren mit immer neuen Überraschungen aufwartenden persönlichen Stil die Weltöffentlichkeit in Spannung hielt, und die Ablösung, die von ihm selbst mehrmals in den letzten Jahren in kleinerem und größerem Kreis angekündigt wurde. Gomulka hat das jetzt bestätigt. Ein müder, abgespannter, gealterter Mann schleppte sich im vergangenen Sommer durch den anstrengenden, fast dreiwöchigen Staatsbesuch in Skandinavien.

Die vielen Gegnerschaften, die Chruschtschow aus dem Westen entgegentraten, visierten ihn vor allem als einen Mitträger und Mitverantwortlichen des stalinistisohen Regimes an; sie „übersahen“, daß es vielleicht nur dieser sprunghaften Persönlichkeit gegeben war, den ersten entscheidenden Sprung über den riesenhaften Schatten zu wagen.

Die vielen Anfeindungen, die Chruschtschow aus dem Fernen Osten und von Kommunisten zumal in Südamerika und Asien entgegenkamen, visierten ihn als eineft „Verräter“ an der „heiligen Sache“ des Weltkommunismus an, der in einem ungeheuerlichen Sprung Stalin, Lenin, Marx überspringen wolle, die Sache der Weltrevolution preisgebend, um für Rußland, für die Sowjetunion das goldene Schäflein ins Trockene zu bringen, in einer nichtsozialistisohen Wohlstandsgesellschaft, „fett“ und „satt“, Wohlstandsbürger in der Sowjetunion, während die Millionen, die Milliarden darben, wie man da meint, nach der Weltrevolution dürsten.

Mit dem Zaren haben ihn erste Moskauer Kommentare verglichen, ohne seinen Namen direkt zu nennen. „Familienwirtschaft“ und „Personenkult“ werden ihm vorgeworfen. Tatsächlich hatte sich Chruschtschow mit Hilfe seines Schwiegersohnes Adschubej einen Informations- und Naehrichten- apparat aufgebaut, mit dem er das Inland und das Ausland bearbeitete. Noch sind uns die Schlagzeilen deutscher Blätter in lebhafter Erinnerung, die Chruschtschows Ausladung aus Bonn fordern. Diesen Besuch bei Kanzler Erhard hatte Adschubej vorbereitet. Es ist möglich, daß dieser von breiten Führungskreisen in Moskau nicht erwünschte Bonner Besuch Chruschtschows mit in die Waagschale fiel, als man, vielleicht etwas früher, als man es wünschte, daran ging, ihn auszubooten. Die Sowjetunion kann, unter dem Druck der Chinesen, der Goldwaterei und ihrem europäischen Ableger Bonn keine Konzessionen machen. Ein mit „leeren Händen“ in Bonn erscheinender Regierungschef der Sowjetunion kann nach russischer Überzeugung fünfundzwanzig Jahre nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion bei einer Regierung, der Männer wie Herr Seebohm angehören, nur eine schlechte Figur machen.

Warum stellen wir „Bonn“ hier in den Vordergrund und stürzen uns nicht gleich auf die Chinesen, die sich mit ihrer Atombombe und dem Feuerwerk der Propaganda gegen Chruschtschow so augenfällig als Chruschtschow-Töter anpreisen können? Der Konflikt Peking-Moskau ist älter und größer als der Konflikt der Chinesen mit Chruschtschow. Dieser Konflikt wird noch bestehen, wenn die nächsten und übernächsten Erben, Stellvertreter, Nachfolger Chruschtschows von der Bühne abgetreten sein werden. Dieser Konflikt ist so groß, daß er sich weder mit einem Krieg noch mit kalten Parteikriegen noch mit Propagandafeldzügen lösen läßt.

Was verstehen wir unter ..Bonn“, wenn wir einen der bedeutendsten Gründe für den Sturz Chruschtschows hier in den Blick bekommen wollen? „Bonn“, „Brüssel“, „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ — die wirtschaftspolitische Energie der Bürokraten und Technokraten Westeuropas, dazu das von Jahr zu Jahr steigende und in andere Kontinente ausgreifende Wirtschaftspotential dieses Westens, vorab der Bundesrepublik, dann Frankreichs, ließ in den Augen sowjetrussischer Hochbürokraten und Technokraten den Dilettantismus Chruschtschows in einem für sie besonders peinlichen Licht erscheinen. Nikita Chruschtschow war ein großer Dilettant (das Wort hier ohne hämischen Beigeschmack verstanden, sondern im Sinn vergangener Jahrhunderte); Dilettant war da ein Mensch, ein Mann, der sich ahne besondere Vorbildung herzhaft dilettierend mit kleinen und großen Projekten herumschlug.

Eine gerade durch Chruschtschow aufgepäppelte Bürokratie von Spezialisten, Ingenieuren, Agronomen, von Fachleuten der Wirtschaft und zuletzt der lange Zeit nachhinkenden Landwirtschaft, sah seit Jahren mit Bestürzung, wie dieser eigenwillige Mann in ganz großem Maßstab zu dilettieren begann; er wollte über Nacht in Sibirien und in anderen unerschlossenen Gebieten der Sowjetunion einen „Goldenen Westen“ schaffen: Der große Leibnitz hatte seinerzeit gehofft, dies als Projektor für den Zaren Peter zu werden. Die Petraschew- zen, uns meist nur durch Dosto- jewskijs Zerrspiegel bekannt, und andere kühne soziale Utopisten, die gleichzeitig große Projektoren waren, wollten im 19. Jahrhundert unter dem Schutz Murawjews aus Sibirien ein Amerika Rußlands machen.

Wir kennen heute noch nicht das ganze Ausmaß der Schwächung, die die Sowjetunion durch die Fehlplanungen und Fehlleistungen im Gefolge von Chruschtschows Neulandprojekten gerade in diesen letzten Jahren erlitten hat, in denen eben dieses erhoffte agrarische und industrielle Großpotential die Außenpolitik der Sowjetunion in

Der bittere Schluck

Asien und Afrika entscheidend hätte stärken und unterstützen sollen.

Dem müden, abgearbeiteten Chruschtschow verlangen ja nicht nur die nüchternen Skandinavier auf der letzten großen Auslandtour Fakten ab, konkrete Zahlen, konkrete Leistungen in Industrie, Landwirtschaft. Inder und andere Asiaten, Afrikaner und Südamerikaner; erregt durch Fidel Castro und durch sowjetrussische Messen und Leistungsschauen in Südamerika, wollen nicht nur „sehen“, sondern empfangen, Gelder, Wirtschaftshilfen, großzügigste und langfristigste Unterstützungen beim Aufbau einer eigenen nationalen Industrie! Und — sie wollen dabei nicht verhungern!

Immer neue Forderungen von außen wurden auf einer Weltbühne vorgetragen, auf der chinesische Kommunisten und ihre Freunde in allen Bruderparteien Chruschtschow gleichzeitig anklagen, daß er das teure, unersetzliche Erbgut der revolutionären Bewegung, den Thesaurus Ecclesiae, den kostbaren Ideensehatz der kommunistischen „Weltkirche“ verschleudere. Nicht nur in ihrem Förmelschatz lassen diese Anklagen gegen Chruschtschow als „Öffner“, als Verschleuderer des Schatzes der marxistischen Bewegung, an die Anklagen in Rom. Madrid und andernorts gegen die „Öffnung“ der Kirche, gegen die reformwilligen Kardinäle denken.

Was wollen die Nachfolger Chruschtschows? Zunächst wohl vor allem überwintern. durchhalten, sich konsolidieren, Kräfte sammeln, nicht spektakulär handeln, weder im Inneren noch nach außen. Lenin hatte seinerzeit bereits Atempausen, eine „peredysohka“, gefordert, um das Staats- und Parteischiff durch die Wogen der Bürgerkriegsperiode steuern zu können.

Überwintern bedeutet zunächst die Frühjahrssaat vorzubereiten; sorgfältigste, vielleicht sogar ängstliche Planung der landwirtschaftlichen Unternehmungen soll bereits

Photo: Sansone im nächsten Jahr aus den bitteren Erfahrungen der letzten Jahre die Folgerungen ziehen. Die landwirtschaftlichen und wohl auch gewisse industrielle Fehlleistungen der Ära Chruschtschow zeigen, daß ein Weltstaat, in sich ein Gefüge zahlreicher Spannungen und Konflikte, sich einen auch bedeutenden Dilettanten als allein maßgebenden Chef nicht leisten kann.

Die Betonung der kollektiven Führung, der neuen Führung der Sowjetunion, sollte ebenfalls in diesem Zusammenhang gewürdigt werden, und nicht nur als ein ängstliches Bemühen, in der Öffentlichkeit als Kollektiv zu erscheinen, solange eben der Streit um den Primat zwischen einem Zweier- oder Dreiergespann zugunsten eines dritten oder vierten einzelnen nicht entschieden sei. Die Betonung der kollektiven Führung bedeutet auch die Anerkennung der Tatsache, daß die Führungsaufgaben eines Weltreiches nicht von einem einzigen Mann bewältigt werden können.

Von den Stimmen des Weltechos auf Chruschtschows Sturz wollen wir hier nur festhalten: eine freundliche Stellungnahme an die Adresse seiner Nachfolger von seiten Washingtons und Londons sowie die Würdigungen der Verdienste Chruschtschows in Budapest, Prag, Warschau!

In Wien aber wollen wir daran erinnern: Als seinerzeit Chru schtschow zum ersten Staatsbesuch nach Wien kam, forderte man vereinzelt, der Stephansdom solle vor diesem „Antichristen“ seine Tore verschließen. Eine Propagandaaktion sollte an allen Kirohentüren Wiens darauf aufmerksam machen. Gegen diese Aktion traten wir damals in einem Leitartikel der „Furche“ auf. Nuntius Dellepiane und Bundeskanzler Raab dankten uns dafür. Heute widmen wir dem Mann Nikita Chruschtschow, unter dessen Führung der Staatsvertrag abgeschlossen wurde, eine Minute des Gedenkens.

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