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Not der Entwurzelten

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In der Geschichte Europas wird einmal die Umsiedlung von fast elfeinhalb Millionen Deutschen ein Kapitel darstellen, das man mit schwarzen Balken einlassen wird. Deutschland hat selbst damit 1940 begonnen und diesem tragischen Beispiel ist dann die Welt gefolgt. Tausende und Zehntausende sind aus ihren Heimstätten in Bessarabien ausgesiedelt und schließlich nach dem Osten verschickt worden, um als lebender Wall zu dienen. Seit 1944 begann die große Wanderung nach dem Westen. Nach sorgfältigen Schätzungen sind 11,2 Millionen in jenes Gebiet, das heute Deutschland heißt, eingeströmt. Hunderttausende waren auf der Flucht aus Ostpreußen und Schlesien, die sich vor allem nach dem Süden des Reiches wandten. Dort befinden sich heute dreiviertel Millionen ostdeutscher Flüchtlinge. Der zweite Strom setzte nach der Potsdamer Konferenz ein, der aus Flüchtlingen aus dem Osten und Südosten bestand. Laut amtlicher Zählung befinden sich gegenwärtig in der amerikanischen Zone 2,800.000, in der britischen 3,500.000 bis 3,750.000, in der französischen 150.000 bis 200.000 und in der russischen Zone 4,500.000 bis 4,750.000 Zuwanderer. Davon sind 6 Millionen Katholiken, die sich auf die amerikanische Zone mit 2,350.000, die britische Zone mit 1,500.000, die französische mit 150.000 und die russische mit etwa 2,000.000 Personen aufteilen. Für die seelsorgliche Betreuung stehen insgesamt etwa 2300 Priester zur Verfügung. Da aber bis jetzt keine geordnete Aufteilung der Seelsorger stattgefunden hat, so kommt es, daß in der russischen Zone für die 2 Millionen Flüchtlinge nur 513 Seelsorger vorhanden sind. Eine unermeßliche Summe von Schwierigkeiten und seelischen Nöten erwächst daraus. Auf einer Arbeitstagung der Flüchtlingsseelsorger in Königstein/Taunus wurden erschütternde Bilder entrollt.

Der Westen hat gerade hier seine Probe auf die christliche Liebe zu bestehen, wie sie noch kaum einem Volke gestellt worden ist. Sie kann nur mit viel Geduld und Opfersinn bestanden werden. Diese Vertriebenen müssen erst wieder allmählich Wurzel fassen in fremdem Boden und in fremder Umgebung. Dann erst finden sie Ansatz zu einem neuen Aufbau. Das ist nicht einfach für die Einheimischen wie für die Fremden. So wurde aus Süddcutschland auf den steigenden Gegens.itz zwischen den Einheimischen und den Neuangekommenen aufmerksam gemacht. Dazu stehen die Flüchtlinge vielfach unverstanden und, in geistigen Dingen unversorgt, auf sich selbst gestellt da. So wurde auf einem Referat dieser Tagung angeführt, daß es in Diasporagegenden Seelsorger gäbe, die oft 30 Gemeinden, ja bis zu hundert zu versorgen haben. Viele hunderte Kilometer sind im Monat zurüdczulegen, ohne jegliches Verkehrsmittel, bei jedem Wetter, mit schlechten Schuhen, bepackt mit den geretteten Habseligkeiten. Zu der vielen Not, die in Zahlen angegeben werden kann, ist noch die seelisdie zu rechnen, die doch die tiefste ist und am wenigsten statistisch aufgezeigt werden kann. Dies läßt sich schon daran ermessen, wenn auf der ange-füh rten Tagung die Feststellung gemacht wurde, daß es Flüchtlingsgemeinden gäbe, in denen 80 Prozent der Flüchtlinge nicht bei den Sakramenten waren, weil sie zu einheimischen Pfarrern keine innere Beziehung hätten und auf ihren priesterlichen Landsmann warten wollten. Nun ergab sich aber bei den raschen Evakuierungen aus dem Osten, daß oft Priester und Gemeinde getrennt wurden und damit auch die landsmannschaftlichen Bindungen zum Seelsorger für lange hinaus fehlen werden.

Damit diesen Notständen begegnet werden kann, hat der Vatikan in der Person des Bisdiofs Kaller von Ermland einen eigenen Bischof für Flüchtlinge bestellt. Er hat die Erfassung und Verteilung des geflüchteten Klerus zu besorgen, die Sorge um den Priesternachwuchs und in die Angelegenheiten der Heimatlosen in den Diasporagebieten vermittelnd einzugreifen. So wären in der russischen Zone auf einmal 120 junge Priester notwendig, die sofort eingesetzt werden müssen; für alle Zonen zusammen wurden 300 berechnet, um in den einzelnen Diasporagemeinden wenigstens e i n-m a 1 im Monat einen Gottesdienst zu ermöglichen. Aus diesem Grund wurde auf der Tagung in Königstein die Forderung erhoben, daß alle neugeweihten und jüngeren Priester von Deutschland auf ein bis zwei Jahre verpflichtet werden sollten, in der Diaspora die Seelsorge zu übernehmen. Solche Gedanken werden verständlich,“ wenn man bedenkt, daß etwa die Diözese Hildesheim, die früher 230.000 Seelen zählte, heute auf eine Million angewachsen ist oder in Schleswig-Holstein zu eineinhalb Millionen Einheimischen die gleiche Zahl von Flüchtlingen hinzugekommen ist. Was an Mitteln notwendig wäre, um die Seelsorge einigermaßen zu organisieren und durchzuführen, darüber kann man keine Zahlen angeben, wohl aber, was bisher von Deutschland selbst geleistet wurde. So hat der Bonifatiusverein 4,200.000 Mark in die russische Zone geschickt, Hunderte von Meßgewändern und Kultgeräten. Selbst die von Bomben schwer heimgesuchten Gebtete haben eine großherzige Opfergesinnung an den Tag gelegt. So opferten viele Gemeinden von den mühsam geretteten Paramenten selbst die Hälfte ihres Bestandes. In der Diözese Münster wurde ein Knabenseminar für die Ostgebiete eingerichtet und der Bonifatiusverein leistet Zuschüsse für Gymnasien in Berlin und Hamburg. In Königstein am Taunus wird ein Priesterseminar mit Konvikt geschaffen. Gleichzeitig laufen mit der hessischen Regierung Verhandlungen, um eine theologische Fakultät mit dem Sitz in Königstein der Universität Frankfurt am Main anzugliedern, die einen Ersatz für die Fakultäten von Braunsberg, Breslau und Prag bieten soll. In den einzelnen Diözesen wurden Diözesan-Flücht-lingsseelsorger eingesetzt, die als Vertrauens-

männer nach allen Seiten hin die Verbindung aufrechtzuerhalten haben. Ihnen sind zur besonderen Betreuung der Jugend eigene Jugendseelsorger beigegeben. Von dieser Stelle sind größere Veranstaltungen geplant, wobei besonders auf die zusätzliche seelische Betreuung besonderer Wert gelegt wird.

Allgemein wird bedauert, daß es nicht möglich ist, die aus ländlichen Kreisen stammenden Heimatlosen anzusiedeln. An eine Auswanderung nach Übersee kann in der nächsten Zeit überhaupt nicht gedacht werden, da deutsche Staatsangehörige ohne Genehmigung des Kontrollrates deutschen Boden nicht verlassen dürfen. Außerdem wäre eine Million Dollar erforderlich, um tatwend Personen nach den USA zu bringen. Nunmehr hat sich, um den dringlidisten Notwendigkeiten abzuhelfen, in Krefeld eine Siedlungsselbsthilfe gebildet, die sich das Ziel gesteckt hat, jedem Flüchtling Gartenland zur Erleichterung des Lebensunterhaltes zu verschaffen. So sind im Landkreis Fulda bereits 87 Prozent des Gartenlandes freiwillig den Flüchtlingen zur Verfügung gestellt worden. Ein konfessionelles Siedlungswerk zu schaffen, wurde auf der Tagung in Königstein abgelehnt, jedoch der Wunsch ausgesprochen, daß die Kirche bei den Siedluhgsplänen der Regierungen mit zu Rate gezogen werde. Dem Hauptausschuß für Flüchtlingswesen in Bayern hinwieder gelang es zu erreichen, daß Flüchtlingen die Hälfte der Pensionen und Renten ausbezahlt werden, sie Gewerbescheine ausgefolgt erhalten und für die Juristen wurde die Gleichberechtigung sichergestellt. Dr. Leopold Lentner

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