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Nehru - und was weiter?

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bon die Atmosphäre eines Leichenbegängnisses aus, dessen beklemmende Würde nur sporadisch von verhaltenen Haßausbrüchen gestört wurde. Eine eigenartige Konstellation erteilte ausgerechnet jenem Mann das Wort zur Darlegung der Regierungserklärung, der vor nicht allzu langer Zeit den Männern der „Algerie francaise“ die leidenschaftlichsten Argumente lieferte und noch als Chef des Kabinetts versicherte, nie werde es zu politischen Verhandlungen mit der algerischen Rebellion kommen. Das böse Wort

„Verrat“ schwebte über der Versammlung und fand seinen intensivsten Ausdruck, als der Abgeordnete Porto-lano im Namen der algerischen Deputierten eine Erklärung abgab, die in eine vom ganzen Haus stehend gesungene oder doch angehörte Marseillaise überging.

Was konnte es für einen Sinn haben, sich dem Schmerz der Amputation noch emphatisch hinzugeben. Die wütenden und unkoordinierten Attacken der Rechten rissen nur immer wieder

aufs neue Wunden auf, deren rasche Heilung allein herbeigesehnt werden mußte. Und für die allernächste Zukunft verblieb bloß die Hoffnung, daß es Frankreich erspart bleiben -möge, die Waffen gegen die algerischen Brüder zu richten. Aber die Würfel waren bereits gefallen,

Allerdings noch nicht in Algerien selbst. Dort gehen die Kämpfe zwischen den OAS-Rebellen und den sich loyal verhaltenden Armeeeinheiten weiter. Eine düstere Szenerie, derer sich Frankreich noch lange erinnern wird.

Wenn man die fertig ausgezählten Ergebnisse der allgemeinen Wahlen der Indischen Union auf einen kurzen Nenner bringen will, so gelangt man zur scheinbar paradoxen Schlußfolgerung, daß Nehru als Sieger, seine Partei aber als Verliererin aus diesen Wahlen hervorgegangen ist. Wo immer der Premier die Hände mit im Spiel hatte und sich besonders engagierte, sieht er seine Bemühungen von Erfolg gekrönt. In Nord-Bombay hatte er bekanntlich den Wahlkampf begonnen. Im Anschluß daran hielt er kaum eine Rede, in der er nicht mit aller Deutlichkeit für Krishna Menon Stellung bezog und jeden, der für die Kongreßpartei, aber gegen seinen Verteidigungsminister eingestellt war, ,,in die Hölle schickte“. Dieses vehemente Auftreten hat Nehru nicht nur nicht geschadet, sondern seinem Schützling außerordentlich geholfen. Die polirischen Beobachter sind sich darüber einig, daß ohne die Unterstützung des Premiers Menon niemals den gloriosen Sieg über J. B. Kripalani errungen hätte. Daß es möglich werden konnte, den abtrünnigen ehemaligen Präsidenten der Kongreßpartei und engsten Mitarbeiter Mahatma Gandhis mit einem klaren 2:1 zu schlagen, überstieg die kühnsten Erwartungen der Anhänger Menons.

Absolute Mehrheit in der Lok Sabha

Auch mit dem Ausgang der Zentral-parkmentswahlen- aar? Nehw- zufrieden sein.''Vön,,äen 494 ^stMttiÄewS€iJts rr hat seine Partei mehr als 350 errungen. Der Premier kann also einmal mehr mit einer großen, absoluten Mehrheit regieren. Die Kongreßpartei erlitt zwar wiederum einen Verlust von rund 30 Sitzen, und die Tendenz, daß jene Partei, welche Großbritannien die Freiheit des Landes abgetrotzt hat, seit Erlangung der Unabhängigkeit am Zusammenbröckeln ist, scheint sich immer mehr abzuzeichnen. Immerhin kann The National Congress noch manche Einbußen in Kauf nehmen, bis er auf nationaler Ebene zur Bildung von Koalitionsregierungen gezwungen werden kann.

Verluste in der Radhjya Sabha zugunsten der Rechtsparteien

Was für die Lok Sabha, das Zentralparlament in Neu-Delhi, gilt, trifft nicht für die Radhjya Sabha, die Parlamente der einzelnen Staaten, zu Schon vor Jahren hat die Kongreßpartei die absolute Mehrheit in Kerala und Orissa eingebüßt. Jetzt folgten die großen Staaten Madhya Pradesh (M. P.) und Rajasthan. Im ersten Staat hat die Mehrheitspartei 90, im zweiten 31 Sitze verloren. Selbst der Premier von Madhya Pradesh, Dr. Katja, ein durchaus bewährter Mann, wurde vom Kandidaten der Hindupartei, die — im Unterschied zu den Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten — tber-haupt gut abschnitt, geschlagen. Wenn die Entwicklung in diesem Maß fortgehreitet, verfügt die Kongreßpartei schon nach den nächsten oder übernächsten Wahlen nicht mehr über die absolute Mehrheit in den großen Staaten Andra Pradesh, Uttar Pradesh, Bihar, Punjab, Madras und Mysere. Es tut sich also ein immer größerer Graben zwischen Staatsparlamenten und Zentralparlament, zwischen Staatsregierungen und der Bundesregierung in Neu-Delhi auf. Die indischen Wähler scheinen mit ihrem Votum zum Ausdruck zu bringen, daß sie für eine stabile Bundesregierung unter Nehrus Leitung, aber gegen die Herrschst deT Kongreßpartei in den sie direkt betreffenden Einzelstaaten eintreten. Was recht ist für Neu-Delhi, scheint falsch zu sein für Lucknow, Jaipur und Chandigarh. Unstabile Staatsregierungen schließen nicht eine stabile Bundesregierung aus.

Diese Entwicklung kann als der Anfang vom Ende bezeichnet werden. Pessimistische Beobachter sehen Neu-Delhi immer mehr von den einzelnen Staatsregierungen konditioniert. Anderseits bietet sich Indien durch diese besondere Lage die einmalige Gelegenheit, auf relativ ungefährliche Art und Weise Demokratie zu spielen. Bisher schloß ja das vom Volk delegierte Machtmonopol der Kongreßpartei sozusagen jeden effektiven Erfolg der Oppositionsparteien von vornherein aus. Die parlamentarischen Debatten vermochten kaum noch den vorher gefaßten Entschluß der Kongreßpartei aufzuheben. Je mehr die Mehrheitspartei genötigt wird, sich mit einzelnen Minderheitsparteien zusammenzuschließen, desto mehr wird der politische Kampf in die Öffentlichkeit getragen, was aus der indischen Scheindemokratie eine echte Demokratie machen könnte. Anderseits dürfen die Gefahren, die aus dieser Un-stabilität erwachsen, nicht übersehen werden. Es gibt vorderhand keine Partei, die das Erbe der Kongreßpartei

antreten könnte. Wenn der buntscheckige Haufen der Kongreßpartei nicht von sich aus auseinanderbricht, was viele Beobachter auf die lange Sicht hin für unausweichlich halten, so zeichnet sich noch immer keine Möglichkeit für ein indisches Zweiparteiensystem ab. Die Oppositionsparteien sind nur in ihrer Gesamtheit erstarkt. Keine von ihnen vermag für sich allein eine eigentliche politische Alternative darzustellen. Die neue liberale Swantantra Party vermochte zwar auf einen Schlag 166 Sitze in den Staatsparlamenten zu erringen, was sie zur stärksten politischen Gruppe in den Einzelstaaten macht. Im Zentralparlament nehmen ihre Abgeordneten jedoch nicht einmal 20 von insgesamt 507 Sitzen ein. Hier ist es eben der Halbgott Nehru, welcher alles überschattet.

Helden Verehrung und Unstabilität

Wenn eine Schlußfolgerung mit Sicherheit aus diesen Wahlen gezogen werden kann, so ist es die folgende: Parteiprogramme und politische Ideo-

logien zählen in Indien noch immer wenig oder nichts. Es kommt hier auf die einzelnen Persönlichkeiten an, neben Nehru vor allem auf die Prinzen und Prinzessinnen und die kleineren und größeren Sterne am politischen Himmel dieses Landes. Die stärksten Mehrheiten haben interessanterweise dife Maharajas und Maharanis erzielt. Sobald sich die ehemaligen Fürsten aus Vergnügen oder ehrlicher Überzeugung in die politische Arena begeben, erzielen sie Erfolge, die sie sich vorher selbst nicht erträumten. Im Jahre 1947 hat sie der nach englischem Vorbild gegründete Staat weitgehend enteignet. 15 Jahre später hebt sie das Volk abermals auf den Thron. Politische Agitatoren gefallen sich darin, im Wahlkampf die größten Namen mit Schimpfworten zu belegen. Der einfache Inder denkt sich, daß derjenige, der so etwas ungestraft tun kann, ein mächtiger, einflußreicher Mann sein muß, von dem man viel erwarten könne, und läßt sich leicht verleiten, ihm seine Stimme zu geben. So ist der politische Boden in diesem Land sehr labil. Die Stabilität, welche das Ausland der indischen Politik zubilligt, besteht nur zum Schein. Sie entbehrt der Verankerung in festen politischen Überzeugungen, in einem Zweiparteiensystem oder einer Gruppe irgendwie ideologisch synchronisierter politischer Parteien, die sowohl auf regionaler wie auf nationaler Ebene als politische Alternative auftreten könnte. Schließlich hängt diese Stabilität von der Persönlichkeit des Premiers ab. Die Frage „Was geschieht nach Nehru?“ wird immer dringlicher. Wenn der Pandit einmal tot ist, werden seine Siege der Kongreßpartei nicht mehr zugute kommen, und ihre Verluste müßten noch stärker als bei den eben durchgeführten Wahlen ins Gewicht fallen.

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