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Neurotisches Genie

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Ich weiß nicht, wie die Welt mich sieht; ich kam mir selbst immer wie ein kleiner Junge vor, der am Strand spielt und sich von Zeit zu Zeit damit vergnügt, einen noch glatteren Kiesel oder eine noch hübschere Muschelschale zu finden, während der große Ozean der Wahrheit völlig un-entdeckt vor mir lag.“ So faßte Isaac Newton sein Leben rückblickend zusammen. Eine bescheidene Einschätzung: „Newton war einer der größten Wissenschaftler aller Zeiten - und für viele ist er der größte überhaupt“, schreibt der renommierte Newton-Kenner Richard Westfall in seiner Biographie über den großen englischen Physiker.

Mit den Werken „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ (1684) und „Opticks“ (1704) machte sich Newton als Naturwissenschaftler unsterblich:

■ In den Principia stellte Newton die grundlegenden Axiome der klassischen Mechanik auf. Weiters bewies er, daß die irdischen Naturgesetze auch für Himmelskörper gelten und beschrieb das Prinzip der allgemeinen Gravitation, das heißt die Tatsache, daß Massen sich gegenseitig anziehen.

■ In „Opticks“ erkannte er als erster die Zusammensetzung des weißen Lichts aus den Spektralfarben. Verschiedene Eigenschaften der Lichts wie Beugung und Interferenz erklärte er damit, daß Licht aus kleinen Teilchen bestehe.

Isaac Newton wurde am Weihnachtsmorgen des Jahres 1642 in einem Dorf in der englischen Grafschaft Lincolnshire geboren. Sein Vater starb drei Monate vor seiner Geburt. Als seine Mutter zum zweiten Mal heiratete, wurde der dreijährige Newton zu seinen Großeltern abgeschoben, zu denen er nie eine innige Beziehung entwickelte. Westfall vermutet darin die Ursache dafür, daß aus Newton „ein gequälter Mensch“ wurde, „eine hochneurotische Persönlichkeit, die zumindest in ihren mittleren Lebensjahren stets am Rande des Zusammenbruchs entlangtaumelte“.

Als Teenager beschäftigte er sich intensiv mit dem Bau von Sonnenuhren; bis an sein Lebensende blickte er, wenn man ihn nach der Uhrzeit fragte, nicht auf die Uhr, sondern auf die von der Sonne geworfenen Schatten. Als 18jähriger trat er in das Trinity-College an der Universität von Cambridge ein. Wie schon in der Grundschule blieb Newton ein einsamer, schweigsamer Außenseiter. Zu jener Zeit war das heute weltberühmte College völlig heruntergekommen; weder Studenten noch Professoren nahmen den völlig veralteten Lehrplan ernst, was allen genügend Zeit zu an-derwärtiger Beschäftigung bot.

Newton nutzte diese Möglichkeit auf seine Art: Innerhalb weniger Jahre eignete er sich autodidaktisch das damalige mathematische und physikalische Wissen an und forschte intensiv auf den verschiedensten Gebieten. Hatte ihn einmal ein Problem gefesselt, arbeitete er wie ein ———«— Besessener und vergaß oft aufs Essen oder Schlafen. „Im Speisesaal kam es vor, daß der Tisch abgeräumt wurde, bevor er etwas gegessen hatte“, berichtet ein Kollege. Auch die berühmte Anekdote, wonach Newton beim Herabfallen eines Apfels die Idee für die allgemeine Gravitation kam, fällt in diese zeit.

Allerdings dauerte es über 20 Jahre, bis er eine seiner Forschungen wirklich zu Ende brachte. Bis dahin veröffentlichte er nur kürzere Abhandlungen - und die zumeist auf Druck von außen: Zuerst aus Angst, Kontakte mit anderen Wissenschaftlern würden ihn wertvolle Zeit kosten, dann aufgrund seines Hangs zur Perfektion, der ihn kaum etwas als druckreif erscheinen ließ.

In den Jahren 1665 und 1666 erfand Newton die Differential- und die Integralrechnung - und behielt die Entdeckung für sich. Zehn Jahre später erfand der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis

1716) unabhängig von Newton jenen Kalkül und heimste den Buhm dafür ein; deswegen entbrannte 1711 ein erbitterter Streit zwischen Newton und Lebniz über die Urheberschaft der Entdeckung, der bis zum Tod von Leibniz andauerte.

1669 bekam Newton einen Lehrstuhl in seinem College, 1672 wurde er Mitglied in der Royal Society, der ältesten britischen Akademie der Wissenschaften. Newton galt als verschroben, wurde aber allgemein mit Respekt behandelt: „Wenn er im Garten umherging und auf den Wegen frischer Kies gestreut war, konnte man sicher sein, daß Sir Isaac mit der Stockspitze überall seine Skizzen anbrachte; die Fellows schonten sie mit Bedacht, so daß sie manchmal ziemlich lange erhalten blieben“, erzählte ein Zeitgenosse. Damals beschäftigte sich Newton auch intensiv mit Alchimie; trotz seiner Kontaktscheue führte er eine umfangreiche Korrespondenz mit anderen Alchimisten.

Die Veröffentlichung der Principia im Jahr 1684 markiert einen Wendepunkt: Nach zwei Jahrzehnten abgebrochener Forschungen hatte er endlich einmal etwas zu Ende gebracht. Die Principia wurden binnen kürzester Zeit in der Naturphilosophie zur maßgeblichen Lehre. Newton gewann Selbstvertrauen und schloß Bekanntschaften, unter deren Einfluß seine Zurückhaltung zu weichen begann. In den folgenden 20 Jahren trug er all das an die Öffentlichkeit, was bis dahin in den Laden seines Schreibtisches verborgen war.

Bald stellte sich auch der gesellschaftliche Aufstieg ein: 1689 wurde er in das Parlament entsandt, 1696 nahm er einen relativ unbedeutenden, aber finanziell lukrativen Beamtenposten in der Londoner Münze an, wo er unter anderem für die Verfolgung von Falschmünzern verantwortlich war. Fünf Jahre später wurde er zum Direktor der Münze bestellt. 1703 wurde er zum Präsidenten der Boyal Society gewählt. 1705

schließlich wurde er in den Ritterstand erhoben und durfte sich fortan Sir Isaac Newton nennen. Die Veröffentlichung von „Opticks“ im Jahr 1704 war seine letzte große wissenschaftliche Leistung- obwohl seine Entdeckungen zu diesem Zeitpunkt schon über 30 Jahre zurücklagen. Von nun richtete er sich behaglich in seinen Machtpositionen ein, die er noch über zwei Jahrzehnte lang innehaben sollte.

Am Sterbebett ' verweigerte Newton das Sterbesakrament: Während seiner theologischen Studien war der äußerst bibelfeste Newton zu einem überzeugten Arianer geworden; das heißt er hielt die Lehre von der Dreifaltigkeit für eine Verfälschung der Bibel. Westfall: „Sein persönliches Glaubensbekenntnis, das er seit 50 Jahren nicht öffentlich auszusprechen gewagt hatte.“

Isaac Newton starb am 20. März 1727 einen schmerzlosen Tod.

ISAAC NEWTON

Von Richard Westfall Spektrum Akademischer Verlag, | Heidelberg, Berlin und Oxford 1996. *: 408 Seiten, öS 424,-

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