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Nippon ante portas!

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Japan ist unter den Besiegten des letzten Krieges wohl derjenige, der sich am schnellsten von seinen Verlusten erholt hat. Diese Tatsache hat verschiedene Gründe, und der rasche Wiederaufbau Nippons kommt nicht von ungefähr. Am Ende des Krieges standen die Zerstörungen ziviler Werte in keinem. Verhältnis zu jenen z. B. Deutschlands. Außer durch einige gravierende Bombardierungen der Hauptstadt und durch die beiden welthistorischen Atombombenabwürfe — abgesehen von der Vernichtung von Kriegsmaterial und militärischen Anlagen —, waren die Zerstörungen im Reiche der aufgehenden Sonne verhältnismäßig gering. Lind die ungeheuren Blutopfer waren und sind für den fernöstlichen Menschen — dank einer ganz andersgearteten Mentalität und im Gegensatz zum Europäer — keine hemmende Belastung. Für den Asiaten hat der Tod eine andere Bedeutung als für den europäischen Menschen, und wenn je dem Wort vom „Tode auf dem Felde der Ehre“ eine phrasenlose Bedeutung zukommt, dann mag das für die unzähligen Gefallenen Japans Geltung haben. Diese andersartige Einstellung des Japaners gegenüber dem Tod und den Toten war eine weitere bedeutsame Hilfe beim Wiederaufbau.

Ausschlaggebend aber; für die Haltung der Sieger bzw. der. Vereinigten Staaten gegenüber dem einstigen fernöstlichen Kriegsgegner waren die weltpolitischen Veränderungen, die grundlegenden Machtverlagerungen im großasiatischen' Kaum, das unaufhaltsame Vordringen des Kommunismus und das Versehwinden der britischen Bollwerke. Das rasche und gewaltige Ansteigen der bolschewistischen Gefahr in Ostasien; die das völlig geschwächte Großbritannien an die Wand drückte, mußte notgedrungen die USA als Erben der britischen Positionen auf den Plan rufen, schon allein um die eigenen, lebenswichtigen Interessen zu wahren, deren Schutz bis dahin den britischen Vorposten anvertraut war.

Für Amerika aber war es in dieser Situation ein Gebot der Klugheit, in Japan nicht nur eine sichere militärische Basis zu errichten, sondern sich in dem einstigen Feind einen nützlichen Freund und Verbündeten heranzuziehen, bevor es den Sowjets gelang, auch das Inselreich an der Südostküste Asiens in sein Satellitensystem einzugliedern. Zweifellos hätte der sowjetische Vorstoß in Korea ohne den amerikanischen Schachzug zur Liquidation auch der letzten westlichen Position in Ostasien und sogar zu einer ernsthaften Bedrohung Australiens geführt.

Während die Besiegten in Europa in den ersten Jahren der Besatzungszeit von den vier Siegermächten mit unnachsichtlicher Strenge behandelt wurden und teilweise auch die Miß-stimmigkeiten unter den Siegern ausbaden mußten, sah sich Japan schon sehr bald einem zuvorkommenderen Sieger und einer eher freundlichen Haltung von Seiten der amerikanischen Besatzungsmacht gegenüber. Diese zeigte im Fernen Osten ein unerwartetes Einfühlungsvermögen in die Psyche des Besiegten. Es ist auch erstaunlich, auf wie geringen Widerstand und geringe Schwierigkeiten die Demokratisierung gerade im Reiche der aufgehenden Sonne stieß, wo man erwartet hätte, daß die vieltausendjährige starre Tradition unüberwindlich sei.

Schon bald nach der Besetzung des Landes waren die wichtigsten Zerstörungen behoben, und schon lange vor Ausbruch des Koreakrieges war das Räderwerk der japanischen Industrie wieder im Gange; und während — seit 1952 — die Augen der Welt auf den koreanischen Brandherd gerichtet waren, wurde der veraltete, industrielle Maschinenpark in Japan systematisch erneuert und modernisiert. Neue Fabriken schössen wie Pilze, sozusagen über Nacht, aus dem Boden, und das amerikanische Privatkapital investierte Hunderte und Hunderte von Dollar millionen. Eine Reihe größer Konzerne, wie „Good Year“, „Remington Rand“, „Kaiser-Frazer Corporation“ u. a., hat in den vergangenen Jahren jenseits des Pazifik neue Produktionszweige errichtet, die in Lizenz die neuesten Erzeugnisse der amerikanischen Industrie nunmehr auch in Japan herstellen. Nicht nur mit amerikanischem Kapital, sondern auch in amerikanischem Tempo ging eine rasche Entwicklung in verschiedenen Zweigen der japanischen Industrie vor sich. Die Produktion modernster Textilien, die Herstellung von Erzeugnissen der Elektrotechnik, der Feinmechanik, der optischen und chemischen Industrie sind heute die Trumpf-katten des wirtschaftlichen Wiederaufbaues im neuen demokratischen Lande des Tenno. ■ -

Die noch immer ansteigenden Produktionsziffern sind ebenso erstaunlich wie die unglaublich tiefen Preise. Wertmäßig hat sich die japanische industrielle Produktion seit einem Jahre verdoppelt! Und noch immer sind neue Fabriken im Bau und neue Industriezweige im Entstehen. Ist schon das Produktionsvolumen beinahe beunruhigend, so dürften die japanischen Großhandelspreise die amerikanische und europäische Konkurrenz aufhorchen lassen. Einige wenige Beispiele mögen zeigen, in welchem Ausmaße die gegenwärtigen Weltmarktpreise von den Japanern unterboten werden: der Großhandelspreis für ein japanisches Handtuch z. B. beträgt S 1.20, für ein Herrenhemd S 2.10, für ein paar feine Damenstrümpfe S —.60. Im gleichen Verhältnis verhalten sich die Großhandelspreise für japanische Schreibmaschinen, Kinderspielzeug, Erzeugnisse der Feinmechanik, optische Geräte, kurz für sämtliche Industrieerzeugnisse. Schon sehr bald dürften die japanische Massenproduktion und diese Dumpingpreise auch für die europäischen Industrien spürbar werden; hinzu kommt als nicht unwesentlicher Faktor die überaus hohe Qualität der japanischen Waren. Ohne zu übertreiben, darf man sagen, daß heute die Güte japanischer Erzeugnisse diejenige^ der amerikanischen übertrifft. Man fragt sich nicht ohne Berechtigung, ob sich die Amerikaner nicht ins eigene Fleisch geschnitten haben?

Die Gefahr einer japanischen Konkurrenz auf dem Weltmarkt zeichnet sich für die amerikanischen und europäischen Industrien schon jetzt deutlich ab. Ihr zu begegnen dürfte nicht leicht sein. Der japanische Warenexport zu unschlagbaren Preisen ist nicht etwa eine Prestigefrage, sondern nackte Notwendigkeit. Nippon ist heute ärmer als vor dem Krieg, und seine Bevölkerungsdichte hat trotz den enormen Kriegsverlusten bedeutend zugenommen; der jährliche Geburtenüberschuß beträgt heute über eine Million. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, daß Japan darauf angewiesen ist, etwa 50 Prozent seiner Lebensmittel einzuführen. Es befindet sich dadurch in der Zwangslage, diese unerläßlichen Importe durch Ausfuhr von Fertigprodukten seiner Industrie zu bezahlen. Durch dasselbe Mittel müssen aber auch alle erforderlichen Rohstoffe, wie Eisen, Kohle, Wolle, Baumwolle, Gummi usw., bezahlt werden, auf deren Einfuhr das industrialisierte Japan heute mehr denn je angewiesen ist.

Es ist für Japan eine Existenzfrage, seine Industrieerzeugnisse zu exportieren und sich neue, gewaltige Absatzmärkte zu erschließen. Bisher konnte Japan von der durch den koreanischen Feldzug bedingten Wiederaufrüstung stark profitieren. Mit dem Verschwinden aber der neuen Kriegsgefahr im asiatischen Raum .wird die Absatzsicherung für die japanische Produktion zu einem immer dringenderen Problem. .Die gegenwärtigen politischen Verhältnisse machen eine Wiederaufnahme normaler Wirtschaftsbeziehungen mit dem natürlichen Geschäftspartner China äußerst kompliziert und wenig befriedigend. Könnte China mit sejnen 450 Millionen Konsumenten unter normalen Verhältnissen zu einem beinahe unerschöpflichen Absatzmarkt werden, so wäre es doch unter dem heutigen Regime äußerst arm an Kaufkraft, auch wenn die Handelsbeziehungen mit diesem Giganten auf keine anderen Hindernisse stoßen würden.

Es bleibt also für die nächste Zukunft zu erwarten, daß sich die japanische Exportoffensive in erster Linie gegen Amerika und Europa richten und sich auf diesen beiden Kontinenten schon bald und in etwas beunruhigenden Ausmaßen spürbar machen könnte. Und wie sich die westlichen Industrien und Regierungen gegen die drohende Gefahr einer japanischen Wareninvasion schützen werden, bleibt abzuwarten. Wenn auch die heutige Situation eine gewisse Parallele mit jener der dreißiger Jahre aufweist, so werden dennoch allfällige Maßnahmen des Westens nicht allein durch wirtschaftliche Belange bestimmt werden können. Die heute ebenso wichtigen politischen Gesichtspunkte können keineswegs außer acht gelassen werden; sie werden auf die Entschlüsse des Westens einen großen Einfluß ausüben, und insbesondere wird die amerikanische Wirtschaft in ihren Handlungen nicht ganz frei sein, sondern vielmehr auch die politische Lage berücksichtigen müssen.

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