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Nur im Gnadenwege?

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Die gegenwärtig auf der Tagesordnung stehenden Fragen der österreichischen Strafrechtspflege rühren an die tiefsten sittlichen Probleme der Rechtsordnung. Ihre Prüfung verdient die Anteilnahme weitester Bevölkerungskreise. Durch die Abschaffung der Todesstrafe ist die Wirksamkeit der strafrechtlichen Bestimmungen über die Verurteilung zu lebenslänglichem Kerker vom Standpunkt des Schutzes der Bevölkerung gegen das Verbrechertum zur Debatte gestellt. „Die Furche“

Die Häufigkeit von Gewaltverbrechen in .den letzten Monaten“ hat Veranlassung geboten, die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit einer „bedingten Entlassung“ der „Lebenslänglichen“ aus der Haft als untragbar zu bezeichnen (M a 1 a-niuk in der „österreichischen Furche“ vm 23. September 1950). Gefordert wird die Aufhebung der gesetzlichen Vorschrift, die eine b e-dingte Entlassung von verurteilten (oder begnadigten) „Lebenslänglichen“ gestattet, weil „sonst diese Verbrecher nach Ablauf von 15 Jahren ihrer Strafverbüßung wieder Gelegenheit haben, neue und schwerste strafbare Handlungen zu begehen“, und damit auch der Sicherungszweck fast vollkommen außer acht gelassen wäre. Statt der im Gesetz vorgesehenen „bedingten Entlassung“ durch die dreigliedrige Strafvollzugsbehörde (Gerichtshofpräsident, Staatsanwalt und Leiter der Strafanstalt) soll in Hinkunft nur die gnadenweise Entlassung (gemäß Art. 65 der Bundesverfassung) durch den Bundespräsidenten zulässig sein, weil „die Erfahrung lehrt, daß von der gesetzlichen Möglichkeit (nämlich .Lebenslängliche' schon nach 15jähriger Haft bedingt zu entlassen) in der Regel Gebrauch gemacht wird“.

Dieser Gedankengang scheint so bestechend, daß sich jede weitere Diskussion erübrigen müßte, zumal die Frage aufgeworfen wird, „ob die Zeit, in der die mit dem Tode bedrohten Verbrechen in gefahrdrohender Weise um sich greifen, schon vorüber ist“. Außerdem wird betont, daß „Gründe der Generalprävention, also die sozialpädagogische Einwirkung auf die Gesamtheit in bewegten Zeiten eine wenn auch nur zeitweilige Verschärfung der Strafpraxis notwendig machen“ („Furche“, a. a. O., S. 3, Spalte 4). In derselben Spalte wird eine Erfahrungstatsache angeführt, nämlich die „Hoffnung jedes Verbrechers, daß bei ihm der Tat die Strafe nicht unausbleiblich folgt, sondern daß die Tat oder mindestens seine Täterschaft nicht entdeckt wird“.

Deshalb darf aber auch der Schwere einer Strafdrohung nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden. Man denke an die schwere Strafsanktion gegen das Abhören ausländischer Sender im Kriege. Wie viele haben dennoch gehört, trotz grausamer Strafen, die nicht nur angedroht waren? Würde vor der schweren Tat Gelegenheit geboten sein, den Verbrecher vor die Wahl zu stellen, von der Tat abzustehen oder sofort nach der Tat die 15jährige Kerkerstrafe anzutreten, so würde er wahrscheinlich auf die Tat verzichten, das heißt es würde wohl auch die geringere Strafdrohung ausreichen, wenn der Verbrecher knapp vor dem „fiat“ das antizipierte Unlustgefühl der unmittelbar bevorstehenden und unausweichlichen Haft empfinden müßte.

Weiter wird die Sicherungsfunktion der lebenslangen Kerkerstrafe ins Treffen geführt. Nun, eine Sicherung richtet sich gegen die kriminelle Gefährlichkeit einer Person, das heißt gegen die nahe Wahrscheinlichkeit, diese Person werde eine Straftat verüben. Besteht diese Gefahr nur bei bereits Verurteilten? Wie viele Mörder waren schon einmal wegen Mordes verurteilt worden? Andererseits ist ein aggressiver Raufbold, der sich wiederholt schwerer Körperbeschädigungen schuldig gemacht hat und vielleicht auch schon mehrmals verurteilt wurde, gewiß nicht weniger gefährlich (auch für das Rechtsgut des Lebens) als ein wegen Mordes, Raubes, Brandlegung usw. (S. 4, Spalte 1) Verurteilter. Dieser Raufbold würde aber selbst, wenn er zu schwersten Strafen verurteilt würde, schon nach zehn Jahren frei sein, oder, wenn er bedingt entlassen würde, schon nach sechs Jahren und acht Monaten. Er wäre also nur für eine wesentlich kürzere Zeit „sicher verwahrt“.

Schon seit Jahrzehnten ist als zweckmäßiges kriminalpolitisches Instrument gegen die kriminelle Gefährlichkeit die .sichernde Maßnahme“ zur Besserung oder — wo diese nicht erzielbar ist — zur Unschädlichmachung durch langjährige Anhaltung im Arbeitshause (etwas ungenau und kurz benannt) empfohlen worden. Diese sichernden Maßnahmen wären auszubauen. Das zweckmäßigste und daher wichtigste Mittel zur Sicherung ist aber die seelische Betreuung.

Die schwersten Rechtsbrecher, die nicht mit Unrecht als seelisch Kraake bezeichnet werden, werden eingesperrt, aber nur selten behandelt. Der Dienstpostenplan unseres Bundesfinanzgesetzes 1950 sieht für alle Justizanstalten Österreichs acht Ärzte für die gesundheitliche Betreuung undsechsgeistlicheRektoren als Seelsorger vor. Ist es nicht absurd, anzunehmen, daß ein einzelner Seelsorger, der noch mit Verwaltungsaufgaben belastet ist, erfolgreich mehrere hundert bis tausend Gefangene seelisch betreuen, ihre Persönlichkeit gestalten kann? Englischen und anderen Anstalten stehen für etwa 350 Gefangene durchschnittlich neun Geistliche zur Verfügung, also ein Geistlicher für etwa vierzig Gefangene. Daneben gibt es noch die Sozialbeamten, welche die Brücke zwischen dem Gefangenen und jenen Menschen und Institutionen bauen, die ein rechtschaffenes Leben des Gefangenen nach der Entlassung gewährleisten. Dieses „Corrective Training“ hat sich ebenso wie das „Vocational Training Centre“ bewährt. Die Rückfallsziffern sind sinkend.

Die Vorschriften über die sichernden Maßnahmen wie die unseres ganzen Reaktionssystems sind unzureichend.

So bildet eine (zwingende) Voraussetzung für die Anordnung einer Anhaltung im Arbeitshause unter anderem die Feststellung, daß der Verurteilte eine eingewurzelte Abneigung gegen einen arbeitsamen und rechtschaffenen Lebenswandel bekundet habe. Es können aber Sittlichkeitsverbrecher oder Gewaltverbrecher sehr gefährlich sein, obgleich sie eine solche Abneigung nicht bekunden, ja in ihrem bürgerlichen Berufe sehr tüchtig und arbeitsam sind.

Nun zurück zu dem zu „Lebenslänglich“ Verurteilten, der zunächst 15 Jahre im Kerker angehalten wird. Kann in dieser langen Zeit wirklich nichts unternommen werden, was geeignet wäre, seine Gemütsart zu wandeln? Auch in einem „entstellten Menschenbild“ soll „dieser innere Grund erkannt werden, aus welchem selbst Schuld und Vergehen niemals das Siegel des Schöpfers auslöschen“ können, wie Papst Pius XII. in seiner Ansprache an die katholischen Juristen Italiens im Jahre 1949 nachdrücklich sagte. Es ist unsere Pflicht, die Läuterung selbst einer noch so verkrusteten Seele wenigstens zu versuchen. Würde da die Aussichtslosigkeit des „lebenslänglichen Kerkers“, aus dem es grundsätzlich keinen Ausweg gibt, nicht sehr hinderlich sein? Wie wohltätig erweist sich doch die Laudativwirkung auf dem Gebiete der Jugenderziehung. Auch der Kriminalpädagoge wird auf sie nicht verzichten können. Auch der Gefangene muß wissen, daß sich ein gutes Verhalten lohnt. Andererseits würde die höchstmögliche Disziplinarstrafe (Einsperrung in einer Korrektionszelle durch höchstens vier Wochen) wohl kaum geeignet sein, auf den „Lebenslänglichen“ einen solche psychologischen Zwang auszuüben, daß er vor den schwersten Gewalttaten etwa gegen Gefängnisbeamte zurückschreckt, da er ja ohnedies keine Aussicht hat, dem lebenslänglichen Gefängnis zu entrinnen.

Schließlich bestimmt das Gesetz (StGBl. 373/20), daß die Strafvollzugsbehörde, das ist eine Kommission, die aus dem Präsidenten des Gerichtshofes, dem Staatsanwalt und dem Leiter der Strafanstalt besteht, vor der Entlassung in die Akten über das Strafverfahren Einsicht nimmt, eine Äußerung der Sicherheitsbehörden des früheren und des künftigen Aufenthaltsortes des zu Entlassenden einholt, und schließlich, daß der Gefangene nur zu entlassen ist. wenn der Gefangene den durch die Tat verursachten Schaden nach Kräften gutgemacht hat und nach seiner Aufführung während der Anhaltung, nach seiner Vergangenheit, den persönlichen Verhältnissen und den Aussichten auf ein redliches Fortkommen anzunehmen ist, daß er sich in der Freiheit wohlverhalten werde. Die Entlassung kann nur zur Probe (mit siebenjähriger Probezeit) erfolgen. Gegen den Beschluß der Strafvollzugsbehörde steht auch dem Staatsanwalt (falls er überstimmt wurde) die Beschwerde offen, über die das Oberlandesgericht nach Anhörung des Oberstaatsanwaltes entscheidet.

Im Falle eines Gnadenantrages aber hat der Vorsteher der Strafanstalt diesen Antrag mit seiner Äußerung dem Urteilsgerichte in erster Instanz zu übermitteln, welches das Gesuch prüft und entweder zurückweist oder dem Oberlandesgericht vorlegt, das wieder nach Anhörung des Oberstaatsanwaltes das Gesuch zurückweisen oder an den Justizminister weiterleiten kann. Gewiß muß ein Gnadengesuch einen längeren Aktenweg zurücklegen. Darf aber deshalb der Strafvollzugsbehörde wirklich so wenig Vertrauen geschenkt werden? Warum? Vor der Abschaffung der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren ist kein Fall einer Entlassung eines „Lebenslänglichen“ bekannt geworden, die besser unterblieben wäre. Vor dem Jahre 1945 verurteilte gefährliche „Lebenslängliche“ dürften kaum noch am Leben sein. Nach dem Jahre 1945 zu lebenslangem schwerem Kerker Begnadigte könnten zwar im Gnadenwege jederzeit, aber nach dem Gesetz (StGBl. 373M920) kaum vor dem Jahre 1961 zur Begnadigung beantragt

Franziskus in Sibirien

Du predigtest dem Fisch im Weiher und dem Molch im Wald, der Hirschkuh und der Vogelbrut auf Berberitzen, ein Bettler selbst, doch überreich an Sonne und beglückender Gewalt! Vor deinen Purpurmalen knieten sanftgeneigt die Kitzenl

Die stumme Qual, die unerlöster Schöpfung Fluch zum Himmel steilt, zerschmolz vor dir, der innern Not entbunden, werden. „Gewaltverbrecher, .der letzten Monate“ aber, die erst im Jahre 1950 oder 1951 verurteilt werden, könnten erst im Jahre 1965 oder 1966 zur Entlassung beantragt werden, falls über sie die lebenslange Kerkerstrafe verhängt würde, wobei immer eine siebenjährige Probezeit vorgeschrieben ist. Bis zum Jahre 1965 wird wohl manches anders aussehen als heute.

Steht der Prestigeverlust, der die natürliche Folge eines Rückschrittes statt eines Fortschrittes in der Kriminalrech'ts-pflege wäre, nicht auf dem Spiele? Schon im Jahre 1878 hat der Stockholmer Kongreß der Commission Internationale Penale et Penitentiaire auf die Nützlichkeit der bedingten Entlassung hingewiesen, im Jahre 1930 (Prager

Kongreß) wurde eine eingehende Prüfung der Persönlichkeit des Verurteilten vor der Entlassung, gefordert, wie sie auch in unserem Gesetze Vorgeschrieben ist, und die Gewähr bietet, daß das Institut nicht mißbraucht wird. Auch in Strafgesetzen unserer Nachbarländer äst eine bedingte Entlassung von „Lebenslänglichen“, natürlich unter Beachtung der Persönlichkeit, vorgesehen, so im DRStrGB, im Schweizer StrGB vom Jahre 1937, im jugoslawischen StrGB vom Jahre 1947. Ja selbst das englische Criminal Justice Act 1948 sieht eine Entlassung von .Lebenslänglichen“ auch ohne Gnadenakt vor.

Bleiben wir des bekannten Ausrufes des österreichischen Justizministers Professor Hye-Glunek eingedenk: „Österreichs Stolz sind seine Justizgesetze.“

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