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Nationalfeiertag: Wie alt ist unsere Neutralität?

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Die österreichische Neutralität sei älter, als gedacht, schreibt Horst Mayer im Jahr 1965.

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Die österreichische Neutralität sei älter, als gedacht, schreibt Horst Mayer im Jahr 1965.

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Der 26. Oktober, Österreichs bisher „unter Ausschluß der Öffentlichkeit“ abgehaltener „Tag der Fahne“, wird also ab 1966 als Nationalfeiertag festlich begangen werden. Der Anlaß des Tages ist nicht die inzwischen schon fast zur Wahrheit gewordene Legende vom letzten Besatzungssoldaten, der an diesem Tag angeblich den Zug Richtung Heimat bestiegen hat, sondern die am 26. Oktober 1955 durch ein Bundesverfassungsgesetz feierlich proklamierte Neutralität unserer Heimat.

Phantasiereiche Publizisten haben auch um die Neutralitätserklärung schon einen Dornröschenwald abgedroschener Phrasen sprießen lassen: Von der „jahrhundertealten Mittleraufgabe im Herzen Europas“ ist da viel die Rede, von der „Brückenfunktion“ Österreichs — alles Aufgaben, die unser Land heute zwischen den Blöcken auch tatsächlich zu erfüllen hat, die aber — und das wird nicht selten übersehen — keineswegs der Anlaß für eine Neutralitätserklärung als „Kaufpreis der Freiheit“ waren.

Der in Berlin lehrende österreichische Historiker Gerald Stourzh hat bereits vor einigen Jahren diesen „Stammbaum“ der Neutralität als unpräzise bezeichnet, und eine kürzlich erschienene Untersuchung der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft geht in gewohnt gewissenhafter Manier daran, die Fundamente des österreichischen Neutralitätsgebäudes zu sondieren*.

Geopolitische Arbeitsmethoden

„Man kann somit der Meinung, Österreichs Neutralität leite sich aus der historischen Funktion Österreichs in Europa ab, nur mit großen Vorbehalten zustimmen, wenn man sie nicht überhaupt ablehnt“, meint der — wie immer — ungenannt bleibende Autor des Gutachtens, der zunächst geopolitische Arbeitsmethoden anwendet und dem Österreich der Zwischenkriegsjahre aus der Sicht der Signatarmächte von St. Germain die Funktion eines Pufferstaates einräumt, der — und das hat auch bereits Albrecht Haushofer 1928 erkannt — sich als Paßstaat im eigenen Interesse auf das Reduit völkerrechtlicher Neutralität zurückziehen sollte.

Die Nachbarschaft mit der neutralen Schweiz war ein weiterer Punkt, der der kleinen Republik ein deutlicher Wegweiser hätte sein können: Schon 1874 meinte Ferdinand nürnberger, daß sich die Doppelmonarchie nur des eidgenössischen Vorbildes zur Lösung der Nationalitätenfrage zu bedienen braucht, und dreißig Jahre später kam der Parlamentsbibliothekar Dr. Karl Renner — als Staatsbeamter vorsichtigerweise hinter dem Pseudonym Rudolf Springer verborgen — zu ähnlichen Ergebnissen. Der Zusammenbruch der Monarchie machte nun freilich dem Nationalitätenstreit ein Ende. Die Karte der Neutralität für den — nach Clemenceau — Rest, der Österreich war, blieb jedoch im Spiel. Die Geburtshelfer der Republik sahen sich ja vor allem außenpolitisch folgenden Fragen gegenüber:

  • Dem Anschluß an das Deutsche Reich.
  • Einer Donauföderation der Nachfolgestaaten, möglicherweise sogar einer Restauration der Habsburger.
  • Der drohenden Aufteilung des kläglichen „Restes“.
  • Der Neutralisierung.

Anschluß und Neutralität

Donauföderation, Restauration wie Aufteilung standen einstweilen nicht zur Debatte. Der „Anschluß“ dagegen war Hauptziel der Außenpolitik des Staatssekretärs Dr. Otto Bauer. Die Ententemächte waren naturgemäß dagegen, und so taucht schon sehr früh — zum erstenmal in der französischen Zeitung „Temps“ im März 1919 — die Idee eines neutralen Österreich auf. Auch der Chef der britischen Militärmission, Oberst Cuninghame, erwähnte dem österreichischen Verbindungsoffizier, dem Oberstleutnant Seiller, gegenüber Pläne einer Neutralisierung Österreichs, die mit dem Verbleib von Südtirol, von Teilen von Böhmen und Mähren und von Westungarn verbunden wäre.

Ob in der Sitzung des Hauptausschusses der konstituierenden Nationalversammlung vom 7. Mai 1919, in der die Instruktionen für die österreichische Delegation, die nach St. Germain reisen sollte, festgelegt wurden, auch über die mögliche österreichische Neutralität gesprochen wurde, geht aus den Protokollen nicht hervor. Es ist freilich anzunehmen, daß man erwog, den Siegern die Neutralisierung anzubieten, um nur wenigstens das Anschlußverbot aus der Welt zu schaffen. Dr. Renner und seine Männer kamen allerdings nicht dazu, den Signatarmächten irgendwelche Konzessionen abzuringen...

Die Neutralität als einzige diplomatische Waffe eines kleinen, ausgehungerten Landes, das sich verzweifelt bemühte, wenigstens sein Staatsgebiet klar abzugrenzen: Warum haben sich die Männer der Wiener konstituierenden Nationalversammlung gescheut, den letzten Trumpf, der dem Nachfolger des besiegten Riesen geblieben war, auszuspielen? War es der — damals — faszinierende Gedanke, daß der Anschluß irgendwann einmal doch noch kommen müsse? Oder war es einfach Angst, diesen entscheidenden Schritt zu setzen, das nagelneue Gewand der Neutralität anzuziehen? Das Gutachten glaubt, den Grund gefunden zu haben: er liegt „...in dem Konzept der Ententemächte, kriegerische Gewaltausübung zwischen Staaten durch die Schaffung des Völkerbundes zu verhindern, und der damit verbundenen Ablehnung des Gedankens der Neutralität“.

Alle Hoffnung auf den Völkerbund

Das System der kollektiven Sicherheit, das Kriege in aller Zukunft unmöglich machen sollte, war der scheinbare Königsgedanke, der die Neutralität als nicht ins Konzept passend ablehnte: So stellte der Völkerbund am 13. Februar 1920 fest, daß „der Begriff der dauernden Neutralität nicht vereinbar ist mit dem Grundsatz des Paktes, daß alle Bundesmitglieder gemeinsam zu handeln haben, um den Verpflichtungen der Satzung Achtung zu verschaffen“. Ausnahme: die Schweiz. Sie war — als Reverenz vor ihrer neutralen Tradition — von der Teilnahme an den militärischen Sanktionen befreit. „Wenn“, kommt das SWA-Gutach-ten zu dem Schluß, „selbst die Schweiz 1919/20 Schwierigkeiten hatte, ihre Neutralität mit der Völkerbundsatzung zu vereinbaren, so wird es vor einem solchen Hintergrund klar, daß an eine Neutralität Österreichs nicht zu denken war.“

Über die österreichische Außenpolitik als Neutralitätspolitik finden sich einige Belege: So etwa, wenn es im Politischen Abkommen zwischen Österreich und der Tschechoslowakei vom 16. Dezember 1921 heißt, im Falle eines Angriffes würde sich der Vertragspartner verpflichten, „eine neutrale Haltung einzunehmen“. Oder dann, wenn Bundeskanzler Johannes Schober den Wunsch ausdrückt, eine neutrale Außenpolitik zu führen. Auch Julius Deutsch stellt fest, daß Österreich — zumindest bis 1933 — eine „vorsichtige Politik der Neutralität“ geführt habe.

Der Neutralitätsgedanke ist nicht tot

Eine Fülle von Neutralitätsvorschlägen also. Und die Erste Republik war ständig einer Neutralitäts-Politik — faktisch wenigstens — verschrieben. Kein Wunder also, daß mit der Wiedererrichtung Österreichs 1945 der Gedanke der Neutralität wieder auftauchte und schließlich 1955 zur verfassungsrechtlichen Erklärung der immerwährenden Neutralität Österreichs führte.

Die Annahme, daß der Vorschlag der österreichischen Neutralität erst 1953 unvermutet aufgetaucht und ein neuer Aspekt der österreichischen Außenpolitik gewesen sei, wird unter anderem von Bruno Kreisky zurückgewiesen, der auf einen Artikel Karl Renners in der Wiener Zeitung vom 19. Jänner 1947 verweist, in dem für Österreich eine der Schweiz ähnliche Rolle gefordert wurde. Gerald Stourzh wiederum zitiprt Äiißerunppn Renners aus den Jahren 1945 und 1946, die die Lage Österreichs „zwischen den Einflußsphären der Weltmächte“ und am „Schnittpunkt aller kontinentalen Interessen“ betonen.

Sicherlich: die Vorstellung einer Neutralität „nach dem Muster der Schweiz“ erschien zwischen 1945 und 1955 zahlreichen Beobachtern — unter ihnen der frühere Außenminister Dr. Karl Gruber — für Österreich als Utopie. Die revidierte Neutralitätsauffassung der Schweiz, die Beteiligung unseres Nachbarn an internationalen Organisationen und Aufgaben haben jedoch gezeigt, daß sich auch die Position des Neutralen in einer Welt des Umbruchs ändern kann und daß Neutralität heute keineswegs mehr die internationale Solidarität ausschließt.

Der falsche Weg

Das Treffen von Außenminister Gruber und Pandit Nehru auf dem Bürgenstock, die Berliner Außenministerkonferenz vom Februar 1954, die Moskauer Verhandlungen vom April 1955: Meilensteine auf dem Weg zum 26. Oktober 1955, dem Tag, an dem der österreichische Nationalrat die immerwährende Neutralität beschlossen hat.

Vier Schlußfolgerungen sind es, die zusaarimenfiassend aus dem Gutachten gezogen werden können:

  • Die Neutralität findet ihre Basis in der geopolitischen Lage Österreichs: als Pufferstaat, als Paßstaat, als Nachbar eines anderen Neutralen.
  • Aus den Zwischenkriegsjahren lassen sich zahlreiche Belege für eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Gedanken einer österreichischen Neutralität erbringen.
  • Das Bestehen einer tatsächlichen österreichischen Neutralitätspolitik in jenen Jahren läßt sich nachweisen.
  • Es ist also durchaus verständlich, wenn dieser Neutralitätsgedanke, der sich wie ein roter Faden durch das österreichische politische Denken zieht, nach der Wiedererrichtung der Republik Österreich aufgegriffen wird.

So hat nun die Neutralität nicht nur eine zehnjährige Tradition, in der das neutrale Österreich seine Position festigen und stärken konnte, sondern eine Tradition, die viel weiter zurückreicht, die zurückreicht in die Tage, da das kleine Österreich verwirrt nach gangbaren Wegen suchte, die es damals, unter der Ungunst der äußeren Verhältnisse und verwirrt durch den Zeitgeist, nicht zu beschreiten wagte.

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