6647347-1958_32_04.jpg
Digital In Arbeit

Neutralität und Weltstrategie

Werbung
Werbung
Werbung

Wer in den letzten Jahren die militärische Publizistik aufmerksam verfolgt, kann sich des Eindruckes der Irrealität strategischer Erwägungen nicht entziehen. Doch gerade jetzt ist es wichtiger als je, den wirklichen Verhältnissen in die Augen zu sehen. Was nämlich an den Publikationen westlicher militärischer Autoren, ganz gleich welcher Nationalität, in die Augen sticht, ist die merkwürdige Annahme, daß in einem zukünftigen Kriege Europa nicht nur der Hauptkriegsschauplatz sein, sondern daß auch hier die Entscheidung fallen wird. Auf dieser Annahme beruht ja auch der Aufbau der NATO. Die beiden letzten Weltkriege waren schon darum, im Grunde genommen, europäische Kriege, weil die eine der beiden Kriegsparteien, nämlich Deutschland, eine rein europäische Macht war. In beiden Fällen war zwar auch Amerika Kriegspartei. Eben darum mußte in beiden Waffengängen Deutschland verlieren, weil es von vornherein nicht die Möglichkeit hatte, außerhalb Europas wirkungsvoll zu operieren. Dazu waren in beiden Kriegen die USA und die Sowjetunion Bundesgenossen.

Sollte unglücklicherweise ein dritter Weltkrieg entbrennen, so steht schon heute außerhalb jeden Zweifels, daß Europa selbst trotz seiner Größe und seinem Menschenreichtum zu einem, wenn auch wichtigen, Nebenkriegsschauplatz werden und die Entscheidung des Krieges außerhalb Europas fallen wird. Die beiden wichtigsten Gegner in diesem Kriege würden die USA und die Sowjetunion sein. Dabei liegen die USA außerhalb Europas. Die Sowjetunion liegt zu einem kleineren Teil in Europa und zu ihrem größeren Teil in Asien. Man tut bei strategischen Erwägungen darum gut, die Sowjetunion als eigenen Kontinent, als Eurasien, wie es der russische Gelehrte Fürst Trubetzkoj einst bezeichnet hat, zu betrachten. Nehmen wir an, es gelänge der Sowjetunion, ganz Europa zu überrennen, selbst unter Einschluß der Pyrenäenhalbinsel. Was hätte es damit gewonnen? Der Hauptgegner, die USA, über das unermeßliche Potential des ganzen amerikanischen Kontinents verfügend, stände dann immer noch ungebrochen da. Das von Clausewitz treffend umschriebene Ziel eines jeden Krieges, dem Gegner seinen eigenen Willen aufzuzwingen, wäre nicht erreicht. Indessen nehmen wir den umgekehrten Fall an: es gelänge den vereinigten westlichen Kräften, in das europäische Rußland einzudringen, zum Beispiel bis an die Wolga vorzustoßen, wie dies im zweiten Weltkrieg Deutschland gelungen ist. Nun wissen wir, daß dieser Vorstoß nicht zur Niederwerfung Rußlands, sondern vielmehr zur Niederlage Deutschlands geführt hat. Es ist klar: die Entscheidung in einem neuen Krieg fällt entweder auf dem amerikanischen Kontinent oder in Rußland, irgendwo in der Gegend des Urals. Nur so könnte einer der beiden Gegner die lebendige Kraft des andern vernichten und ihm auf diese Weise seinen Willen aufzwingen.

Es gibt natürlich Spekulationen, die vorwiegend im Westen blühen und in denen Militärisches und Politisches miteinander kombiniert werden. Eine Reihe vernichtender Niederlagen sollte nicht so sehr die militärische Vernichtung des Gegners herbeiführen, sondern den politischen Zusammenbruch des herrschenden Regimes bewirken. Mit dem neuen Regime hätte man dann die Hoffnung, einen befriedigenden Frieden zu schließen. Das ist die Luden-dorffsche Konzeption, der, um dieses Ziel zu erreichen, bekanntlich Lenin in dem berühmten plombierten Wagen nach Rußland gebracht hat. Das war auch einmal die Konzeption Hitlers. Das ist auch heute die Konzeption solcher Leute, die nicht von einem Krieg gegen

Rußland als Land, sondern gegen den Kommunismus als solchen reden. Das alles sind jedoch reine Spekulationen. Die militärische Publizistik in der Sowjetunion beschäftigt sich in bezug auf die USA nicht mit solchen Gedankengängen. Was Rußland anbelangt, so kann man die psychologische Entwicklung der russischen Massen niemals voraus berechnen. 1613 bestand in Wirklichkeit kaum mehr ein moskowitisches Reich. Es gab kein russisches Heer. Moskau und der volkreichste Westen Moskowiens waren damals von den Polen besetzt. Da bildete sich an der Wolga ein Zentrum des nationalen Widerstandes, und die Russen siegten. 1917 fiel das Zarenregime zusammen, doch Deutschland errang dabei nur einen Pyrrhussieg. Im zweiten Weltkrieg stand Deutschland ein Rußland gegenüber, weit stärker als das der Zaren. Das sowjetische Regime hielt stand, obwohl der Feind vor Leningrad und Moskau sowie an der Wolga kämpfte und so weit mehr russisches Territorium besetzte als 1918 die damaligen Zentralmächte. Auch Napoleon hatte mit einem Aufstand der leibeigenen Bauern gegen ihre Herren spekuliert. Das Gegenteil trat ein. Die Bauern bildeten freiwillig Partisanenarmeen, welche die Niederlage Napoleons besiegelten.

Aus der sowjetischen Militärpublizistik ersieht man, daß die maßgebenden Militärs der Sowjetunion sich durchaus im klaren sind, wie ein dritter Weltkrieg verlaufen könnte. Schon in den zwanziger Jahren rechnete man mit der Möglichkeit eines Krieges mit den Vereinigten Staaten Amerikas, als der letzten Weltmacht des Kapitalismus. Damals gab es eine heftige Diskussion um die Probleme des Ausbaues der Roten Flotte. Als Grundlage wurde dabei angenommen, daß der erste Weltkrieg ein Kampf um die Beherrschung des Atlantiks war, daß dann später ein Krieg um die Herrschaft über den Stillen Ozean folgen würde. Wer schließlich den Pazifik beherrsche, beherrscht auch die Welt. Die Militärs in Moskau rechneten, daß es zu einem großen Krieg zwischen den USA und Japan um die Herrschaft im Pazifik kommen werde, endend mit dem Sieg Amerikas. Aber man sah auch für die Sowjetunion die Notwendigkeit voraus, als letzte Pazifikmacht neben Amerika um die Herrschaft im Stillen Ozean zu ringen. Schon damals wurde die strategische Bedeutung des nördlichen Eismeeres sowie des Nordpoles einkalkuliert. Unglaubliche Energien wurden von den Russen zur Erschließung der Nordküste Sibiriens verwendet und so das nördliche Eismeer bis zum Nordpol tatsächlich in Besitz genommen. So wurde, mit beharrlicher Zähigkeit der jahrhundertealte Traum der Norweger, Schweden und Russen von dem großen nordischen Seeweg von Europa zum Stillen Ozean entlang der sibirischen Küste verwirklicht. Man hat auf Franz-Josefs- und Kronprinz-Rudolfs-Land russische Stutzpunkte errichtet, die Insel W\n?l besiedelt und entlang der langen sibirischen Küste, weit jenseits des Polarkreises, Großstädte, Bergwerke und Industrien geschaffen, doch die aufgebrachten Mittel und Energien stehen in keinem Verhältnis zum wirtschaftlichen Nutzwert. Diese Energien und Kapitalien hätte die Sowjetunion viel nutzbringender anderswo einsetzen können. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus hätte die Küste des Eismeeres ruhig noch auf die Erschließung warten können. Doch nicht vom militärischen Standpunkt aus. Denn außer Städten, Bergwerken und Industrien sind an dieser langen Küste gewaltige militärische Anlagen und zahlreiche Marinebasen geschaffen worden, die bereits über so viel maritime Kräfte verfügen, daß sie leicht die Herrschaft im Polargebiet erringen könnten. Die berühmten Bereitschaftsflüge der Amerikaner sind, militärisch gesehen, daher vollkommen begründet, denn von hier aus planen die Sowjets den Beschuß des amerikanischen Kontinents mit nuklearen Waffen.

Unbestreitbar rechnet die sowjetische strategische Doktrin im Falle eines Krieges mit einem direkten Angriff auf den amerikanischen Kontinent. Schon vor dem zweiten Weltkrieg ist Kamtschatka zu einer gewaltigen militärischen und maritimen Stellung ausgebaut worden, damals als Basis für eine eventuelle Invasion nach Japan. Ebenso ist der übrige russische Ferne Osten ausgebaut. Vor dem zweiten Weltkrieg stellten dort die Sowjets zwei „autarke“ Armeen auf. Die Kommanden der beiden Armeen saßen in Chabarowsk und Tschita. Erdölvorkommen wurden in diesem Gebiet erschlossen, Bergwerke eingerichtet, Eisenbahnen gelegt. Gewaltige Industrien, vor allem Rüstungswerke, entstanden dort. Damit nicht genug. Es wurde versucht, die Dichte der Bevölkerung zu verstärken, damit die beiden Armeen auch ihre Menschenreserven an Ort und Stelle hätten. Es wurden sogenannte militärische Kolchosen errichtet. Entlassene Reservisten bauten landwirtschaftliche Großbetriebe auf, welche die Ernährungsbasen der Armeen bilden sollten. Während die Sowjetunion in Europa um ihre Existenz kämpfte, hörte der Ausbau des russischen Fernen Ostens nicht eine Sekunde auf. Industrien wurden vom Westen zum Stillen Ozean verlegt. Eine Pipeline wurde von den Erdölvorkommen an die pazifische Küste gebaut. Nicht zu vergessen, daß die große sibirische Eisenbahnmagistrale während -des Krieges zweigeleisig ausgebaut wurde. Der Nachschubweg in den Fernen Osten ist durch ' die Entstehung sibirischer und kasakischer In-r dustriezentren wie Kusbass und Karaganda in Kasakistan stark verkürzt worden. Nicht zu vergessen der Bau der turkistanisch-sibirischen Eisenbahnmagistrale, die Zentralasien mit Sibirien direkt verbindet, welche die Erschließung der riesigen Weiten Kasakistans ermöglichte und damit den russischen Fernen Osten gewaltig stärkte. Den ganzen Krieg über, trotz aller Not, blieben die Sowjetarmeen im Fernen Osten, völlig unangetastet. Sie waren stark genug, um in den letzten Tagen des Weltkrieges sofort in die Mandschurei einzurücken und die vollkommen frische und sehr starke japanische Kwan-tung-Armee in einer mehrtägigen Schlacht zu vernichten.

An der Küste des Stillen Ozeans ist die Stärke der Sowjetunion als Resultat des zweiten Weltkrieges unvorstellbar gewachsen. Mit Südsachalin erhielt die Sowjetunion neue reiche Erdölvorkommen. Der Besitz der Kurilischen Inseln macht das Ochotskische Meer zu einem russischen Binnensee, zu einer gewaltigen maritimen Basis, in welche niemand Einblick erhält. Vermutlich werden hier und auf Kamtschatka die eventuellen Invasionsbasen für den amerikanischen Kontinent aufgebaut. Die vorläufig letzte Etappe dieser Entwicklung ist die völkerrechtswidrige Sperrung der Bucht Peter des Großen für den internationalen Seeverkehr.

Mit einkalkulieren muß man die sowjetischchinesische Bundesgenossenschaft. China mit seinen Menschenmassen, vor allem jedoch die Mandschurei mit ihrer landwirtschaftlichen Produktion und der von den Japanern ausgebauten Kriegsindustrie, bildet eine wesentliche Verstärkung der russischen Stellung am Stillen Ozean.

Wenn von der Nordküste Sibiriens aus die Sowjets den Beschuß Amerikas planen, so ist ebenso zweifellos, daß sie im Fernen Osten an einer Zusammenballung militärischer und maritimer Kräfte arbeiten, die eine schnelle und wirkungsvolle Invasion der USA im Falle eines dritten Weltkrieges ermöglichen sollen.

Mail hüte sich, diese sowjetischen Pläne als Phantasien abzutun. Vor etwa hundert Jahren sind ja schon die Russen in Kalifornien gelandet und haben dort mehrere Jahre die Festung Ross gehalten. Sie sollte den Getreideanbau für das russische Alaska sichern. Nikolaus I, ließ dann diese Festung räumen, weil er Kalifornien als spanischen Boden betrachtete und als Verfechter des monarchischen Gedankens die legitimen Rechte eines Königs nicht verletzen wollte. Es war eine kleine Operation, doch in den letzten hundert Jahren ist die Technik so gewaltig gewachsen, daß ihre Wiederholung in gigantischem Ausmaße durchaus möglich ist.

(Ein zweiter Artikel folgt.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung