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Nach dem Untergang Großösterreichs

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Nach 1918 wurde diese Situation noch konfuser, als der alte historische Name Oesterreich, der immerhin ein geistesgeschichtlicher, wenn schon nicht staatsrechtlicher war, und eine geistige Zivilisation ausdrückte, auch wenn er sich auf keine exakte, geschriebene Verfassung gründete, von der historischen Entwicklung überwunden zu sein schien. Denn für die damals vorherrschenden politischen Kräfte blieb es noch lange verborgen, daß er für eine Wiedergeburt in zwar bescheideneren, dafür aber konzentrierteren Formen aufbewahrt war. Daß aber der damals aufkommende Name des Donauraumes, der Donauvölker, der Donaukonföderation, den auch wir als Hilfsvorstellung gebrauchen, angesichts der tschechisch-polnischen geographischen Realitäten terminologisch offensichtlich nicht minder problematisch ist, kann kaum geleugnet werden. So setzte sich vielfach die nüchterne Bezeichnung der Nachfolgestaaten (der Monarchie) als die adäquateste durch. Wenn man davon absieht, daß Italien als Nachfolgestaat nur in zwei für seine nationale Integrität unwesentlichen Randgebieten zu diesem Bereiche gehört, darf man wohl sagen, daß die Gemeinschaft der Nachfolgestaaten, die in vielen sichtbaren und in manchen unsichtbaren Belangen, beide bedeutungsvoll, bis zur deutschen Okkupation und darüber hinaus bestand, die bisher umfassendste Organisation von jenem Dutzend und mehr Völkern an der Weichsel, an der Elbe, an der Donau gewesen ist, die eine geistig-politische Einheit bilden, sozusagen die bisher weitgehendste Verwirklichung der ihrer Siedlungsgemeinschaft zugrundeliegenden Idee, obwohl wieder nur ein Kern von ihnen in der Kleinen Entente unter psychologisch verständlicher, politisch aber katastrophaler Abstinenz von Oesterreich und Ungarn, sich auch wirklich organisatorisch zusammenschloß. Wenn immer wieder in mehr als einem Millennium — von Samo über Przemysl Ottokar, Wladislaw Jagello und Karl IV. bis auf Benesch (und vielleicht Tito) — die Organisation der Südostvölker von exzentrischen Mittelpunkten aus versucht worden ist, die in der Geschichte allerdings am Ende von Wien als der Mitte dieses Raumes abgelöst zu werden pflegen, so liegt darin vom österreichischen Standpunkt eine Vorstufe, keine Antithese; ein bewußtes Mitgehen Oesterreichs — am klassischesten in der matrimonialen Politik der Habsburger und Jagellonen — hat immer noch die Entwicklung beschleunigt, nicht verzögert.

Aus dem Dilemma der historischen Namen-losigkeit entstand in den Diskussionen der europäischen Emigrantengruppen in Amerika während der dreißiger und vierziger Jahre der Begriff des europäischen Südostens für die damals versuchte, freilich nicht sehr weit gediehene Zusammenarbeit der nationalen Gruppen aus den Nachfolgestaaten im Exil gegen Hitler-Deutschland. Ich selbst habe damals in Amerika in diesem Sinne zum südosteuropäischen Problem Stellung genommen, Vorlesungen gehalten, Aufsätze geschrieben und Organisationen mitbegründet. Der Versuch einer geistig-politischen Zusammenarbeit unter den südosteuropäischen Nationen im Exil war freilich nur ein kurzlebiger; er ist nichtsdestoweniger der Erwähnung wert (s. „The Tragedy of the Masaryks“, Commonweal, New York, 1948; „Die österreichisch-politische Emigration in den USA“, Die Abwehr, Graz, 1950). Er ging von österreichischer Initiative aus, scheiterte jedoch an der Unklarheit und Haltlosigkeit der beteiligten Emigrantengruppen (der österreichischen eingeschlossen), an der Indifferenz, wenn nicht Indolenz der alliierten Regierungen (unter denen die amerikanische die Probleme der kleinen Nationen Südosteuropas in besonderem Maße vernachlässigte) und nicht zuletzt auch infolge der Querschüsse der deutschen Emigration (die teilweise auch ihre akademischen Organisationen im Exil dazu benützte, um die für den pangermanischen Gedanken, auf den auch die deutschen Emigranten nicht verzichten wollten, gefährliche südosteuropäische Aktion zu torpedieren).

Die Zusammenarbeit zwischen den Südosteuropäischen Emigrantengruppen stand unter der Aegide von Jan Masaryk, den ich damals als in seiner Substanz halb unbewußt, halb aber bewußt altösterreichisch denkenden Staatsmann kennen gelernt habe. Hinter ihm stand in dieser Frage wenigstens eine Zeitlang auch Benesch. Auf tschechischer, polnischer, ungarischer, jugoslawischer und österreichischer Seite arbeiteten eine Reihe von wertvollen, politischen, diplomatischen und intellektuellen Kräften mit (Laurin, Hromadka, Odlozilik, Potocki, Halecki, Vambery, Jaszi). Es war ein kurzlebiger Versuch, nicht mehr; er kam nicht über die ersten Gehversuche hinaus, obwohl er sogar eine Zeitschrift gebar („Europe“ 1940/1945). Es zeigte sich aber auch in diesem bescheidenen Experiment, wie tief noch immer die altösterreichische Gemeinschaft nachwirkte (wir sprachen alle lieber deutsch als englisch), wie sie durch das jüngste Erlebnis, die Katastrophe in der Heimat, neue Antriebe erhielt, wie viele Voraussetzungen noch für die Wiederaufnahme der alten Beziehungen existierten und wie leicht dieselben in eine dauernde Zusammenarbeit zu verwandeln gewesen wären, wenn vor allem die Alliierten ihre Chance erfaßt hätten. Denn ohne ihr aktives Wohlwollen und Interesse war eine Emigrantenorganisation dieser Art auf die Dauer nicht denkbar. Das Experiment wurde daher auch wieder preisgegeben, als Benesch unter englischem Antrieb die tschechisch-polnische Konföderation abschloß, die jedes donau-ländischen, vor allem deutschsprechenden Hinterlandes entbehren zu können wähnte; auch sie wurde freilich wieder liquidiert, als die Russen mit anderen Wünschen kamen. Die Polen der Exilregierung unter englischer Patronanz aber träumten damals eine Zeitlang sogar (in psychoanalytisch leicht verständlicher Revancheideologie, verschärft durch das Ressentiment gegen alles Deutsche, das auch die Oesterreicher einschloß) von der Aufteilung des kleinen, überflüssigen Oesterreichs zwischen Nord- und Südslawen (was ihnen, die aus Galizien stammten, in beinahe großösterreichischer Denkform, die historische Funktion des kleinen Oesterreichs grotesk übertreibend, fast wie das Kriegsziel erschien), indem sie in ihren von den Alliierten unterhaltenen Emigrantenorganen nichts besseres zu tun wußten, als Pläne zu entwerfen und Landkarten zu zeichnen, in denen Idee und Territorium Oesterreich auf dem geduldigen Papier ausgelöscht wurden. Man wird diese Episode nicht überschätzen, ebensowenig aber unterschätzen dürfen.

Seither ist viel Wasser auch über die Weichsel zu. Tal geflossen. Der Begriff Südostcuropa aber hat seine Gültigkeit nicht verloren. In der Tat gibt es in deutlicher geopolitischer Unterscheidung vom deutschen Nordwesten einen europäischen Südosten, der ein geographisch-histo-ricch-ethnographisches Ganzes bildet, das sich vor allem gegenüber Rußland, Deutschland und Italien als eine Einheit abhebt, die aus einem Dutzend kleiner und mittlerer Nationen besteht, deren offenbares naheliegendes, gemeinsames Interesse es ist, in einer haltbaren Dauer-organisation innerhalb der europäischen Völkereinheit einander in besonderer Weise zu stützen und zu tragen. Nahezu ein halbes Jahrhundert Weltgeschichte ist über Tdie geistig-politische. Leere, die der Untergang der alten Monarchie gerissen hat, nicht hinweggekommen. Pie größte politische Katastrophe vom Standpunkt der christlichen Zivilisation, die das 20. Jahrhundert betroffen hat, war die Zerstörung und der Untergang dieser Monarchie an Stelle ihrer zeitgemäßen Reform, durch die sie dem europäischen Gleichgewicht erhalten geblieben wäre. Dadurch trug der erste Weltkrieg keine positiven Früchte, brach der zweite Weltkrieg aus und trägt sein Nachher die Möglichkeit eines dritten Weltkrieges in seinem Schöße. Es gibt keine konstruktive politische Leistung von solcher Wichtigkeit und Tragweite auch noch in der politischen Oekumene von heute als die Bemühung um die Wiederherstellung der Völkergemeinschaft des europäischen Südostens auf einer Grundlage, die nicht der Verschärfung, sondern der Ueberbrückung der Wellgegensätze dient. Darin liegt vielleicht der entscheidendste Beitrag zur Idee der christlichen Zivilisation, dessen Europa zwischen den Weltfronten heute schon fähig ist.

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