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Neutralität und europäische Wirtschaftsgemeinschaft

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Die Moskauer Verhandlungen im Frühjahr 195 5 fanden ihren dokumentarischen Niederschlag im sogenannten Moskauer Memorandum, das ursprünglich eine Verwendungszusage der Delegationsmitglieder war, später aber durch die entsprechenden Beschlüsse der Bundesregierung, des Hauptausschusses des Parlaments und des Parlaments selbst völkerrechtliche Verbindlichkeit erlangte.

Bezüglich der österreichischen Neutralität heißt es im Moskauer Memorandum wörtlich:

„Im Sinne der von Oesterreich bereits auf der Konferenz von Berlin im Jahre 1954 abgegebenen Erklärung, keinen militärischen Bündnissen beizutreten und militärische Stützpunkte auf seinem Ge-

.:, biet nicht zuzulassen, wird die österreichische Bundesregierung eine' Deklaration in einer1 Form

,7 äbgÄeni.s)aie“-'öeiterreich internatrordaz'veV'-pflichtet, immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird.“

Es ist daher begreiflich, daß schweizerische Stellungnahmen zu Problemen der Neutralität in Oesterreich besondere Beachtung verdienen.

In der letzten Zeit fanden in der Schweiz besonders lebhafte Diskussionen über die Frage der Vereinbarkeit der schweizerischen Neutralität mit der Zugehörigkeit zu der Freihandelszone und dem Gemeinsamen Markt statt. Dabei wurde im allgemeinen der Standpunkt vertreten, daß die Zugehörigkeit zum Gemeinsamen Markt jedenfalls in seiner gegenwärtigen Form nicht ohne weiteres mit den Grundsätzen der schweizerischen Neutralität zu vereinbaren wäre. Die Beteiligung an der Freihandelszone hingegen war nach übereinstimmender Auffassung durchaus vertretbar.

Die Frage der Mitwirkung neutraler Staaten an den europäischen Integrationsbestrebungen hängt sehr innig mit den Aufgaben des neutralen Staates in Friedenszeiten zusammen. Nach meiner Ansicht hat der neutrale Staat in Friedenszeiten eine Politik zu führen, die ihm die Neutralität i n Kr i e g s z e i t e n ermöglichen 's o 1.1. Wenn es auch, richtig, ist, daß die Neutralität nicht ideologische Gleichgültigkeit, also Neutralismus, erfordert, so verpflichtet sie doch zu einem bestimmten Verhalten, das sich aber sehr eindeutig und man könnte fast sagen erschöpfend umschreiben läßt.

So kann der neutrale Staat keine militärischen Allianzen im Frieden eingehen, weil ihm dadurch die autonome Entscheidung über Krieg und Frieden genommen wird, aus dem gleichen Grunde darf er fremden Mächten die* Errichtung militärischer Basen nicht gestatten.

Ebensowenig kann der neutrale Staat auf wirtschaftlichem Gebiet Verpflichtungen eingehen, die ihn hindern könnten, in Kriegszeiten eine Politik der Neutralität zu beobachten.

Nach schweizerischer Auffassung — und ich teile diese Auffassung — soll der neutrale Staat sich bemühen, auch im Frieden das Vertrauen beider potentieller weltpolitischer Gegner zu erwerben. Daraus ergibt sich, daß jede Stellungnahme in der machtpolitischen Auseinandersetzung der Großmächte mit besonderer Gewissenhaftigkeit zu prüfen ist. Diese Entscheidung muß aber ausschließlich dem neutralen Staat vorbehalten bleiben. Denn nur er selber bestimmt den Inhalt seiner Politik und nur so kann er verhindern, die anderen zu Richtern seiner Unabhängigkeit zu machen.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Neutralität in engem Zusammenhang mit der nationalen Unabhängigkeit steht. In der Schweiz steht man auf dem Standpunkt, daß die Neutralität geradezu eine „qualifizierte Unabhängigkeit“ voraussetzt. Diese Auffassung scheint mir, was Oesterreich betrifft, nicht nur begrifflich, sondern auch historisch zuzutreffen. Bekanntlich wurden anläßlich der Moskauer Besprechungen im Jahr 195 5, die die Voraussetzungen zum Abschluß des Staatsvertrages schufen, von sowjetischer Seite Garantien für unsere Unabhängigkeit gefordert. Die einzige uns damals und auch heute möglich scheinende Garantie war eine unserseits in aller Form abzugebende Deklaration der immerwährenden Neutralität.

Damit stellt sich die sehr komplizierte Frage, inwieweit die Preisgabe von Souveränitätsrechten auch dann, wenn dieser Souveränitätsverzicht aus freien Stücken erfolgt, die Unabhängigkeit eines neutralen Staates reduziert.

Besonders aktuelle und praktische Bedeutung hat die Frage des Souveränitätsverzichts vor allem durch die Verwirklichung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erlangt.

Inhalt und Ausmaß der Unabhängigkeit eines Staates unterliegt nicht nur der formalen, sondern auch der substantiellen Beurteilung. Veraltete, mit den modernen Voraussetzungen der internationalen Arbeitsteilung nicht mehr zu vereinbarende völkerrechtliche Normen und Ansichten müssen eben revidiert werden. Was sollte es denn für einen Sinn haben, daß neutrale Staaten durch die Nichtbeteiligung an der europäischen Integration sich selber in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung hemmen und dadurch letzten Endes ihre Unabhängigkeit beeint/äch-r1 tigen? Steigende wirtschaftliche rosperitaf Folge der europäischen Integration trägt jedenfalls mehr zur Unabhängigkeit eines Staates bei als wirtschaftliche Unterentwicklung. Nach dem Wunsche des Verfassers dem die Qualifikation zur Aufstellung völkerrechtlicher Postulate fehlt, fühlt er sich zu dieser Darstellung nur auf Grund seiner täglichen Konfrontation mit der politischen Praxis legitimiert,

So ist für die Beurteilung der Beteiligung öster-reichischerseits an der europäischen Integration ausschlaggebend, welcher Art das zu integrie-rede Gebiet ist: ob es sich um ein solches des wirtschaftlichen, kulturellen, politischen oder militärischen Lebens handelt; wie tiefgreifend sie geplant ist, welche Staaten sie umfaßt: ob Großmächte und Kleinstaaten, bündnisverpflichtete und neutrale an ihr mitwirken.

Daraus ergibt sich, daß die Frage, ob sich das neutrale Oesterreich ohne weiteres der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung und ihrer gegenwärtigen Zielsetzung anschließen kann, jedenfalls nicht ohne vorhergehende gründliche Prüfung bejaht werden kann. Dabei wird aber nicht ganz davon abgesehen werden können, daß einer der Gründe, die zu diesem Zusammenschluß geführt haben, der war, den sechs militärisch verbündeten Staaten eine gemeinsame wirtschaftliche Grundlage zu geben.

Bei der starken wirtschaftlichen Verflechtung, die es heute in Europa gibt, scheint mir auch für die neutralen Staaten eine Assoziierung mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der Sechs für unbedingt notwendig. Dies wird am praktischesten und auch unbestrittensten über die Verwirklichung der europäischen Freihandelszone gefunden werden. Die Freihandelszone beabsichtigt nur ein weit geringeres Maß an euro- ' päischer Integration zu verwirklichen, und der vorgesehene Souveränitätsverzicht soll auf das allen 17 Mitgliedstaaten zumutbare Maß eingeschränkt werden. Aber es ist meine feste Ueber-zeugung, daß die Einrichtung der europäischen Freihandelszone, die nur begonnen werden kann als eine Art Kollektivvertrag der Elf mit Sechs nach dieser Zwischenform mit innerer Automatik zu einer immer stärkeren Harmonisierung und damit zu einer immer stärkeren Integrierung drängen muß.

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