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Nationalismus und Katholizismus

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In einem weitausholenden Referat (vgl. „Entgiftung der öffentlichen Meinung“, „Furche“ Nr. 32) hat auf der bedeutenden internationalen Arbeitstagung der Pax-Christi-Bewegung in Köln-Altenberg das Redakticnsmitglied der „Furche“, Doz. Dr. Heer, die Grundlagen für eine „Entgiftung der öffentlichen Meinung“ untersucht und dabei die Notwendigkeit einer Neuformung des Begriffes „Nationalismus“ für den Katholiken dargestellt. Im folgenden Schlußteil des Referates -werden als unerläßliche Hilfsmittel für die neuartige Missionsarbeit des modernen katholischen Publizisten konkrete Arbeitsvorschläge gemacht. Die „Furche“

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In einem weitausholenden Referat (vgl. „Entgiftung der öffentlichen Meinung“, „Furche“ Nr. 32) hat auf der bedeutenden internationalen Arbeitstagung der Pax-Christi-Bewegung in Köln-Altenberg das Redakticnsmitglied der „Furche“, Doz. Dr. Heer, die Grundlagen für eine „Entgiftung der öffentlichen Meinung“ untersucht und dabei die Notwendigkeit einer Neuformung des Begriffes „Nationalismus“ für den Katholiken dargestellt. Im folgenden Schlußteil des Referates -werden als unerläßliche Hilfsmittel für die neuartige Missionsarbeit des modernen katholischen Publizisten konkrete Arbeitsvorschläge gemacht. Die „Furche“

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Angesichts der dreifachen Einengung: im nationalen, im europäischen und im innerkirchlichen Ghetto sieht sich der wache katholische Publizist und Historiker einer Mammutaufgabe gegenüber, die er allein mit den. bisherigen Mitteln nicht befriedigend lösen kann. Wie soll er es wagen, die ganze Geschichte seines Volkes darzustellen, wenn engster Nationalismus führender Männer ihm. Hoch- und Landesverrat vorwirft? Wie soll es ihm möglich sein, die Vorgänge in und um Europa und in der Kirche objektiv darzustellen, wenn ihm katholische Zeitungen und Verlage nicht weit genug die Türe öffnen?

Spes contra spem: Dennoch, allen heutigen Realitäten und Herrschaftssystemen zum Trotz müssen wir an die Arbeit gehen. Es seien deshalb hier sieben Arbeitsvorschläge vorgebracht.

Dringend fehlt uns ein katholisches Handbuch für den katholischen Europäer. Dieses hat in Bild, Bericht und Dokument Europas Katholizitäi, die Völker Europas in der einen Kirche, die Schätze der Kirche und die Gaben der Völker an die Christenheit darzustellen. Europas Katholiken kennen einander noch gar nicht: deshalb sollen hier die großen Sakrallandschaften des Abendlandes dargestellt werden, die Heiligen Europas und seiner Völker, so wie etwa vorbildlich Georg Schreiber die Beziehungen zwischen Spanien und Deutschland in seiner „religiösen Volkskunde“ dargestellt har. Dieses Handbuch sollte in zwei Ausgaben gleichzeitig erscheinen (zunächst französisch, italienisch und deutsch), und zwar sowohl in großer, wissenschaftlicher Form wie als Vademekum, als Hand- und Hilfsbuch für Prediger, Priesterseminare, katholische Erzieher, Schulen. Da wir europäische Katholiken heute dafür verantwortlich sind und auch zur Verantwortung gezogen werden, daß aus Europa nicht nur Gifte, Materialismen, technische Produktionen, Ressentiments und Ideologien in die eine Welt ausströmen, sondern auch gute Gaben, soll uns dieses Handbuch die reichen, ungenützten Schätze europäischer Katholizität bewußt vorstellen und zur Nutzung mittein.

Pax Christi soll ferner in Zusammenarbeit mit den. katholischen Nachrichtenagenturen und der katholischen Presse darauf hinarbeiten, daß mehr Sachberichte über das innere Leben, die Geschichte und Tradition der Völker Europas in den einzelnen Ländern erscheinen, wobei jedes Jahr Sonderhefte etwa in. Frankreich den deutschen katholischen Raum mit seinen Domen präsentieren sollten — und dann auch, synkopiert, französische Kathedralen, italienische Dorfkirchen, deutsche Gotteshäuser, holländische Universitäten einander ins Gesicht

sehen. Das Fremde und Andersartige soll dabei nicht verwischt werden, sondern sachlich unterrichtend vorgestellt werden, einem Begreifen in Liebe, auch als Chance für eine Bereicherung der eigenen christlichen Existenz.

Da die europäische Katholizität der katholischen Tagespresse zu wünschen übrig läßt, ist auch hier eine sachliche Berichterstattung über die inneren Fragen der Nachbarnationen anzustreben,

durch stärkere Heranziehung von Auslandsmitarbeitern und durch öffentliche Diskussion und Erörterung von Mißverständnissen, Streitfällen. Das wäre ein täglicher Prüfstand der eigenen Katholizität!

Da eine Zusammenarbeit der katholischen Historiker, Publizisten, Schriftsteller und Dichter in Europa noch kaum besteht, sollen etwa alle 2 bis 3 Jahre ernste Treffen die Möglichkeit einer Begegnung eröffnen. Gemeinsames Beten, Wohnen, Arbeiten und eine sehr sorgfältige Vorbereitung dieser Treffen müßte diese Begegnung frucht-

bar machen können und sie unterscheiden von den zahlreichen, so wenig fruchtbaren Kongressen, die heute überall und nirgends (weil in keinem Ort die wirkliche Kommunion beheimatet ist) stattfinden.

Aus einer Zusammenarbeit von innerlich jungen Priestern und Laien sollte in konkreter Programmatik, mit dem Blick auf jene comic books, Kriminalromane und Filme, die Europa verseuchen und den Atem der Jugend vergiften, im Hinblick auch auf das neue Anschwellen einer nationalistischen Kriegsliteratur, ein neues Jugendschrifttum geschaffen werden, das unserer Jugend zu zeigen hat: Es gibt nichts Gefährlicheres und Schöneres als das Wagnis, Christ, Katholik im heutigen Europa zu sein. Europäischer Christ, in den Wüsten und Steppen und Dschungeln Europas, mitten ausgesetzt im Machtkampf der Weltmächte und der großen Interessenverbände, ist ein kühneres Abenteuer als die Meerfahrt des Odysseus, als die Höllenfahrt Dantes, als alle Pionierleistungen der Polarforscher und Himalajabezwinger: denn hier haben wir mit Mächten des Hasses, der Lüge, des Terrors zu ringen, zu deren Bezwingung es neuer Helden und neuer Heiliger bedarf — heroi-

scher Einzelkämpfer, die den Kampf in der eigenen Brust, in der eigenen Partei, in der eigenen kirchenpolitischen Fraktion auf sich zu nehmen bereit sind. — Eine solche neue europäische katholische Jugendliteratur könnte alle Mären Graham Greenes in den Schatten stellen — sie wäre die beste Werbung für ein junges Priestertum. Sie setzt einen Sinn für Freiheit und Würde der Person voraus, eine offene Katholizität, die sich eben in den Teams dieses neuen Jugendschrifttums in Arbeit, Opfer und unvermeidlichen Niederlagen am besten bilden kann.

Kcine Entgiftung der öffentlichen Meinung ohne eine neue Spiritualität im. europäischen Katholizismus! Kein europäischer Katholizismus ohne eine Belebung, der europäischen Orden und ordensverwandten Institute. Pax Christi soll einen Appell und eine Einladung an die alteuropäischen Orden und Klöster richten, an Benediktiner, Franziskaner, Dominikaner und Jesuiten und an die neueren Gründungen, ihre europäische Tradition zu aktivieren.

Hier liegt sehr viel reiches Gut ungenützt brach. Die Missionierung Europas hängt als ein kommunizierendes Gefäß untrennbar zusammen mit der Missionierung der anderen Kontinente, und beide könnten unendlich viel gewinnen durch eine Hereinnahme der Ordenstraditionen zur Bewältigung unserer Gegenwartsaufgaben in Europa. Es hat etwas Erschütterndes an sich: wie wenig steht jahraus, jahrein in dem überreichen Schrifttum unserer Orden von den konkreten geschichtlichen Leistungen dieser Orden in Alteuropa — und deshalb wird der Anspruch auch nicht sichtbar, den diese Opfer, und Taten der Vergangenheit in der Gegenwart anmelden.

Es sollte eine Art Buchklub der

europäischen Katholiken geschaffen werden, keine neue Organisation — seine Arbeit sollte, wie alle hier genannten Arbeiten und Werke innerhalb und von den bestehenden katholischen Organisationen mitbetreut werden — in diesem Falle also von den nationalen katholischen Pressevereinen, Nachrichtenagenturen, Bildungswerken usw., nicht zu vergessen die katholischen Buchhändler und Büchergilden; die Aufgabe dieses' Buchklubs bestünde darin, das wesentliche, katholische und das für die Kenntnis der Nachbar- und Partnerländer notwendige

richtige Schrifttum (Literatur, Theologie, Historie) der anderen Länder im eigenen nationalen Raum bekanntzumachen; und etwa jährlich in Listen zu erfassen, in Sammelreferaten vorzustellen. Ein Beispiel: wieviele Werke des französischen Katholizismus zwischen Hello, Peguy und Bernanos sind heute bereits in Deutschland übersetzt, bekannt und umgekehrt: die letzten Jahre haben viele Uebersetzungen deutscher Werke ins Französische gebracht. — Wie' wenig nutzbar gemacht aber wurden diese Früchte der Theologie und Dichtung einer breiteren Begegnung zwischen deutschem und französischem Katholizismus. Wie leicht aber wäre es, bei einigen gutem Willen, zu zeigen, daß hier jeweils ein einzelner als Dichter und Theologe dem Nachbarvolk die reichen Schätze, die Erfahrungen, die spezifische Humanität eben seines Volkes darbringt — ohne Arglist, aus der Fülle, die zum reinen Geben drängt.

Alle Arbeitsvorschläge und Resolutionen werden freilich nichts nützen und in der oberflächlichen Sphäre der Organisationen verhaftet bleiben, wenn diese Arbeit der Entgiftung der öffentlichen Meinung nicht aus einer vertieften und erneuerten Gotteserfahrung sich nährt, wobei an die Stelle des politischen Monotheismus ein lebendiger Glaube an die Allerheiligste ' Dreifaltigkeit tritt. Im Namen des politischen Monotheismus haben von Konstantin bis zur Gegenwart alle Totalitären ihre Staaten gebaut, als gigantische Monolithe unter der Devise: Ein Gott, ein

Imperator, ein König, ein Glaube, eine Staatswirtschaft und eine Staatskultur. Dieser politische Monotheismus kristallisiert sich, seinen inneren Gesetzen hörig, zwangsweise in geschlossenen Einheitsstaaten und später in Nationalismen: es kämpft dann eben jede Nation mit ihrem Gott, ihrem Eingott, der für sie _ zum Fetisch wird, zur Fahne ihrer Begierden und Idol ihrer Leidenschaften, wider andere Nationen. Europa aber kann nur bestehen in einem erneuerten Glauben an die Trinität, in dem es einst begründet wurde durch Augustin, mit seinem Hauptwerk „De Trinitate“. In tiefem Instinkt wurden durch 1000 Jahre, vom 9. bis zum 19. Jahrhundert, alle Verträge im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit geschlossen, in nomine sanetae et individuae trinitatis. Die innere Geschichte Europas seit etwa 800 Jahren ist in ihrer tiefsten Dimension ein Kampf um die Dreifaltigkeit, der heute darin gipfelt, daß der Mensch selbst die Dreifaltigkeit spielen will, er will selbst der Vater sein, der alles geben und schaffen kann, will selbst der Sohn sein, der nun alles fordert, will selbst der Heilige Geist sein, der alles weiß. Durch diese Perversion entsteht jene maßlose Gereiztheit, Begierlichkeit und Ueberforderung des heutigen Menschen, der es übernommen hat, den Schaffens- und Liebesprozeß in der Gottheit selbst zu realisieren, und der in dieser Ueberforderung und Ueberanstrengung zerbricht. Der erste Atombombenversuch in Amerika fand unter der Devise „Trinity“ — Dreifaltigkeit — statt. Im hohen 18. Jahrhundert hatte der Graf von Saint-Martin im Salon der Her-

zogin von Bourbon bewußt an die Stelle der Allerheiligsten Dreifaltigkeit den neuen Ter-nar „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ gesetzt. Dieser unheilige Ternar trägt aber ein Doppelgesicht: er ist Erbe aller Häresien und Halbwahrheiten und gleichzeitig Mahnung an uns Christen und Katholiken, den Glauben an die Allerheiligste Dreifaltigkeit in unserer katholischen und europäischen Existenz zu bezeugen: die Pflege und Verehrung der Vaterschaft Gottes rückt allein alle Vater-und Mutterländer ins rechte Licht, die Pflege der Sohnschaft Gottes verpflichtet uns zur Bruderschaft und Brüderlichkeit, die wir Katholiken allzulange den Sekten und anderen nonkorformistischen Bewegungen überlassen haben.

Wer sich einige Jahrzehnte im katholischen Milieu bewegt, weiß, daß diesem nichts so fern ist wie eine herzhafte, bewußt gepflegte Brüderlichkeit. An ihr hängt der Atem der Freiheit und der Würde persönlicher Verantwortung. Wenn wir Katholiken nicht eine neue Brüderlichkeit und Bruderschaft wagen, werden wir nicht nur von den Sekten und von asiatischen Denk- und Glaubenssystemen überflügelt werden, sondern werden zuschan-den werden in der einen Welt, die auf Freiheit, Heiterkeit, Freude wartet und die sich dem hingeben wird, der ihr wahre Bruderschaft bringt.

In eben diesem Augenblick, in dem, im Trauen auf die Trinität, europäische Katholiken diese neue Bruderschaft zu leben wagen, wird eine neue Stunde Europas beginnen.

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