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Nur Taktik?

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Das Unwahrscheinliche, womit eben bis zum letzten Tag, ja zur letzten Stunde kein Nachrichtenbüro, kein Pressekommentar der Welt gerechnet hatte, wurde Ereignis: Der Mann, der wohl die überragendste Position unter den Landesvätern der Volksdemokratien innehatte, „Lenins und Stalins treuester Schüler“, Matthias Rakosi, trat zurück — zumindest von der Rampe der politischen Bühne des ungarischen Nachbarlandes. Schon am 28. Juni wechselte er seine Position innerhalb der KP Ungarns. Als Generalsekretär war er der taktisch allen Gegnern und Rivalen überlegene Vollstrecker der völligen Gleichschaltung Unga'rns im Ostblock gewesen: heute ist er nur mehr Politbüro-Mitglied Nr. 1 und Primus inter pares im Parteisekretariat. Die westliche, so auch die österreichische Presse wußte noch in ihrer Samstagausgabe (v. 4. 7.) zu berichten, „Ministerpräsident Rakosi sei nach wie vor der starke Mann Ungarns“. Aber die Wiener Mittagsblätter waren noch nicht auf der Straße, als in Budapest das am 17. Mai neugewählte Parlament zusammentrat, um die zurückgetretene Regierung durch

eine neue zu ersetzen. Ein Gesellschaftsspiel mit den volksdemokratischen Spielregeln? Dies wurde erwartet — aber es kam anders. Die vom Präsidialrat der Volksrepublik übersandte Regierungsliste begann: Vorsitzender des Ministerrates: Imre Nagy. Sein erster Stellvertreter und Innenminister: Ernö Gero. Justiz: Ferenc Erdei. Minister für Volksbildung: Jözsef Darvas... Sein Vorgänger Jözsef Revai sowie Verteidigungsminister Mihäly Farkas scheinen weder da, noch in der Parteiführung mehr auf. Der Theoretiker Revai, dessen häufig erhobenes Wort in Sachen von Kunst, “Wissenschaft und Literatur stets als Kanone galt, der die Kampagne gegen Georg Lukäcs, gegen alle „westliche Abweichungen“ persönlich leitete, ist — bloß Vizepräsident des Parlamentes geworden ...

Das Parlament nahm einstimmig an. Die 300 Ersatzmänner“ — der Listenführer in sämtlichen Wahlbezirken des Landes war ja bekanntlich Rakosi gewesen — unterließen es, überflüssige Fragen zu stellen. Die Stille dauerte dann auch während der ganzen einstündigen Antrittsrede von Imre Nagy. Er sprach mit starkem bäuerlichem Akzent, einfach und sachlich. Als er einmal, gleichsam am Rande, seiner Hoffnung Ausdruck gab, daß „die Sowjetunion hoffentlich auch in Zukunft helfen wird“, gab es schwachen Applaus. Die Zeit der emphatischen, minutenlangen, dahinbrausenden oder rhythmischen Ovationen wäre also vorbei. Das spricht Bände. Nun die Rede selbst. Die Regierung will sich, viel mehr als bisher, auf das Parlament stützen, dieses soll eine aktive Rolle spielen. Anderseits sollen die Ministerien (und nicht etwa die Partei) die Verantwortung tragen. Wesentliche Umstellung des Fünfjahrplanes und nunmehr realistische Pläne zur Förderung der Gebrauchsgüterindustrie (statt Schwerindustrie) und vor allem der Landwirtschaft. Wichtigstes Nahziel: Hebung des Lebensstandard der gesamten Bevölkerung. Statt Autarkie weltweite Wirtschaftsbeziehungen. Alle Bauern, die die landwirtschaftliche Genossenschaft (Kolchos) verlassen wollen, können es unbeschadet tun, sie und alle selbständigen Bauern werden

mit Krediten und Naturalien weitgehend unterstützt. Dasselbe gilt für Kleinhandel und kleines Gewerbe. Schluß mit der Kulaken-Diskriminierung! Sicherung und Förderung des privaten Eigentums und der Privatinitiative. Radikale Preissenkungen. Geldstrafe und Ueberstunden in den Betrieben abgeschafft.

Weitestgehende Anerkennung und Unterstützung der „alten Intelligenz“. „Sie wurde vielfach unwürdig behandelt. Sie muß ihren Ehrenplatz in der Volksdemokratie einnehmen.“ Die rapid wachsende Vielzahl von Hochschulen: „das waren ja Wolkenkuckucksheime!“ Dafür neue Volksschulen für die Dörfer: „das wird viel demokratischer sein!“ „Die Regierung wird die Anwendung von administrativen Mitteln in Angelegenheiten der Kirchen nie mehr dulden.“ „Verfassungsmäßigkeit, Gesetzlichkeit sind die Grundsätze der Regierung. Die in der Vergangenheit begangenen schweren Fehler müssen wieder gutgemacht, die Rechtsordnung gefestigt werden. Der Staat ist für seine Bürger da und nicht umgekehrt!“ Die Justiz- und Polizeiorgane haben bisher besonders schwere Fehler gemacht: dem muß radikal abgeholfen werden. Freilassung aller Internierten, Auflösung sämtlicher Internierungslager. Vollste Freizügigkeit für die deportiert Gewesenen. Zur Durchführung dieser Maßnahmen Ernennung eines Obersten Staatsanwaltes... „Große Wende“... „Von größter Tragweite“ ... „Tiefgehende Aenderungen“ ... „breiteste nationale Einheit“... — so weit also das Programm. Kein Wort über Rakosi, kein Wort von Außenpolitik, von Militär,

von Klassenkampf. In der kurzen Debatte-keine Gegenstimme. Radio Budapest bringt die Rede zweimal. Die Sitzung war zu Ende.

Moskaus „taktische Züge“ also — oder Auflehnung und Revolte? Vielleicht beides, aber in einem tieferen Sinne. Hybris und Theorie haben versagt, im Wettlauf für die Planziele blieb „die Volksseele“ auf der Strecke. Sie wird jetzt gesucht, sie soll gewonnen werden. Die kalten Rechner, der „Gehirntrust“ ist dazu wenig geeignet. So werden Franz Erdei, der „Vater der Bodenreformen“, Jözsef Darvas, der Volksdichter, auf den Plan gerufen. Keine Parteimitglieder. Junge Männer, studierte Söhne von armen Bauern — wie auch Imre Nagy selbst und noch andere — als „romantische Träumer“ und „Volksaufwiegler“ in der Vorkriegszeit ausgelacht, abgetan. Seither: Frondienste, wohl mit gespaltener Seele. Von ihnen führen geistige Fäden zu Prof. Szekfü, zum Komponisten und „dem ungarischen Herder“ Zoltän Kodäly, zum Dichter Gyula Illyes, der sich bislang, trotz Bemühungen Revais um ihn, stets abseits hielt... Werden sie, könnten sie wirklich zum Zuge kommen? Weiß man in Moskau mehr von solchen Dingen, als bisher vermutet? Mit der Zeit wird man es bemerken müssen!

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