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Oesterreich im Europa von heute

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Die Internationalen Hochschulwochen des Europäischen College in Alpbach, die alljährlich Hunderte von geistig regsamen Menschen aus allen Teilen der Welt in das Tiroler Gebirgstal ziehen, jähren sich heuer zum fünfzehnten Mal. Aus einer Improvisation Otto Moldens in den Maitagen des schrecklichen und doch so hoffnungsvollen Jahres 1945 ist eine Dauereinrichtung geworden. Mit Recht weisen die Veranstalter darauf hin, daß Alpbach heute ein fester Begriff überall dort ist, wo man Europa vor allem als geistige Aufgabe ansieht. Das Gesamtthema der diesjährigen Alpbacher Wochen — „Politik und Kultur“ — weist erneut auf diesen Anspruch hin. Die Tage in Alpbach wurden in diesem Jahr von Bundespräsident Dr. Schärf mit einer Rede eröffnet. Diese Ausführungen lassen das Wachsen eines österreichischen Geschichtsbildes erkennen, in dem die Proportionen zwischen dem alten Reich und der Republik in ein harmonisches Verhältnis gerückt sind. Dies scheint uns wegen der Person des Sprechers von besonderer Bedeutung. Wir geben deshalb diese Rede des Bundespräsidenten als ein Dokument österreichischer Selbstbesinnung, welche die Vorurteile parteipolitischer Natur überwunden hat, im vollen Wortlaut wieder. „Die Furche“

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Die Internationalen Hochschulwochen des Europäischen College in Alpbach, die alljährlich Hunderte von geistig regsamen Menschen aus allen Teilen der Welt in das Tiroler Gebirgstal ziehen, jähren sich heuer zum fünfzehnten Mal. Aus einer Improvisation Otto Moldens in den Maitagen des schrecklichen und doch so hoffnungsvollen Jahres 1945 ist eine Dauereinrichtung geworden. Mit Recht weisen die Veranstalter darauf hin, daß Alpbach heute ein fester Begriff überall dort ist, wo man Europa vor allem als geistige Aufgabe ansieht. Das Gesamtthema der diesjährigen Alpbacher Wochen — „Politik und Kultur“ — weist erneut auf diesen Anspruch hin. Die Tage in Alpbach wurden in diesem Jahr von Bundespräsident Dr. Schärf mit einer Rede eröffnet. Diese Ausführungen lassen das Wachsen eines österreichischen Geschichtsbildes erkennen, in dem die Proportionen zwischen dem alten Reich und der Republik in ein harmonisches Verhältnis gerückt sind. Dies scheint uns wegen der Person des Sprechers von besonderer Bedeutung. Wir geben deshalb diese Rede des Bundespräsidenten als ein Dokument österreichischer Selbstbesinnung, welche die Vorurteile parteipolitischer Natur überwunden hat, im vollen Wortlaut wieder. „Die Furche“

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Anläßlich des Jubiläums, das Alpbach heuer feiert, bin ich eingeladen worden, zu Ihnen über die Stellung Oesterreichs im Europa von heute zu sprechen. Ich habe diese Einladung gern angenommen und freue mich, Ihre Gespräche mit einer Betrachtung darüber einleiten zu können, was Oesterreich auf dem Höhepunkt seiner Geltung in Europa war, was von der Bedeutung des alten Reiches geblieben ist und welche Aufgabe nach meiner Ansicht dem neuen Oesterreich seit seiner Wiedergeburt im Jahre 1945 in einem neuen Europa gestellt wird.

Der Blick in die Vergangenheit ist nötig, um das Oesterreich von heute zu verstehen. Lassen Sie mich zwei Kalendertage einander gegenüberstellen, die in der Geschichte unseres Landes denkwürdig sind. Auf diese Weise kann die Stellung Oesterreichs in Europa in der Vergangenheit und in der Gegenwart deutlich gemacht werden. Am 21. Juli 1718 wurde in Pas- sarowitz, östlich von Belgrad, nahe der Mündung der Morava in die Donau, der Friedensvertrag unterzeichnet, der den Krieg zwischen Karl VI. und der Republik Venedig einerseits und der Hohen Pforte anderseits beendete. Durch den Frieden von Passarowitz erhielt das alte Oesterreich seine größte Ausdehnung nach dem Südosten hin, die Großmachtstellung Oesterreichs, die schon neunzehn Jahre vorher durch den Frieden von Karlowitz begründet worden war, wurde bestätigt und gefestigt.

Am 15. Mai 1955 wurde in Wien, in dem Sommerpalast jenes Prinzen Eugen von Savoyen, durch dessen Siege und staatsmännische Talente der Frieden von Passarowitz herbeigeführt worden -war ,-jener Staatsvertrag unterzeichnet, der die Republik Oesterreich als selbständigen und unabhängigen Staat wiederbCrstellte und dadurch eine neue Lage in Europa schuf.

Es muß ein glänzendes Schauspiel gewesen sein, als sich im Jahre 1718 die kaiserlichen Unterhändler nach Passarowitz zum Friedenskongreß mit der Türkei begaben. Die Seemächte — nämlich England und die Niederlande —, die zwar nicht am Krieg beteiligt waren, aber ängstlich darüber wachten, daß ihnen die Macht Karls VI. nicht gefährlich werden könnte, schickten Beobachter nach Passarowitz, die sich hauptsächlich als Berater der türkischen Delegation betätigten.

Prinz Eugen griff nicht selbst in die Verhandlungen ein, aber er hielt sich während des Kongresses in Belgrad auf und erteilte von dort aus den österreichischen Gesandten seine Weisungen. Es gab damals Stimmen in Wien, welche die Fortsetzung des Krieges gegen die Türken forderten. Es war der Staatskunst des Prinzen Eugen zu verdanken, von dem seine Zeitgenossen sagten, er sei als Feldherr ebenso mutig wie als Minister besonnen, daß sich Karl VI. in Passarowitz mit dem Erreichbaren zufrieden gab. Oesterreich erhielt das Banat, Nordserbien mit Belgrad, die kleine Wallachei und Teile Bosniens, also große Gebiete des heutigen Jugoslawien und des heutigen Rumänien.

Damit war Ungarn, das seit 1526 ein ewig unruhiges, dann von den Türken überranntes Besitztum der Habsburger bildete, endgültig mit Oesterreich verbunden. Die durch den Krieg und die Türkenherrschaft entvölkerten Gebiete wurden mit Deutschen besiedelt. In der Türkei erhielt Oesterreich die Handelsfreiheit zugestanden, die bis dahin von der Hohen Pforte nur den Engländern und den Niederländern eingeräumt worden war.

Dieser Friede von Passarowitz muß im Zusammenhang mit den ungeheuren Veränderungen beurteilt werden, dje zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts in Europa vor sich gingen. Zu gleicher Zeit tobten ja drei große Kriege in unseren Erdteil: der spanische Erbfolgekrieg, der nach dem Tod des letzten spanischen Habsburgers ausgebrochen war, der nordische Krieg, der die Großmachtstellung Schwedens beendete und das Rußland Peter des Großen zu einem entscheidenden Faktor im Osten werden ließ, und der Türkenkrieg, der die 1683 bei Wien so glänzend bewährte Stellung Oesterreichs als Schutzschild gegen den Ansturm aus dem Osten bestätigte. Oesterreich und Rußland stiegen im

18. Jahrhundert zu gleicher Zeit zum Rang europäischer Großmächte auf.

Vier Jahre vor dem Frieden von Passarowitz war der spanische Erbfolgekrieg durch die Friedensschlüsse von Rastatt und Baden beendet worden. Im Frieden von Utrecht waren Karl, der als Kaiser Karl VI. in Oesterreich regierte, die spanischen Nebenländer zugesprochen worden, nämlich die Niederlande, Mailand, Neapel und Sardinien. Zum erstenmal taucht in den Dokum.enten der Friedenskonferenz von Utrecht der Begriff des europäischen Gleichgewichts auf.

Zwei Großmächte hatten zu jener Zeit, eben zu Beginn des 18. Jahrhunderts, ihre ganz überragende, ja beherrschende Stellung eingebüßt:

Frankreich, das als Bundesgenosse der Türkei so lange Oesterreich in der Zange gehalten hatte, und Schweden, das vom Norden her die europäische Mitte bedrohte.

Zwei neue Großmächte waren — wie erwähnt — auf die Bühne der Weltgeschichte getreten, das Oesterreich Karl VI. und das Rußland Peters I. Eine dritte neue Macht war in Preußen im Entstehen begriffen. Fünf Staaten bestimmten dann durch hundert Jahre die Geschicke unseres Erdteils: Frankreich, England, Rußland, Preußen und Oesterreich. Die Vorherrschaft Frankreichs war gebrochen, die Türkengefahr gebannt.

Die europäischeste der Mächte, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, war wohl Oesterreich. In Wien bestand weder das Bestreben, weiter auf Eroberungen auszugehen noch Europa zu unterjochen. Wien hatte vor den anderen Hauptstädten in dieser Zeit auch voraus, daß sein Hof nicht bedingungslos das Beispiel der französi schen Könige nachahmte. Spanische und italienische Einflüsse machten sich in der kaiserlichen Residenz geltend, ohne daß jemals das eigene österreichische Volkstum untergegangen wäre. Es war üblich, bei Hofe und in den Adelspalästen französisch, spanisch und italienisch zu sprechen, aber es galt nicht als unpassend, sich deutsch in wienerischer oder ländlicher Mundart oder mit slawischem oder auch madjarischem Akzent auszudrücken.

Beamte aus Wien amtierten weit unten an der Donau, aber nach Wien strömten Arbeiter, Handwerker und Kaufleute aus Böhmen und Ungarn, aus Krain und aus Dalmatien. Die österreichischen Erblande, das heutige Oesterreich ungefähr, gaben und nahmen geistige

Güter. Ein großer Ausgleich, eine große Vermischung vieler Nationen vollzog sich.

Europa ist es zugute gekommen, daß hier in Oesterreich der Ansturm aus dem Osten zum Stehen gebracht worden war, ohne daß dabei eine undurchdringliche Mauer an der österreichischen Ostgrenze errichtet worden wäre. Europa zog Nutzen daraus, daß in Oesterreich nach dem Ende der Türkennot die Künste aufblühten, daß das österreichische Barock Meisterwerke der Architektur schuf, die wir noch heute besitzen. Oesterreichische Musik begeisterte Europa. Wir wollen uns nicht selbst loben, aber wir dürfen uns doch erlauben festzustellen, daß die Großmacht Oesterreich, die vor 250 Jahren entstand, Kriege stets nur dann geführt hat, wenn sie Krieg führen mußte.

Für Europa hat der Bestand des alten Oesterreich-Ungarn viele Vorteile gebracht. So weit auch die inneren Einrichtungen des vielsprachigen Reiches zuletzt hinter den Erfordernissen der Zeit zurückblieben, so hat doch die Großmacht Oesterreich, die ihrem Wesen nach allem Schönen, Heiteren, Lebensbejahenden und Völkerverbindenden aufgeschlossen war, in der Zeit zwischen Passarowitz und Sarajewo, dem Beginn des ersten Weltkrieges im Jahre 1914, mehr Gutes für Europa und die Europäer getan als manche andere Großmacht.

Das zur Vergangenheit, nun wieder in die Gegenwart!

Am 15. Mai 1955, einem Sonntag, wurde in Wien dem Volk vom Balkon des Prinz-Eugen- Schlosses Belvedere verkündet, soeben hätten die Außenminister der vier Großmächte unserer Zeit gemeinsam mit dem österreichischen Außenminister den Vertrag „betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Oesterreich“ unterzeichnet. Aehnlich wie den Wienern des Jahres 195 5 mag es den Menschen zumute gewesen sein, als das Entsatzheer im Jahre 1683, vom Kahlenberg kommend, der Türkenbelagerung Wiens ein Ende bereitete. Wien wurde 1955 wieder frei und mit ihm Oesterreich. Es war ein neues Oesterreich, das zwar schon seit 1918 bestand, das uns jedoch erst seit dem Jahre 1945, als es in Trümmern lag, so richtig zum Vaterland geworden war.

Der Staatsvertrag enthält in den Artikeln 1, 2 und 5 folgende Bestimmungen: „Die Alliierten und Assoziierten Mächte anerkennen, daß Oesterreich als ein souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat wiederhergestellt ist. Sie erklären, daß sie die Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit Oesterreichs achten werden. Die Grenzen Oesterreichs sind jene, die am 1. Jänner 1938 bestanden haben.“ Die gemeinsame Verpflichtung der Großmächte im Westen und im Osten, Oesterreich als selbständigen Staat anzuerkennen, seine Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit zu achten, wird sinngemäß ergänzt durch die von Oesterreich im Verfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 eingegangene Verpflichtung, seine Neutralität dauernd aufrechtzuerhalten. Als Zweck der Neutralität wird in dem Verfassungsgesetz die Behauptung der Unabhängigkeit _ Oesterreichs nach außen und die Wahrung der Unverletzlichkeit seines Gebietes genannt. Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit sind aber jene beiden Rechtsgüter Oesterreichs, die zu achten die vier Mächte im Staatsvertrag feierlich versprochen haben.

Welche Stellung nimmt nun' dieses neue, neutrale Oesterreich im Europa von heüte ein?

Welche Bedeutung besitzt dieser Staat, dessen Unabhängigkeit von den Mächten anerkannt und dessen Neutralitätserklärung von ihnen zur Kenntnis genommen wurde, für Europa?

Politisch, militärisch und kulturell war Oesterreich in der Zeit zwischen dem Frieden von Passarowitz und dem Zusammenbruch von 1918 eine europäische Großmacht. Diese Stellung kommt dem kleinen Oesterreich nicht mehr zu. Aber unter veränderten Umständen ist das kleine Oesterreich von heute in mancher Beziehung geblieben, was es früher war, nämlich ein Element der Sicherheit und zugleich des Ausgleichs in Europa.

Wir wollen nicht vergessen, was andere für uns getan haben. Weder die Lebensmittelhilfe der ersten Nachkriegsjahre noch die großzügige Unterstützung, die uns in entscheidendem Maße durch den Marshall-Plan gewährt wurde, wollen wir geringschätzen. Aber ohne uns über Gebühr selbst zu loben, dürfen wir doch feststellen, daß es vor allem das Verdienst der Oesterreicher selbst ist, wenn dieses Land, so klein es ist, Europa nach dem Jahre 1945 wichtige Dienste geleistet hat und auch weiter leistet.

Der zweite Weltkrieg und die auf der Konferenz von Jalta schon vor dem Endsieg der Alliierten deutlich erkennbare Rivalität des Westens und des Ostens brachten es mit sich, daß Oesterreich, wie einige andere Länder, nicht von den Truppen eines der Siegel', sondern gemeinsam von den Divisionen aller vier Mächte besetzt wurde. Dieser Zustand mit seinen Zonengrenzen und Absperrungen erschien uns am Beginn unbequem. Wie gefährlich er nicht nur für uns, sondern für Europa und den Weltfrieden gewesen ist, erkannten wir erst, als er zu Ende war.

Es ist ein europäisches Verdienst österreichischer Politiker, daß im Herbst 1945 in Wien drei Länderkonferenzen stattfinden konnten, obwohl die Delegierten aus den westlichen Bundesländern unter ganz abenteuerlichen Umständen zu diesen Beratungen nach Wien kommen mußten. Es ist ein österreichisches Verdienst, daß die Länderkonferenzen sich auf den Standpunkt der Einheit Oesterreichs stellten und daß sie die Zuständigkeit der in Wien unter russischer Aufsicht gebildeten Regierung Dr. Renners für das ganze Bundesgebiet anerkannten. Nur

Udiwc! könnt? erreicht werden, daß auch die westlichen Alliierten die provisorische Regierung in Wien als gesamtösterreichische Regierung anerkannten und daß schon im November 1945, fünf Monate nach Kriegsende, freie, völlig unbeeinflußte Parlamentswahlen trotz vierfacher Besetzung und Zoneneinteilung abgehalten werden konnten. Es ist ferner ein österreichisches Verdienst, daß der neugewählte Nationalrat den einstimmig gefaßten Beschluß des Alliierten-Rates, in Oesterreich müsse an die Stelle der Verfassung von 1929 eine neue, gemeinsam mit den Vertretern der Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion auszuarbeitende Verfassung treten, entschlossen zurückgewiesen hat. Hätte sich das österreichische Parlament dem Befehl des Alliierten-Rates gebeugt, dann wäre es zu einem endlosen Verfassungsstreit gekommen, der sich zum großen Teil zwischen Washington und Moskau abgespielt hätte. Es gäbe, wenn der österreichische Nationalrat damals nicht so viel Mut gegen die Viermächtebesetzung bewiesen hätte, heute mitten in Europa nicht ein konsolidiertes Oesterreich, sondern einen weiteren Herd dauernder Konflikte.

Durch den Staatsvertrag vom Jahre 1955 und die auf ihn folgende Neutralitätserklärung wurde das politische Werk vollendet, das österreichische Volksvertreter in europäischem Geist im Jahre 1945 begonnen und dann unbeirrbar fortgesetzt haben. Oesterreich ist nicht nur das einzige der nach dem zweiten Weltkrieg geteilten Länder, das seine Einheit wiedererlangen und dauernd aufrechterhalten konnte, es ist auch das einzige Land, das sich eine tragfähige politische Ordnung aus eigenem Entschluß, aus eigener Kraft und nach einem eigenen Konzept zu geben imstande war.

Oesterreich ist als neutraler Staat einstimmig in die Vereinten Nationen auf genommen worden. Auch darin kommt die europäische und weltpolitische Bedeutung eines selbstsicheren und handlungsfähigen Oesterreich zum Ausdruck. Hier in Oesterreich ist es gelungen, auf einem kleinen Gebiet jenes Gleichgewicht des östlichen und westlichen Machtstrebens zu erreichen, das die Grundlage eines dauerhaften Weltfriedens bilden würde, wenn seine Geltung nicht auf unser Land beschränkt bliebe. Damit will ich nicht behaupten, daß die Neutralität, die ein Element der Lösung der österreichischen Frage darstellt, in derselben Art und Weise überall zur Schaffung des Gleichgewichtes beitragen, konnte. .. ....

Erinnern wir uns daran, daß in dem Moskauer Memorandum vom 15. April 1955 davon die Rede ist, Oesterreich „werde eine Neutralität der Art üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird“. Das schien ein Hinweis auf ein bewährtes Beispiel zu sein, in der Praxis hat sich aber gezeigt, daß Regeln, die sich in einem Land bewährt haben, aus historischen, geographischen, politischen, wirtschaftlichen und vielen anderen Gründen nicht ohne weiteres von einem anderen Staat und in einer anderen Situation übernommen werden können.

Militärisch hat das alte Oesterreich seit der Gründung der Ostmark stets die Aufgabe zu erfüllen gehabt, Europa vor dem Ueberrannt- werden aus dem Osten zu schützen. Das kleine Oesterreich wurde im Mittelalter dieser Sendung gerecht, das große Oesterreich sorgte dafür, daß Europa weder vom Osten noch vom Westen her erobert wurde. Die österreichischen Heere standen gleichzeitig im Feld gegen die Truppen des Sultans und gegen die Regimenter des Sonnenkönigs. Sie halfen entscheidend mit, ein föderatives Europa und ein europäisches Gleichgewicht zu schaffen, mochte das Konzert der Mächte mitunter auch noch so unharmonisch klingen.

Und das neue Oesterreich? Am 10. Juni 1955 fand vor dem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten des Senats der Vereinigten Staaten in Washington eine Befragung von Experten statt, wie sie im amerikanischen Parlament üblich ist. Präsident Eisenhower hatte den Senat in einer Botschaft ersucht, den vor vier Wochen in Wien unterzeichneten Staatsvertrag für Oesterreich zu billigen, damit er in Kraft gesetzt werden könne. Der Senat hatte seiner-

zeit Außenminister John Foster Dulles eingeladen, über den Staatsvertrag dem außenpolitischen Ausschuß zu referieren. Der demokratische Senator des Staates Minnesota, Hubert Humphrey, fragte den Außenminister, welche militärische Bedeutung für die Westmächte der Staatsvertrag habe. Darauf antwortete Dulles, es könne nicht in Abrede gestellt werden, daß durch die Neuordnung in Oesterreich die Sicherheit der Westmächte berührt werde. Die Pläne der NATO müßten nun geändert werden. Allerdings sei zu bedenken, daß an den entscheidenden Stellen in Oesterreich, nämlich dort, wo die Verbindung zwischen den NATO-Trup- pen in der Deutsch i Bundesrepublik und in Italien über Oesterreich führte, schon zur Zeit der Unterzeichnung des Staatsvertrages kaum mehr NATO-Truppen standen. Aus Tirol hätten die Franzosen ihre Besatzungstruppen bereits vollständig abgezogen und Großbritannien habe in Kärnten und in der Steiermark nur mehr ein einziges Bataillon stehen. Die amerikanische Heeresleitung und das NATO-Kommando seien als auf die nun eingetretene Veränderung seit langem vorbereitet gewesen.

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