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Nomaden auf dem Asphalt

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Paris, im März 1956

Während die bisher lokalisierten Kämpfe in den Gebirgen Algeriens sich immer weiter ausbreiten und die Aufbauarbeit von Generationen zu vernichten drohen, beginnt ein unbarmherziger Terror, der auch vor Kindern und Greisen nicht halt macht. Ob die entfachten Leidenschaften je noch einen friedlichen Ausgleich zulassen? Droht nicht aus Algerien ein Brandherd zu werden, der, gefährlicher als Indochina, das Verteidigungsdispositiv der Atlantikmächte bedroht und Frankreichs militärische und finanzielle Kräfte bis auf das äußerste anspannt? Der Haß und die nationale Intoleranz beeinflussen auch die in Frankreich selbst lebenden Algerier, die sich der sogenannten nationalen Disziplin beugen müssen. Sie geben den Drohbriefen und Verlockungen, den Anweisungen ihrer Führer nach oder fallen einer blutigen Vendetta zum Opfer. Ein Pistolenschuß oder ein Messerstich bedeuten das Ende, und schon verschwinden die Täter im Schatten einer Fabrik, in den engen unübersichtlichen Gassen Marseilles oder hinter den Bauten der Kohlengruben im Norden des Landes. Ein im geheimen tagendes Revolutionsgericht hat ein Urteil gefällt, das am „Verräter“ unerbittlich vollstreckt wird. Wohl hebt die Polizei manchmal eine dieser Geheimorganisationen aus, aber wer die Mischung von Religion und Politik in der Geschichte des Islams kennt, weiß, daß sofort neue Organisationen gebildet werden, eine Hydra, der man vergeblich die Köpfe abzuschlagen trachtet.

Trotzdem wird es von den vielen hunderttausend Algeriern in Frankreich abhängen, ob ein späteres Gespräch möglich sein, eine Atmosphäre des Verhandeins hergestellt werden kann. Im Jahre 1947 wurde den Algeriern allgemein das französische Bürgerrecht zuerkannt, nachdem bereits 1946 ausgewählte Gruppen an den Wahlen für das französische Parlament teilgenommen hatten. Seit dieser Zeit erfolgte eine fast unkontrollierbare Einwanderung von Algerien nach Europa, in erster Linie nach Frankreich. Vier- bis fünftausend wurden in Belgien aufgenommen, einige Hundert drangen bis in die Saar vor, ohne jedoch ständige Arbeitsplätze zu finden.

Die genaue Anzahl von Algeriern in Frankreich anzugeben ist nicht möglich. Man darf sie aber mit etwa 300.000 ansetzen. Ihre Existenz stellt in jeder Beziehung ein schwieriges soziales, politisches und wirtschaftliches Problem dar. Die so erfolgte Begegnung zwischen westlichem Christentum und Islam, die einzige auf breiter Front, kann durchaus fruchtbar sein. Sie droht jedoch derzeit in eine weltweite religiöse wie politische Tragödie umzuschlagen. Denn vergessen wir nicht, wir sprachen von 300.000 Personen: da die Algerier nach gewisser Zeit wieder in ihr Heimatland zurückkehren, sind von dieser Bewegung mehr als 600.000 Menschen erfaßt.

Welches sind nun die Gründe für diese Völkerwanderung? Höherer Lohn, bessere Arbeitsbedingungen, Abenteurerlust, um die schillernde Welt des Westens kennenzulernen? Wohl mögen alle diese Momente mitspielen, aber die letzte Erklärung hängt mit dem eigentlichen Drama Algeriens zusammen, nämlich der demographischen Kurve. 1830 zählte man 1,350.000 autochthone Einwohner, 1956 sind es 8,330.000 und zusätzlich 1,200.000 Europäer. Es ist der Hunger, der Wille zur Sicherung der Existenz, der die Männer aus. ihrer Heimat in die Fellachenregimenter oder als Arbeiter nach Europa treibt.

Europa ist sich der Bedeutung dieses Problems in keiner Weise bewußt geworden. Die bisherigen Vorschläge, es zu lösen: sei es eine restlose Integrierung oder eine Art Föderation, haben unserer Ansicht nach zuwenig dem eigentlichen Problem, dem der Uebervölkerung, Rechnung getragen.

Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Auswanderung kann noch durch eine authentische Angabe unterstrichen werden: Im abgelaufenen Jahre überwiesen die in Europa arbeitenden Algerier ungefähr 37 Milliarden französischer Franken als Ersparnisse ihrer Arbeit in die Heimat, wozu weiterhin 7 Milliarden als staatliche Kinderbeihilfe kamen. Die Algerier kommen meistens allein, sie lassen die Familien in den Dörfern, um die eigenen Ausgaben auf ein Mindestmaß zu beschränken. Unzählige Beispiele wären anzuführen, um den außergewöhnlich starken Familienzusammenhang zu illustrieren, und es kommt nur selten vor, daß ein in Frankreich lebender Algerier seiner Familie untreu wird. Es sind in der Regel junge Männer vom Lande, welche die Städte Frankreichs aufsuchen, im besonderen Marseille, Paris und die nordfranzösischen Industriestädte. Es ist ihnen so gut wie unmöglich, in der Landwirtschaft eine Arbeit zu finden, da der französische Bauer, von Natur aus konservativ, die Fremden nur mit Mißtrauen betrachtet. Nur auf großen Gutshöfen und staatlichen Landgütern können Algerier mit einem Arbeitsplatz rechnen.

80 Prozent der Einwanderer stehen zwischen 20 und 39 Jahren. Ein Viertel kann als Facharbeiter bezeichnet werden, fünf bis sechs Prozent als hochausgebildete Facharbeiter. Von den in Frankreich erfaßten Nordafrikanern stehen 1SO.O0O in einem regelmäßig kontrollierten Arbeitsverhältnis. Die Unternehmen übertragen ihnen meistens die schmutzigsten und schwersten Arbeiten, für welche Europäer nicht zu haben sind. Die Löhne entsprechen natürlich ^den Kollektivverträgen oder den staatlichen Gesetzen. Die Minderheit ist gewerkschaftlich in der CGT organisiert und wurde durch Jahre von ■ der kommunistischen Partei als Rollkommandos und Stoßtrupps verwendet. Es scheint jedoch, daß es in der letzten Zeit zwischen der nationalen algerischen Bewegung und dem Kommunismus zu einer merklichen Entfremdung gekommen ist.

Von beiden Seiten, dem Kommunismus wie von den Nationalisten, wird alles getan, um die Spannungen auszunützen, die in den jungen Auswanderern entstehen. Diese sind aus einfachen dörflichen Verhältnissen plötzlich in Weltstädte verpflanzt worden, sehen sich einer ihnen fremden Moral, einem fremden Lebensrhythmus gegenüber, den sie unter keinen Umständen verstehen können. So werden sie vielfach aus einer streng patriarchalischen Ordnung entwurzelt, ein wesensfremder Materialismus drängt sich ihnen auf, Religion und Moral verlieren ihre Werte. Die laizistische Republik will es nicht verstehen, daß Menschen, die im Raum einer Strengen Religion aufgewachsen sind, den Halt verlieren, sobald sie ihren selbstverständlichen Rahmen verlassen haben. Der Westen war weder geistig noch sozial auf diese Begegnung vorbereitet. Er suchte nur billige Arbeitskräfte zu gewinnen und tat sehr wenig dazu, Bedürfnisse zu befriedigen, die in elementarer Kraft die jungen Leute vorher erfüllt hatten. Es sei auch nicht vergessen, daß diese Arbeiter sehr oft denkbar primitiv leben. Besonders der Mangel an Wohnraum wird als eine Hauptursache heranzuziehen sein, um die Verbreitung der Syphilis, der Tuberkulose, wie den Hang zum Gewaltverbrechen zu erklären. Allerdings wurden in den vergangenen Jahren durch staatliche wie private Initiative zahlreiche Gemeinschaftshäuser für die Algerier geschaffen. Vier Männer bewohnen dort einen Raum und die hygienischen Verhältnisse sind zufriedenstellend. Gegenüber diesen Privilegierten haust die Mehrzahl noch immer in grauenhaften Löchern. Zwölf bis sechzehn Personen werden dort zusammengepfercht, und alle sechs Stunden muß der Schlafplatz einem Kameraden überlassen werden.

Wie kann der Fremde unter diesen Umständen das andere, das wahre Gesicht des Christentums erkennen? Nur eine Welt der Ausbeutung und des falschen Scheines stürmt auf ihn ein, die er haßt und hassen muß. Sorgsam schüren Fanatiker und Agenten die Ressentiments und rufen zum „Heiligen Krieg“. Jeder Wille zur individuellen Beurteilung verschwindet und der eben noch brave Arbeiter entwickelt sich sehr schnell zum rücksichtslosen Terroristen.

Eine religiöse Betreuung durch den Islam ist fast nicht zu finden. Die Ulemas, die dazu berufen werden, unterstreichen nur die politische Seite des Islams, suchen jedoch nicht den Menschen in seinen religiös-sittlichen Belangen zu stützen. Die Weißen Väter, die von katholischer Seite aus die Betreuung übernommen haben, müssen außergewöhnlich diskret vorgehen und arbeiten auf eine soziale Besserstellung der ihnen Anvertrauten hin. Ein darüber hinausgehender geistiger Kontakt ist nur in Ausnahmefällen erfolgreich gewesen.

Die jungen Männer stehen unter der oft sehr strengen Disziplin ihrer Kaide, eine Disziplin, die durch das Zusammenwohnen außerordentlich gefördert wird. Aus politischen Motiven verboten die Kaide das Rauchen und Trinken, und nur wenige wagten es, sich diesen Befehlen zu widersetzen. In einer Fabrik mit einer großen Anzahl Nordafrikanern, die der Verfasser besonders gut kennt, ist nie eine einzige Arbeitsstunde durch Abwesenheit verlorengegangen. Der Kai'd kümmert sich jeweils um einen Ersatzmann. Er empfängt und verwaltet jedoch auch für seine Mitbürger den Lohn.

Die Nordafrikaner kennen nur wenig Zerstreuung außerhalb ihrer Arbeitsstunden. Sie besuchen selten Fortbildungs- oder Sprachkurse. Man richtete ihnen nur eigene arabische Kinos ein, die sie mit großer Begeisterung aufsuchen. Der Kontakt mit der weißen Bevölkerung stößt infolge der sprachlichen Schwierigkeiten auf große Hindernisse. Sie besuchen wohl Tanzlokale und sonstige öffentliche Veranstaltungen, bleiben jedoch auch da in ihrer Gruppe. Ganz anders benimmt sich natürlich der junge Intellektuelle, der besonders den Kontakt mit weißen Frauen sucht. Mischehen kommen vor, aber nicht häufig.

Ein echter Dialog mit der Umgebung hat daher nicht stattgefunden und der politische Einfluß aus der Heimat ist im Wachsen. Wie stark und gut diese Bindungen funktionieren, zeigen die periodischen Kämpfe mit der Polizei auf der Straße, die Abberufungen, die seit einigen Tagen in einem immer schnelleren Rhythmus erfolgen.

Gibt es nun eine Lösung des Problems? Kenner der Materie glauben sie nur in der An-siedlung ganzer Familien zu finden. Bisher wurden sieben- bis achttausend algerische Familien in Frankreich festgestellt. Davon dreitausend in Paris. Sicherlich kann sich die Frau am Anfang noch viel schwerer anpassen als der Mann. Aus moralischen wie politischen Momenten heraus ist aber der Bau von Familienheimen die einzige Möglichkeit, der Entwurzelung Herr zu werden, den Kindern eine gute Erziehung angedeihen zu lassen und der physischen wie psychischen Depression der Einwanderer Einhalt zu gebieten. Darüber hinaus wäre es notwendig, für diese Familien eigene Schulen zu errichten, sie stärker an die Jugendorganisationen und die Gewerkschaften zu binden, ja ihre „Sprache“ zu verstehen — nicht das Arabische, sondern ihre Art des Denkens und des Fühlens. Nicht Gesetze allein sind notwendig, sondern eine stärker gelenkte Einwanderungspolitik, eine umfassendere Aufklärung, die jenseits der Grausamkeiten des entfesselten Krieges die Einheit Algeriens und den Zusammenhang mit Frankreich und der abendländischen Welt sichert.

Das Problem der Nordafrikaner in Frankreich mag nur ein Teilproblem der Zukunft Europas sein, aber von seiner Lösung hängt es vielfach ab, ob Europa noch fähig ist, konstruktive Vorschläge zu erstatten und sie konsequent durchzuführen.

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