6742266-1966_46_06.jpg
Digital In Arbeit

Nicht mehr Avantgarde

Werbung
Werbung
Werbung

Nach siebenjährigem, von den Stalinisten verordnetem Schweigen trat Wladyslaw Gomulka am 20. Oktober 1956 wieder vor das Zentralkomitee der polnischen Kommunisten: „Man hat mir vorgeworfen, daß der Standpunkt, den ich in verschiedenen Fragen einnahm, vom Unglauben an die Arbeiterklasse beeinflußt gewesen sei. Das ist nicht wahr. Nie habe ich den Glauben an den Verstand, die Vernunft, die Opferbereitschaft und die revolutionäre Haltung der Arbeiterklasse verloren.“

Er hatte auch den Glauben an seine Partei, „die Vorhut des Prole tariats“, nicht verloren. Gomulka, an jenem Oktobertag vor zehn Jahren von einer fast revolutionären Welle emporgetragen, als Tribun eines Vol-, kies, das kurz zuvor in Posen auf die Barrikaden gestiegen war — dieser Gomulka war nie ein kühner Rebell gewesen.

Die „Oktoberwelle“ war seine Chance, nicht seine Schöpfung. Gomulka, seit dreißig Jahren einem politischen Glaubensbekenntnis verschrieben, war schon immer klug genug, die Lehre dem Leben anzupassen. Und er blieb ihr stets treu — auch dann, als im „Oktober“ liberale „Ketzer“ das politische Monopol der Partei antasteten.

Falsche Erwartungen

In Polen und im Westen knüpfte man damals an Gomulkas Wiederkehr falsche Erwartungen; auch seine kommunistischen Nachbarn begriffen ihn lange nicht. Obschon seine ersten Reden von 1956/57 zeigten, daß da kein geistreicher Reformator, sondern ein nüchterner, biederer und strenger Hausherr das Ruder ergriff: Es war ein „Praezep- tor Poloniae“, der seinem schwer regierbaren, hartgeprüsften Volk vor allem Fleiß und Ruhe als erste Bürgerpflichten verordnete. Nicht nur seine Abneigung gegen politische Romantik gebot ihm, die „Oktoberwelle“ einzudämmen. Auch die außenpolitische Situation zwang ihn dazu: Ungarns Revolte wurde niedergeschlagen; der Westen — zumal Bonn — gab Polen keine Sicherheit, sein Garant blieb die Sowjetunion, in der die Entstalinisierung gerade erst begann; in der Tschechoslowakei, in der DDR, in Rumänien und Bulgarien war noch nichts in Bewegung geraten. Die Motive Chinas, das damals den „polnischen Oktober“ mit Sympathien zu betrachten schien, waren noch nicht durchschaubar. Polens Lage — innerlich zerris sen, wirtschaftlich vor dem Zusammenbruch und außenpolitisch in der Gefahr der Isolierung — ließ es geraten erscheinen, Experimente zu meiden.

Ohne totalitären Drude

Was Gomulka vollführte, war ein Balanceakt. Was er erreichte, erscheint heute vielen Beobachtern als Stillstand, wenn nicht als Rückschritt, zumal in anderen kommunistisch regierten Ländern inzwischen vieles möglich wurde, was 1956 noch als ein polnisches Privileg galt. Darum die Frage: Was eigentlich blieb von jenem „Oktober“ für die Polen?

Die Antwort kann nicht auf westlichen Illusionen von gestern basieren, sondern nur auf zehnjährigen polnischen Erfahrungen. Das Wichtigste: der Terror stalinistischer

Herrschaft verschwand und kehrte nicht wieder. Zwar wurde der 1956 zerschlagene Sicherheitsapparat wiederaufgebaut, die Zensur erneuert. Eine organisierte politische Opposition gibt es nicht. Der Durchschnittsbürger aber, zumal der unpolitische, ist frei von totalitärem Druck. Es ist Millionen möglich, neben der Partei Zu leben — als loyale Bürger, deren politisches Credo Privatsache ist.

Polen muß jährlich mehr als zwei Millionen Tonnen Getreide importieren. Und die Zahl der Konsumenten steigt weiter rascher als die Produktion. Um vier Millionen nahm die Bevölkerung in den letzten zehn Jahren zu; jeder achte Pole ist nach dem „Oktober“ geboren. Zudem sind die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge in das arbeitsfähige Alter gekommen — eine Millionenmasse, die zu Investitionen zwingt und den Lebensstandard in den letzten zehn Jahnen nur langsam ansteigen ließ.

Selbstbewußte Katholiken

Hinter jedem überwundenen Engpaß öffnet sich ein neuer. Reformfreudige Wirtschaftsexperten, wie der inzwischen verstorbene Professor Oskar Lange, vermochten Gomulka nicht davon zu überzeugen, daß nur drastische Änderungen des Plan-, Preis- und Lohnsystems (und der Auslandskredite) das Knäuel von Problemen entwirren könnten. Reformversuche, die heute in der Tschechoslowakei, der DDR, Ungarn und Bulgarien Schule machen, blieben in den Anfängen stecken. Polen konnte in diesem Jahrzehnt zwar erstaunliche Aufbauleistungen vollbringen, seine Rohstahl- und Elek- troenergdeproduktion fast verdoppeln — aber: „Sagen wir laut, was ganz Polen inoffiziell sagt: Entweder Vollbeschäftigung mit niedriger Produktivität und hohen Produktionskosten oder weniger Vollbeschäftigung mit einer Arbeiterreserve, die jene, die Arbeit haben, zu höherer Produktivität zwingt.“ So schrieb im August die Wochenzeitung „Zycie Literackie“.

Es ist nicht verwunderlich, daß sich in einer Wirtschaft, die viele Hände für ein geringes Entgelt tun läßt, was zwei Hände für eine gute Entlohnung tun könnten, Unlust ausbreitet — gerade auch unter den jungen Technokraten, die wissen, wie es besser gemacht werden könnte. Was sich bildet, ist nicht etwa eine „Vor-Oktober-Stimmung“. Denn diesmal ist das Existenzminimum nicht bedroht, und der Mangel an Perspektiven wird nicht mehr durch ein Übermaß an Druck ersetzt. Aber Stagnation und Resignation breiten sich stärker aus, als es der — statistische — Fortschritt des Landes rechtfertigt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung