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Nach Niederlagen erste Erfolge

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Dem „don“ — so heißen Universitätslehrer in England — sah man die erfolgreiche politische Laufbahn nicht an. Er wirkte nach dem Zeugnis seines Freundes Lord Longford manchmal ein wenig weltfremd, und es fehlte ihm die schnelle instinktive Reaktion auf kurzfristige Veränderung der politischen Gegebenheiten. Als Hugh Gaitskell nach dem Abgang Att-lees aus der aktiven Politik von der sozialistischen Parlamentsfraktion als Kompromißkandidat zum Führer gewählt wurde, dachten viele, er würde nur ein Übergangsmann sein. Diese Meinung verbreitete sich nach den beiden Wahlniederlagen der Labour Party. Denn der eine Flügel warf ihm Unwirksamkeit vor, der andere Opportunismus. Es gelang ihm zwar, die Partei außenpolitisch auf eine einheitliche Linie festzulegen, innen- und vor allem wirtschaftepolitisch mußte der letzte sozialistische Schatzkanzler eine Schlappe verzeichnen. Es gelang ihm zwar, die Rebellen, welche für eine einseitige atomare Abrüstung Großbritanniens eintraten, kaltzustellen, er erlitt jedoch in der Abstimmung über seinen Antrag, Artikel 4 des Parteistatuts, der die Verstaatlichung der Industrie vorsieht, zu streichen, eine Niederlage. In seinen vielen Reden versuchte Gaitskell hingegen (um 1930 herum stand er äußerst links und hat mehrmals Kontakte mit der Kommunistischen Partei Englands aufgenommen) mit wechselndem Erfolg, die Wähler von seiner ehrlichen Absicht zu überzeugen, nicht zu verstaatlichen.

Die Öffentlichkeitsarbeit und die ständigen Angriffe auf die Regierung Macmillan hatten schließlich zumindest einen Teilerfolg. Im Vorjahr erlitten die Tories in den Nachwahlen zum Teil erhebliche Stimmenverluste, die schließlich den Premierminister veranlaßten, die Regierung umzubauen. Noch vor einem Jahr hat man einen Laboursieg in der kommenden Parlamentswahl für unmöglich gehalten. Der Erfolg Gaitskells läßt sich daran ersehen, daß der „Economist“ vor zwei Wochen in einem vielbeachteten Aufsatz schon von einem möglichen Kabinett Gaitskell sprach und etwaige Änderungen im politischen Kurs Londons diskutierte. Der seinerzeitige Kompromißkandidat hatte es dazu gebracht, daß in der Öffentlichkeit die Partei mit ihm gleichgesetzt wurde, und zwar zu einem Grade, wie es nicht einmal Macmillan bei den Tories gelungen war.

Wird die Kluft wieder aufgerissen?

Was wird jetzt geschehen? Diese Frage hängt verklausuliert in der Luft. Noch halten Takt und echtes Bedauern die englische Presse von einer allzu offenherzigen Tatbestandsaufnahme der Lage zurück, die durch den Tod Gaitskells entstanden ist. Man meint jedoch sicher zu gehen, daß die Labouf Party versuchen wird, innerhalb Monatsfrist einen Nachfolger zu wählen. Man fürchtet, daß diese Wahl die von Gaitskell mühsam überbrückte Kluft wieder aufreißen wird. Die Namen der Kandidaten sind noch nicht bekannt. Die offensichtliche Wahl wären entweder Harold Wilson, der Außenminister des Schattenkabinetts, oder George Brown, derzeit stellvertretender Führer der Labour Party, der bis zur Wahl eines Nachfolgers die Geschäfte leitet. Sowohl gegen Harold Wilson als auch gegen George Brown werden Zweifel laut. Sie gelten als Exponenten der beiden sich latent bekämpfenden Flügel. Als Kompromißkandidat wird der Walliser Mr. Callaghan, derzeit Schatzkanzler des sozialistischen Schattenkabinetts, vielfach genannt, zuletzt auch von der gut informierten „Financial Times“. Der neue Parteiführer muß jedoch schon eine starke

Position besitzen, damit die von Gaitskell mühsam erkämpfte Einheit nicht wieder verloren geht. Vor allem befürchten eingeweihte Kreise einen offenen Disput über die Europapolitik der Labour Party. Denn gerade unter den Anhängern des verstorbenen Parteiführers haben sich zahlreiche Politiker befunden, welche bedingungslos für eine Integration Großbritanniens innerhalb der EWG eintreten. Man nimmt nun an, daß diese Gruppe jetzt keinen Anlaß mehr hat, der Parteiführung gegenüber sich loyal zu verhalten. Vorsichtig deuten daher einzelne Kommentatoren die Möglichkeit einer Spaltung der Sozialisten an, die eine rasche neuerliche Sammlung des extremen linken Flügels der Partei zur Folge haben könnte.

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