7124562-1996_50_20.jpg
Digital In Arbeit

Nobelpreisträger macht sich klein

Werbung
Werbung
Werbung

Pablo Escobar, dem Boß des Drogenkartells von Medellin, drohte die Auslieferung an die USA. Aber auch die Konkurrenz, die Drogenbosse des Cali-Kartells, waren hinter ihm her. In dieser Lage schien es ihm die beste Lösung zu sein, mit der Regierung Kolumbiens zu einer Einigung zu gelangen. Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, ließ er innerhalb weniger Tage mehrere Journalistinnen und Journalisten, darunter ein ganzes TV-Team und einige populäre und prominente Persönlichkeiten, kidnappen.

Mit der Entführung von Maruja Pachon de Villamizar und ihrer Assistentin und Schwägerin Reatriz Villamizar de Guerrero beginnt das jüngste Buch des kolumbianischen Nobelpreisträgers für Literatur Gabriel Garcia Märquez: „Nachricht von einer Entführung”. Kein Detail darin ist erfunden. Märquez ist für fast drei Jahre zu seinem einstigen Metier, dem Journalismus, zurückgekehrt. In dieser Zeit recherchierte und schilderte er die historische Geiselnahme. Er plante ursprünglich ein Buch über das Schicksal der beiden Frauen Maruja und Beatriz, doch das Thema forderte, nachdem die Arbeit bereits weit gediehen war, eine Ausweitung, denn die beiden Entführungen ließen sich von den anderen nicht trennen: „Diese späte Erkenntnis zwang uns, noch einmal mit neuem Atem und einer neuen Struktur von vorne zu beginnen ...”

Das Bingen des Dichters um die Bewältigung einer gewaltigen Materialfülle, und das Ergebnis dieses Ringens, sind imponierend. Seine Detailversessenheit hemmt nur gelegentlich den Fluß der Erzählung, der Verzicht auf Ausschmückung kommt der Spannung zugute, und er drückt sich auch in der Nüchternheit der Sprache, im Verzicht auf Schnörkel, auf stilistische Eleganz, aus. Die Entführungen lieferten Märquez nicht Material für Literatur. Auf keiner Seite, mit keinem Satz, plustert sich das Genie auf und zeigt den Journalisten, „wie man so etwas macht”. Eher schon kann mancher arrogante Dichter von ihm lernen, was Journalismus sein kann. Märquez vollbrachte mit Bescheidenheit, sich nicht in den Vordergrund drängend, sein Thema nichtüberschattend,ohnegenialische Attitüde, ohne falsche Posen, mit Fleiß, Gründlichkeit und Ehrlichkeit, ein im besten Sinne professionelles Stück journalistischer Arbeit. Ein Nobelpreisträger macht sich klein.

Trotzdem handelt es sich um eine im besten Sinne literarische Reportage. Denn ohne deshalb das äußere Geschehen und die politischen Fakten zu vernachlässigen, liegt doch das größte Gewicht darauf, wie Geiseln ihre Gefangennahme und die Phasen ihrer Gefangenschaft erleben, auf den physischen Begleitumständen und dem psychischen Druck, denen sie im konkreten Fall ausgesetzt waren. Diesen Fragen geht Märquez mit exemplarischer Genauigkeit, aber auch mit Takt und Diskretion, nach.

Daß Maruja und Beatriz im Mittelpunkt der Erzählung stehen, hat nicht nur mit der Entstehungsgeschichte des Buches zu tun - Maruja gab die Anregung dazu -, sondern auch gute kompositorische Gründe: Ihre Haftbedingungen waren am extremsten. Besonders aufschlußreich sind die ausführlichen Schilderungen des Verhaltens der Bewacher und der Beziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten, die im Lauf der Monate zwischen ihnen und den Geiseln entstanden.

Zwei Gefangene kamen ums Leben. Es wurde nie geklärt, ob der Schuß, welcher die Journalistin (und Tochter eines ehemaligen Staatspräsidenten) Diana Turbay Quintero tötete, von einem Entführer oder einem Mitglied der Exekutive abgefeuert wurde, ob er ihr galt oder ob sie zufällig getroffen wurde. Das besonders mörderisch wirkende Hochgeschwindigkeitsgeschoß stammte möglicherweise aus einer am Tatort gefundenen Waffe österreichischer Produktion. Escobar, dessen Vermögen damals auf drei Milliarden Dollar geschätzt wurde, begab sich gegen die Zusicherung, nicht an die USA ausgeliefert zu werden, in ein Gefängnis eigener'Wahl, floh, wurde aufgespürt und erschossen.

Der Leser erfährt eine Menge über die verheerenden Auswirkungen des Drogenhandels auf die kolumbianische Politik, über die labilen politischen Verhältnisse und zum Teil noch aktive politische Akteure.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung