6573776-1950_33_02.jpg
Digital In Arbeit

Nach der Königskrise

Werbung
Werbung
Werbung

Brüssel, im August „Der schlechteste Frieden ist immer besservals der beste Krieg“, sagte Leopold III. vor nunmehr elf Jahren zu einem belgischen Bischof. In dieser Überzeugung hat er dann die vielumstrittene Kapitulation unterfertigt, die ihm von seinen Gegnern zum vorgeschützten Hauptvor-Wurf gemacht wurde. Und aus ebendieser •Gesinnung ist der Entschluß des Königs zu begreifen, nach einem Plebiszit, das ihm 57 Prozent der Stimmen gab, nach einem ihm günstigen Votum der vereinigten Kammern und im Besitz aller Machtmittel der Exekutive dem Druck der Straße nachzugeben. Wie einst Ludwig XVI., wie später Karl von Österreich hat der Monarch aus menschlich achtbaren Motiven Blutvergießen vermieden, doch damit die Sache aufgegeben, die er verkörpert. Denn keine Enunziation kann verdecken, daß nicht nur der Herrscher selbst, sondern auch das Königtum als Institution in Belgien eine Niederlage erlitten haben. Daß aber Leopold III., die Dynastie und die Monarchie nicht die einzigen sind, die am Morgen des ersten August einen Schlag erdulden mußten, das werden vermutlich in nicht zu ferner Zeit auch die erfahren, die zu diesem Ausgang entscheidend mit beigetragen haben, das liberale Bürgertum und die Rechtssozialisten.

Die ursprüngliche Frage nach der Schuld des Königs, nach der Richtigkeit seines Verhaltens im Mai 1940, nach der Opportunität seiner Ehe, ja nach seinem Charakter, seiner Neigung zu persönlichem Regim.e sind längst in den Hintergrund getreten. In Wahrheit handelte es sich in Belgien um vielerlei: um den Kampf zwischen den durch natürliche Bevölkerungszunahme prozentuell und durch die Verlagerung der Industrie wirtschaftlich aufsteigenden Flamen und den einst allein dominierenden Wallonen; um den zwischen Katholiken und Freidenkern; um den zwischen Monarchie und Republik; endlich um den zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaftsordnung. Die Gegner Leopold III. trachteten, das alles nach Möglichkeit zu verschleiern. Sie stellten sich zunächst als Hüter der Verfassung und als Verteidiger des belgischen Gedankens gegen einen im Herzen deutschen und totalitären Fürsten vor. Als aber die Demokratie zahlenmäßig gegen deren Freunde auf der Linken wirkte, als die Leopoldisten die Majorität bei der Volksabstimmung und in beiden Kammern eroberten, da nahmen Liberale und Sozialisten eine Haltung ein, deren Motto Spaak bei einem Temperamentsausbruch im Parlament bekannte: „Fichez-moi la paix avec la Constitution!“, „Rutscht mir den Buckel hinunter mit der Verfassung!“ Die beiden Oppositionsparteien suchten das Ergebnis der Urnengänge durch Drohungen, dann durch Streiks und endlich durch Entfesselung des Bürgerkriegs zu korrigieren. Dieser Krieg ist am 31. Juli ausgebrochen, und es hat wenig Belang für die Fest-

Stellung dieser Tatsache, daß er nach wenigen Stünden durch die Kapitulation des Königs beendet wurde. Die Abdankung und alles, was ihr noch folgen mag, ist eben durch eine Revolution und außerhalb des Rahmens der Verfassung, der gesetzlichen Institutionen erzwungen worden. 43 Prozent der Stimmbürger haben ihren Willen gegen den von 57 Prozent durchgesetzt.

Die Sieger, beziehungsweise die, denen man — mit jener halben Aufrichtigkeit, die während der gesamten Königskrise üblich war — die Palme zuerkennt, werden sich nun bemühen, bei den Unterlegenen das Empfinden zu verwischen, als hätten Katholiken, Wallonen, die Monarchie, die bürgerliche Ordnung einen Stoß bekommen. An freundlichen Worten aus liberalem, sozialistischem und wallonischem Mund wird es nicht fehlen. Und die Führer der Christlich-sozialen Partei, die Sieger des Wahlkampfes vom 4. Juni, doch die Unterlegenen der Nacht zum 1. August, müssen trotz innerer Verbitterung, die sich bei der Parteiversammlung vom 2. August zeigte, gute Miene zum bösen Spiel machen. Man darf ihnen das- nicht übelnehmen, und man wird andererseits verstehen, daß es Liberale und Sozialisten eilig haben, die revolutionäre Begeisterung abzublasen. Denn hinter den vier Problemen, die das der Abdankung Leopolds III. überschatteten, zeichnen sich die beiden eigentlichen Gefahren ab, die durch die Agitation der Königsfeinde heraufbeschworen wurden. Es dreht sich um nicht weniger als um die Existenz Belgiens als Staat und um den Versuch, an einem der neuralgischesten Punkte des Westens — im Hinterland des Hafens Antwerpen, in einem der reichsten Kohlengebiete und nahe der Ruhr — einen kommunistischen Brandherd zu schaffen..

Die Demonstrationen in Brüssels Straßen, die anfangs von würdigen Gelehrten und wohlgesitteten liberalen, sozialistischen Parl.amentarieren angeführt wurden und die sich als Huldigungen für den Grafen von Flandern, den bisherigen Regenten, gebärdeten, waren seit dem 27. Juli den Gemäßigten aus der Hand geglitten. In Lüttich und schon gar In Möns und Charleroi waren die Kundgebungen von vorneherein durch erfahrene Leiter orchestriert, die ihre Weisheit weder von der Brüsseler Universität noch aus den Redaktionslokalen des „Peuple“ bezogen, sondern aus weiter östlichen Bornen. Und bei allen diesen Manifestationen hörte man in Lied und Wort erheblich von den zahmen bürgerlichen und rechtssozialistischen, gegen Belgien loyalen Losungen abweichende Begehren. Der Gesang der Marseillaise an Stelle der eigenen Nationalhymne, die „le Roi, la Loi, la Liberte“ feiert, wies auf irredente Sehnsucht nach einem Frankreich hin, das allerdings mit dem Vincent-Auriols, Pievens, Schumans und Mochs wenig gemeinsam hat. Die „Tnternationale“ war noch deutlicher. Am deutlichsten waren die Rufe „Po-pol (Leopold) an den Galgen“, „Nieder mit den Pfaffen“, „Hängt den König“ und „Tod den Bourgeois“, „Tod den Gendarmen“, „Hoch die Republik“, „Hoch die Revolution“, in die sich bereits die wohlvertrauten Schlagworte mengten, die gegen Amerika gerichtet sind und den östlichen Hort des Friedens preisen.

Liegt das in den Absichten des Historikers Henri Gregoire, des Vorsitzenden des Europaausschusses S p a a k, die einem, übrigens scheußlichen, Riesenbild des früheren Regenten mit huldigenden Zehntausenden (waren es nur 10.000 oder 80.Q00, die Meinungen gehen auseinander) die Reverenz erwiesen und „Mon-seigneur aufforderten, sich für Belgien zu erhalten? Liegt das in den Intentionen der liberalen Großindustriellen und Bankiers, die den antileopoldisti-schen Feldzug finanzierten? Sicher nicht. „Ich fürchte, die belgische Einheit durch eine Revolution gefährdet zu sehen“, klagte Spaak, als es so weit war, „und ich bin darüber betrübt.“ Doch die Entfernung Leopolds III. dünkte Liberale und Sozialisten wichtiger als das Spiel mit verzehrendem Feuer. Antiklerikale und wallonische Gefühle waren stärker als sonstige Erwägungen. So kam es zum Sturm auf Schloß Laeken, der nur durch ein Wunder und durch das Eingreifen der Gendarmen zu keinem belgischen Sturm auf die Tuilerien geworden ist. Genosse L ä 1 m a n d, der Generalsekretär der belgischen KP, der den Marsch der Zweitausend anführte, hätte es kaum ungern gesehen, wäre Leopold III. dabei nicht nur in effegie gehängt worden. Und so kam es, vier Tage später, am 31. Juli und in der folgenden Nacht, zum Thronverzicht, während in Lüttich und im Kohlengebiet bereits die Barrikaden standen, während sich die Massen auf den Straßen gegen Brüssel bewegten und 500.000 Arbeiter die Arbeit niedergelegt hatten.

Haben wir die Politik der liberalen und sozialistischen Königsgegner ohne Verhüllung geschildert, so müssen wir nicht minder die unbegreiflichen Fehler und Irrtümer des Königs, seiner Ratgeber und des regierenden P. S. C. dartun. Der Erstminister Duvieusart, Innenminister De Vleeschouwer und die Parteileitung der Christlichsozialen scheinen sich ebenso wie die Umgebung Leopolds Iii. in der verhängsnivollen Illusion gewiegt zu haben, es werde alles friedlich ablaufen; nach einigen unruhigen Tagen des Streiks und der Krawalle werde Belgien rasch zum normalen Leben zurückfinden. Man hat offenbar die Entschlüsse und die Drohungen der Sozialisten, vor allem aber die dahinter sich vorbereitenden Aktionen der Kommunisten nicht ernst genommen. Der König und seine Minister hätten aber, ehe der Monarch den Fuß auf belgischen Boden setzte, sich darüber klar sein sollen, daß sie entweder — und das wäre für alle Beteiligten viel besser gewesen — keinen Kampf wagen wollen; dann wäre ein Thronverzicht ohne peinliche Begleitumstände möglich gewesen. Oder aber, man hätte dem Willen der Mehrheit und dem formellen Recht unter allen Umständen Achtung verschaffen wollen, dann wäre ein Einsatz der Armee, der Gendarmerie und der flämischen Massenorganisationen nötig gewesen. Daß dieser nicht erfolgte, beweist bei der zahlenmäßigen Mehrheit ein Gefühl der Schwäche, das von denen, die sich im Hintergrund als Sieger fühlen, bestimmt noch nachdrücklich ausgenützt werden wird. Es bleibt nur zu hoffen, daß sich gegen diese nunmehr akute Gefahr die drei um Leopold III. hadernden Parteien zusammenschließen werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung