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Nur ein reinigendes Gewitter

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Vier Kaiserreichen brachte der Erste Weltkrieg den Tod. Die Grenzen der Staaten in Europa veränderten sich, zehn neue Staaten entstanden.

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Vier Kaiserreichen brachte der Erste Weltkrieg den Tod. Die Grenzen der Staaten in Europa veränderten sich, zehn neue Staaten entstanden.

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Karl Kraus läßt „Die letzten Tage der Menschheit" mit einem Zeitungsausrufer am Sirk-Eck an der Wiener Ringstraße beginnen, der die Ermordung des Osterreichischen Thronfolgers, Erzherzog Franz Ferdinands, ausschreit: „Da 'lata ein Serbee!" Die ihren abendlichen Vergnügungen zuströmenden Passanten geben sich unberührt. Nur einer meint so nebenbei: „Weißt, no wer' mr halt (fuchtelt mit dem Spazierstock) - a bisserl a Aufmischung -gar nicht schlecht - kann gar nicht schaden - höxte Zeit -".

Aus der von höchsten Osterreichischen Militärs bereits 1908/09 und dann 1912/13 sehnlichst herbeigewünschten „Aufmischung" auf dem nicht zuletzt durch österreichische Einmischung unruhigen Balkan wurde ab August 1914 ein Weltkrieg, dessen Auswirkungen bis heute in Mittel-, Südost-und Osteuropa zu spüren sind. Zweieinhalb Jahre nach Kriegsbeginn wußten die Mittelmächte Österreich-Ungarn und Deutschland nicht mehr, was sie taten. Die von Wien nach der Ermordung des Thronfolgers in Sarajewo nur zögernd betriebene Strafaktion gegen Serbien hatte sich zu einem Mehrfrontenkrieg entwickelt, der nicht mehr beherrschbar war, geschweige denn zu einem 1916/17 noch propagandistisch verkündeten Sieg gewendet werden konnte. Historiker sprechen von Militärs, die sich derpolitischen Tragweite ihrer Handlungen nicht mehr bewußt waren.

Die Katastrophe von 1918 hat keiner gewollt. Karl Kraus läßt am Schluß der „letzten Tage der Menschheit" eine Stimme von oben ertönen: „Der Sturm gelang, die

Nacht war wild. Zerstört ist Gottes Ebenbild." Ihr folgt großes Schweigen. Dann läßt sich Gott vernehmen: „Ich habe es nicht gewollt."

Die zwei Todesschüsse von Sarajewo haben den Weltkrieg nicht ausgelöst, waren aber ein entscheidendes Signal auf dem Weg ins Fanal. Die eigentlichen Gründe für den Ersten Weltkriegs sind in den seit dem Krieg von 1870/71 zwischen Deutschland und Frankreich bestehenden Spannungen, in den weltpolitischen Ambitionen des Deutschen Reichs, die von England vor allem des deutschen Flottenausbaus wegen als bedrohlich gewertet wurden, in der von Rußland auf dem Balkan betriebenen pansla-wistischen Politik, die auf eine Konfrontation mit Österreich-Ungarn hindrängte, schließlich auch in einer nationalistisch-militaristisch geprägten Ausrichtung der europäischen Mächte zu suchen.

furche-Gründer Friedrich Funder, im Jahre 1914 Chefredakteur der dem Thronfolger Franz Ferdinand sehr nahestehenden „Reichspost", die vor allem zum Sprachrohr der gegen die überhebliche Magyarisierungspo-litik Budapests und auf eine Autonomie für die Slawen innerhalb der Monarchie gerichteten Ambitionen des im Wiener Belvedere wohnenden Erzherzogs geworden war, hat in einer achtteiligen Artikelserie in der FURCHE ab 19. Juni 1954 versucht, Österreich von dem „ungerechten Aburteil", schuld am Ersten Wel-krieg zu sein, zu befreien. Serbien habe sich Österreich gegenüber undankbar erwiesen, so Funder. Österreich habe Serben vor den Türken als Siedlungsland geholfen, habe Serbien sogar die Staatlichkeit verschafft." Funder wörtlich. „Trotzdem hielt die großserbische Propaganda an der Behauptung fest, daß Österreich-Ungarn die Freiheit und den Bestand Serbiens bedrohe... Seit ihren Anfängen stellte die großserbische Bewegung in das Zentrum ihrer politischen Lehre das Dogma: Österreich-Ungarn ist der Feind, der vernichtet werden muß! Die Lehre mußte ein System gefährlich machen, das auf einem solchen Gewaltprinzip aufbaute. Ja, diese Lehre führte zum 28. Juni 1914."

Eine starke Fixierung auf dieses Datum, jenen Sonntag, an dem an der Lateinerbrücke auf dem Appelkai in Sarajewo von Gavrilo Princip mit zitternder Hand die Schüsse auf Franz Ferdinand und den Landeschef von Bosnien-Herzegowina, Feldzeugmeister Oskar Potiorek, abgegeben wurden - der zweite traf allerdings Herzogin Sophie tödlich - verstellt den Blick auf jene Kriegsstimmung, die in den Jahren zuvor im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn zum Erziehungsprinzip geworden war, wie man heute sagen würde. „Die Militärs rüsteten solange für einen Krieg, bis er tatsächlich unvermeidbar war. Die Politiker und Diplomaten knüpften sich ihre eigenen Schlingen, aus denen sie sich schließlich durch den Krieg befreiten. Schriftsteller, Künstler und Lebensreformer geißelten die geistige und moralische Flachheit ihrer Zeit, hieß es in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" am vergangenen Dienstag, 28. Juni, zu jener 1914 offenbar am Kulminationspunkt angekommenen Hoffnung auf ein „reinigendes Gewitter".

Der österreichische Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner, Direktor des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums, konstatiert in seinem großangelegten Standardwerk „Der Tod des Doppeladlers" (Styria 1993), „daß der Krieg im Schulunterricht eine erhebliche Rolle spielte und sich militärische Führer, vor allem die hohe Generalität, generell eines erheblichen Ansehens erfreuten. Der Krieg schien der ideale Ausweg zu sein, um Politik zu machen, weniger im Sinne der Fortsetzung als der Ersetzung... Der Kriegsbeginn war aber vor allem auch etwas, das die Intellektuellen herausforderte und schließlich zu einem intellektuellen Ereignis ersten Ranges wurde... Später und bis in die jüngste Zeit ist das, was im Sommer und Herbst 1914 gesagt und geschrieben worden ist, scharf kritisiert und als ungeheure Entgleisung des menschlichen Geistes gebrandmarkt worden. Hans Weigel schrieb von der ,Schande des Geistes in Deutschland und Österreich' und übersah dabei vollkommen, daß der intellektuelle Aufschrei 1914 nichts war, das auf diese Länder beschränkt geblieben wäre."

Der Chef des Generalstabs, General der Infanterie Franz Conrad von Hötzendorf, der Franz Ferdinand zu den Manövern in Bosnien-Herzegowina (siehe Seite 10) begleitet und sich am 27. Juli von diesem verabschiedet hatte und dann nach Karlo-vac weitergereist war, hat den Mord von Sarajewo als letztes Glied einer langen Kette bezeichnet: „Er war nicht die Tat eines einzelnen Fanatikers, er war das Werk eines wohlorganisierten Anschlags, er war die Kriegserklärung Serbiens an Österreich-Ungarn. Sie konnte nur mehr mit dem Krieg erwidert werden."

Eine plötzliche Strafaktion gegen Serbien wäre in Europa wahrscheinlich verstanden worden. Das lange Überlegen am Wiener Hof bis zum Ultimatum an Serbien am 23. Juli, auf dessen unannehmbare Bedingungen Belgrad am folgenden Tag mit der Mobilisierung antwortete, was schließlich am 28. Juli zur Überreichung der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien führte, hat den europäischen Mächten eine Bedenkpause verschafft, während der der im wahrsten Sinn des Wortes verheerende Bündemechanismus in Gang gesetzt werden konnte.

Im Manifest Kaiser Franz Josephs heißt es zu Serbien : „Diesem unerträglichen Treiben muß Einhalt geboten, den unaufhörlichen Herausforderungen Serbiens ein Ende bereitet werden, soll die Ehre und Würde Meiner Monarchie unverletzt erhalten und ihre staatliche, wirtschaftliche und militärische Entwicklung vor beständiger Erschütterung bewahrt bleiben... So muß ich denn daran schreiten, mit Waffengewalt die unerläßlichen Bürgschaften zu schaffen, die Meinen Staaten die Ruhe im Innern und den dauerhaften Frieden nach außen sichern sollen... Ich habe alles geprüft und erwogen."

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