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Der "Wiederaufbau" der österreichischen Literatur 1945-55.

Die Geschichte spielt in Wien, in der ersten Phase nach dem Zweiten Weltkrieg, in einem Villenvorort, der einmal als nobel gegolten hat. Aristokraten, Militärs, Geistliche, Großbürger beherrschen noch immer die Szene; aber aus dem, was sich seit dem Untergang der Monarchie in Österreich zugetragen hat, haben sie nichts gelernt, sie spielen noch immer mit dem Feuer, obwohl sie längst sehen müssten, dass sie auf diesem Weg ihren gesellschaftlichen Untergang nur weiterhin beschleunigen. Sie spielen mit dem historischen Erbe, mit Geld, mit Leidenschaften, halb blind geworden und halb wahnsinnig taumeln und stürzen sie tiefer und tiefer von Stufe zu Stufe.

Ein auktorialer Erzähler, ein exzellenter Schüler Fontanes und Thomas Manns, beobachtet sie dabei: Herbert Zand in seinem Roman "Erben des Feuers". Ein Roman, der 1961 erstmals erschienen ist und einen Ehrenplatz verdient auf dem Regal der österreichischen Literatur, zwischen den Büchern von Elias Canetti und Gerhard Fritsch, ein Roman, der genau sichtbar, ja sinnlich erfahrbar macht, was auch andere, vor allem junge Autorinnen und Autoren in dieser historischen Phase beobachten: den Einbruch der Kälte in einer Gesellschaft, die bedenkenlos und gewissenlos das Erbe in Beschlag genommen hat.

Anti-Nazi-Konsens hielt nicht

Die erste Phase nach dem Zweiten Weltkrieg: In den gängigen literaturwissenschaftlichen Darstellungen finden sich weithin übereinstimmende Einschätzungen der Jahre 1945 bis etwa 1947/48: Euphorie und Offenheit dominieren, der Wunsch, Versäumtes nachzuholen und wieder anzuknüpfen an die literarische Moderne, die internationale Avantgarde. Aber der erste Schwung, der sich insbesondere in den neu gegründeten literarischen Zeitschriften äußert, ist schnell dahin.

Während die Spitzen der beiden großen Lager, der Konservativen und der Sozialisten, sich zusammenrauften, sahen sich die Schriftsteller, sofern sie eine ganz andere Sprache und also nicht mehr die der Politik suchten, bald ziemlich isoliert. Zurückgedrängt von jenen, die nach wie vor mit dem Feuer spielten, mit dem Erbe. Die im Ständestaat oder im Dritten Reich schon die ersten Ränge besetzt hatten und diese allmählich wieder erobern konnten, weil der antinazistische Grundkonsens der beiden politischen Lager nicht lange hielt.

Im Nachhinein haben viele der ehemals mit den Nationalsozialisten verbündeten oder jedenfalls im Dritten Reich geförderten Autoren sich als heimliche Widerstandskämpfer oder zumindest als innerlich Abseitsstehende deklariert, haben ihre angeblich unverbrüchliche österreichische Grundhaltung herausgestrichen, um so im Kulturleben der Zweiten Republik wieder mitspielen zu können. Gerade dadurch aber wurde auch die 1938-1945 im Land verbliebene geistige Opposition, die meist in einer mehr oder weniger ausgewogenen Balance zwischen Anpassung und Widerständigkeit lebte und arbeitete, ganz und gar diskreditiert. Und gleichzeitig wurde das gleich nach dem Krieg ohnehin schwelende Misstrauen zwischen den Repräsentanten des Exils und der Inneren Emigration keineswegs aufgehoben, erhielt die Skepsis der Vertriebenen, auch die der jungen, nach 1945 zum ersten Mal publizierenden Generation, immer wieder neue Nahrung.

Kritik fand nicht statt

Wo "jeder Teil dem anderen zuerkannte, während der Jahre der Trennung auf seine Weise gelitten zu haben", wie Oskar Maurus Fontana formulierte, konnten mit einem Mal alle wieder eingebunden werden in den Bau, den man bezeichnenderweise nicht Neubau, sondern Wiederaufbau nannte. Die Leistungen des österreichischen Exils und des aktiven österreichischen Widerstands wurden indessen schon bald kaum mehr gewürdigt, die Einfluss-Sphären der Kreise um Ernst Fischer und Viktor Matejka wurden immer kleiner, während die Machtbereiche der neuen Mitläufer kontinuierlich wuchsen; wer sich der Wiederetablierung der schwer belasteten kulturellen Traditionen entgegenstellen wollte, konnte schon bald kaum mehr damit rechnen gehört zu werden: Das berührendste Debüt der Nachkriegszeit, Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung", blieb in Österreich beinahe unbeachtet, Gerhard Fritsch, Ingeborg Bachmann, Michael Guttenbrunner, Milo Dor und viele andere Angehörige der jungen Generation mussten zusehen, wie das öffentliche Bewusstsein wieder "bequem im geistigen Gestern" Halt fand.

Bezugloses Nebeneinander

Es gibt kein Miteinander, merkwürdigerweise auch kaum ein Gegeneinander, sondern ein Nebeneinander der verschiedenen Parteiungen und Strömungen: Autoren, die im Ständestaat schon eine wichtige Rolle gespielt haben, wie Rudolf Henz. Autoren, die im Dritten Reich gefördert oder gefeiert worden sind, wie Max Mell, Franz Nabl, Joseph Georg Oberkofler, Bruno Brehm. Autoren, die zu keiner Zeit Duckmäuser gewesen sind, wie Wilhelm Szabo oder Alexander Lernet-Holenia. Autorinnen, die sich jetzt ausdrücklich auf das Kapitel "Von der Vergeltung und von der Liebe zu den Feinden" im Lukasevangelium zurückbeziehen, wie Erika Mitterer. Autorinnen und Autoren, die Phänomene der Diskriminierung und Ausgrenzung beschreiben, alle Bruchlinien zwischen dem so genannten Normalen und dem so genannten Verrückten verwischen und somit gegen jede Vereinnahmung sich sträuben, wie Hertha Kräftner ("Das Liebespaar"), Christine Lavant ("Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus"), Raimund Berger ("Ich wollte ein guter Mensch sein"). Autoren, die sich unterm Hakenkreuz diskreditiert haben, sich jetzt aber nicht nur politisch neu orientieren, sondern zugleich auch ihre Erzählstrategien verändern, wie Heimito von Doderer, der Verfasser der "Strudlhofstiege", der das Phänomen der Apperceptions-Verweigerung, rücksichtslos in erster Linie auch gegen sich selbst, aufs Korn nimmt, oder Franz Tumler, der sich intensiv mit den Anfängen des Nouveau roman auseinander setzt. Literaturvermittler, die sich um die Stimmen der Jungen kümmern, wie Otto Basil, Rudolf Felmayer, Ludwig von Ficker, Hermann Hakel und Hans Weigel, dessen "Stimmen der Gegenwart" (ab 1951) zunächst von sp-nahen Institutionen und später von der Industriellenvereinigung subventioniert werden. - Aber es gibt in den frühen fünfziger Jahren keine Kritik, die diesen Namen verdienen würde, es gibt keine Literaturdebatten. Hans Weigel hat sich später erinnert: "Der Widerhall war gleich null".

Es gab keine Kritik, kein Pendant zur "Gruppe 47" in Deutschland. Das wurde beispielsweise schon in der Anfangsphase der Österreichischen Jugendkulturwochen in Innsbruck überdeutlich: Die Geburtsstunde der Jugendkulturwochen, die sich bis 1969 zu einem legendären Treffen der Avantgarde entwickelt haben, reicht in die Zeit der frühen fünfziger Jahre zurück, in der es die jungen Autoren in vieler, nicht zuletzt in materieller Hinsicht besonders schwer hatten, in der darüber hinaus "Kultur und Gesittung" für viele noch untrennbar zusammengehörten und die moderne Dichtung also von vornherein argwöhnisch betrachtet wurde. Was nicht in die Welt des Wahren, Schönen und Guten verwies, kam leicht in den Verdacht des Dilettantismus - oder gar des Kommunismus.

Jugendkulturwochen

Innsbruck nach 1945 war in manchem eine Ausnahme, wenngleich auch dort wie andernorts für irritierende Avantgarde kein guter Boden war. Aber immerhin wehte, vor allem aufgrund der Aktivitäten des Institut Francais, ein weltoffener Geist. Die Kulturpolitik der französischen Besatzungsmacht betrachtete die Förderung der Entnazifizierung und der Demokratisierung, vor allem die Erziehung der Jugend in diesem Geiste als ihr vorrangiges Ziel.

Als damals in Innsbruck einmal jährlich (zu dieser Zeit noch wenig) bekannte Künstler, Musiker und Schriftsteller im Rahmen der Jugendkulturwochen zusammentrafen, hatte sich im österreichischen Kulturgetriebe die restaurative Klimaveränderung längst durchgesetzt. Eine wertkonservative Kulturpolitik im Dienste der Wegbereitung der Konsensdemokratie förderte mit Vorliebe eine rückwärtsgewandte Antimoderne.

Nicht selten fristeten junge Autoren ein Keller-Dasein, entwickelten sie neue Ideen und Formen nur im Untergrund oder in der Halböffentlichkeit von Cafès und privaten Zusammenkünften. Dass im äußersten Westen des Landes ein offizielles Kulturamt Künstler aufforderte, für die Wettbewerbe einer Jugendkulturwoche und für öffentliche Lesungen Arbeiten einzusenden, musste zumindest bemerkenswert erscheinen. Kein Wunder, dass zahlreiche der nach 1920 geborenen Künstler der Aufforderung nachkamen. Eine Einladung bedeutete freie Verpflegung und Unterkunft, brachte auch die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen.

Eine 1954 druckfertig vorbereitete, jedoch nie erschienene Lyrik-Anthologie der ersten fünf Jugendkulturwochen, die als Titel die Gedichtzeile "Und wir eilen mit ungleichen Schritten ..." von Berthold Viertel trug, vereint Texte u.a. von Vera Ferra Mikura, Hannelore Valencak, Hanns Weißenborn, Herbert Zand, Walter Buchebner, Humbert Fink, Gerhard Fritsch, Ernst Jandl, Otto Laaber, Helmut Pfandler, Karl Wawra, Wieland Schmied. Der heute ziemlich in Vergessenheit geratene Hanns Weißenborn brachte 1951 die ersten "publikationen einer wiener gruppe junger autoren" nach Innsbruck mit, die Gedichte von Renè Altmann, H. C. Artmann, Ernst Kein, Jeannie Ebner, Gerhard Fritsch, Friederike Mayröcker und anderen enthielten. Sie alle kamen in den darauf folgenden Jahren zu den Jugendkulturwochen. Wie viele andere auch: Thomas Bernhard, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer und Christine Busta, die bald eine der Mentorinnen werden sollte und ähnlich wie Rudolf Felmayer oder auch Hans Weigel sich der Förderung der Jungen widmete. - Aber eine kritische Auseinandersetzung fand kaum statt, so gut wie nie.

Nachhaltige Versäumnisse

Wenn Ludwig von Ficker, der "Brenner"-Herausgeber, Autoren wie Theodor Kramer oder Wilhelm Szabo wie selbstverständlich in eine Reihe stellte mit Ingeborg Bachmann, Christine Busta, Paul Celan, Gerhard Fritsch, Michael Guttenbrunner, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, dann versuchte er nicht nur, die Brüche zwischen den Repräsentanten des Exils und der inneren Emigration auf der einen Seite sowie den Jungen auf der anderen Seite zu überbrücken, mittelbar brach er auch über die von ihm verachtete, noch immer aber da und dort geförderte Goldschnittlyrik endgültig den Stab; nur, unmittelbar, in öffentlichen Kontroversen die Funktion der Literatur in der Gesellschaft neu zu formulieren, dazu raffte sich in diesen Jahren noch niemand auf - am wenigsten die Literaturwissenschaft der Zeit, die der Gegenwartsliteratur mindestens genauso skeptisch gegenüberstand wie der Teufel seinerzeit dem Weihwasser: Die Stagnation des literarischen Lebens zwischen 1947/48 und 1955 ist in allererster Linie nicht den Autorinnen und Autoren, die damals geschrieben haben, sondern den Repräsentanten der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft, die damals geschwiegen haben, zu verdanken.

Die Autoren arbeiten am Brennerarchiv in Innsbruck.

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