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Österreich und de Gaulle

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Als sich der französische Staatschef kürzlich in einer seiner bereits klassischen Pressekonferenzen gleichzeitig gegen die Vorschläge Kennedys, eine multilaterale Atomstreitkraft im Rahmen der NATO aufzubauen, und den Eintritt Großbritanniens in die EWG aussprach, waren die ersten europäischen Reaktionen und Kommentare durchaus negativ. Wie immer, wenn es gilt, de Gaulle zu verurteilen, zeichneten sich gewisse österreichische Enun-ziationen aus, die in unerhörter Schärfe vom ..Spalter“ und „Vernichter“ der EWG sprachen.

Sicherlich, Frankreich und sein Staatschef haben in Wien keine sehr gute Presse. So wurde der Kampf Frankreichs in Algerien immer wieder mißdeutet, und die österreichische Diplomatie wandte ihre Sympathie bei der UNO mehr als einmal dem afro-asiatischen Staatenblock zu, ohne dafür die geringste Gegenleistung bei der Debatte um Südtirol zu, erhalten. Vergessen waren die Worte de Gaulies 194$, der als einziger und erster der damaligen westlichen Staatsmänner bereit war, die österreichischen Interesfen in Südtirol anzuerkennen.

Zwischen bedingungsloser Trtue zur EFTA, in absoluter Ablehnung der EWG und dann im begeisterten Verlangen, doch in den Gemeinsamen Markt aufgenommen zu werden, schwankte die österreichische Meinung, und unser Staat war noch nicht in der Lage, eine vorbildliche Politik zu definieren, die wirtschaftliche Erfordernisse, die Neutralität und das echte Bekenntnis zur abendländischen Schicksalsgemeinschaft auf einen Nenner bringt. Die österreichische Außenpolitik und die öffentliche Meinung werden bei der Entwicklung eines außenpolitischen Konzeptes, das der letzten Entwicklung Rechnung trägt, nicht umhin können, die Tatsache de Gaulle anzuerkennen und in die eigene Vorstellungswelt einzubauen.

Frankreich ist heute einer der dynamischesten Staaten der Welt. Die Bevölkerung des Landes ist zur Hälfte unter 20 Jahre alt. Die demographische Revolution wirkt sich jetzt erst aus. Dazu kommen die über 700.000 Algerier-Franzosen, die, mit Initiative und hartem Pioniergeist, gezwungen sind, sich in kürzester Frist neue Existenzen aufzubauen. Sie sind es. die aus dem beschaulichen Südfrankreich eine moderne Industrielandschaft schaffen. Die Industriezone um Marseille wird infolge ihrer Struktur — Petrochemie, Kunststoffe, Flugzeuge — zu den Zentren der europäischen Produktion zählen. Man muß persönlich diese gigantisehe Anlage gesehen haben, um sich ein Bild von der technischen und wirtschaftlichen Veränderung zu machen, die, von Monnet eingeleitet, in den nächsten Jahren ihren Kulminationspunkt erreichen dürfte. Freilich war es die vielgeschmähte IV. Republik, welche den Grund gelegt hat. Durch die Tragödie in Indochina und im Algerienkrieg sowie die Unstabilität des Regimes wurde das technische Heranwachsen Frankreichs beinahe übersehen. Das deutsche Wirtschaftswunder beherrschte die Szene, regte zu Kommentaren und Nachbildungen an.

Erst durch die Machtergreifung de Gaulies wurde das wirtschaftliche Aufbauwerk in Frankreich sichtbar. Der Franken gehört derzeit zu den stabilsten Währungen Westeuropas. Gewisse Zweige der französischen Industrie, wie Flugzeugbau und Elektronik, erreichten Spitzenpositionen, die auch von internationalen Wirtschaftsfachleuten offen anerkannt werden.

Ein großer und wichtiger Markt hätte sich auch Österreich eröffnen können. Zum Beispiel ist der Bedarf an Werkzeugmaschinen ein gewaltiger. AI er vergeblich wies der österreichische Handelldelegierte in Paris als ein besonderer Kenner der Materie auf die vorteilhaften Möglichkeiten hin. Sie wurden von der österreichischen Industrie so gut wie nicht wahrgenommen, die sich einem allgemein herumgereichten Klischee angepaßt hatte; Frankreich ist eben ein krankes und von Amerika abhängiges Land, und schade um jeden Groschen, der dort investiert wird. Inzwischen hat die Deutsche Bundesrepublik systematisch ihre wirtschaftlichen Stellungen in ausgezeichneter Weise ausgebaut. Die deutsche Industrie konnte mit dazu beitragen, daß die Umarmung de Gaulle-Adenauer nicht nur eine einmalige Geste bleibt, sondern auf wirtschaftlichen Realitäten aufbaut, die nicht mehr zu umgehen sind.

Österreich hat auch zur Innenpolitik de Gaulles keine rechte Einstellung. Frankreich zog die Konsequenzen aus den vielseitigen Veränderungen der modernen Industriegesellschaft und hat sich ein System gegeben, das den lebendigen Kräften dieser Nation ein bestimmendes, ja fast ausschließliches Mitspracherecht in Politik und Wirtschaft sichert. Die französischen Parteien, ähnlich den deutschen in der Weimarer Republik, waren nicht fähig, den Übergang von einer Weltmacht zur rein europäischen Macht zu finden. In sterilen Diskussionen und Parlamentsintrigen zerflatterten die oft ausgezeichneten Ansätze. In diesem Zusammenhang müßte das Drama des MRP sehr bald geschrieben werden. Wertvollste Persönlichkeiten wurden verheizt. Die parlamentarische Demokratie im Stile 1789 konnte sich nicht mehr erneuern. Das Ende am 13. Mai 1958 besiegelte die Ohnmacht der Parteien und formte das Antlitz des modernen Frankreichs. Dieses empfängt seine Impulse von den großen Wirtschafts- und Verwaltungspersönlichkeiten, aber im letzten sind es die Massenorganisationen der Bauernverbände und der Gewerkschaften, die Unternehmer- und Familienverbände, die dem Staat ihr Gepräge geben.

Die direkte Volksbefragung wird so zum Ausdruck und zur politischen Willensbildung der Nation. Man wagt es kaum auszusprechen — so verpönt ist das Wort in unseren Breiten —, es ist in erster Linie eine ständische Demokratie, die geschaffen wurde. Ob diese Entwicklung organisch weitergehen wird, hängt davon ab, ob de Gaulle und seine Männer echte soziale Lösungen bringen, die bisher nur von der linken und extrem linken Seite propagiert wurden. Eine Fülle von Untersuchungen in soziologischer und wirtschaftlicher Hinsicht sucht diesen neuen Ausdruck des gesellschaftlichen Lebens einer großen Nation zu ergründen. Sind hier Formen gefunden worden, die uns auch etwas zu sagen hätten? Die österreichische Provinz begnügt sich, die Skandalgeschichten einer Brigitte Bardot zu bewundern, denn Anregungen politischer Natur, die aus dem Ausland kommen, sind an sich schon suspekt, wenn sie aber aus Paris exportiert werden, können sie nur gefährlich wirken. Dabei geht es ja gar nicht um einen Ideen-Import. Ein Austro-Gaullismus ist weder möglich noch erstrebenswert. Eine Konfrontierung und die daraus gezogenen Lehren könnten auch der auf einer ganz anderen Basis errichteten österreichischen Demokratie nicht schaden.

Nun hat es de Gaulle sogar gewagt, Thesen zu vertreten, die im Widerspruch zu jenen Amerikas und Englands stehen, und schon gibt es auch in Österreich laute Protestrufe, ohne daß sich die Protestrufer oft Rechenschaft über die wahren Motive und die weltpolitischen Zusammenhänge geben. Es darf angenommen werden, daß der Originaltext der Erklärungen de Gaulles überhaupt nicht studiert wurde. Um iedes Mißverständnis auszuschalten: der Schreiber dieser Zeilen ist in der Schule der NEI aufgewachsen und hat eine echte Integration vertreten. Persönlich würde er sie auch heute dem

Europa der Vaterländer vorziehen. Aber als Österreicher muß er sich auch bewußt sein, daß eine Aufgabe der österreichischen Souveränität undenkbar und die Teilnahme Österreichs an einem integrierten, politischen Europa mit dem österreichischen Staatsverti ag nicht in Einklang zu bringen ist. Österreich hat in dem Glauben gelebt, man werde ihm wegen des Wiener Walzers und der Sachertorten eine Ausnahmestellung einräumen. Vielleicht in brutaler, aber unzweifelhaft klarer Weise hat jedoch de Gaulle derartige Illusionen zerstört. Es gibt keine Ausnahmen, weder für das mächtige England noch für das kleine Österreich. Die britischen Sonderwünsche im landwirtschaftlichen Sektor werden nicht zur Kenntnis genommen. Wenn London bereit ist, die römischen Texte in Wort und Geist zu akzeptieren, dann will Frankreich als erster mit Freude Großbritannien in der EWG sehen, das Großbritannien der Entente Cordiale und das Großbritannien Churchills vom Jahre 1940.

Damit ist auch die Frage nach den weiteren Beziehungen Österreichs zur EWG in das Stadium aktiver Überlegungen getreten. Der General wünscht als Ersatz für die EWG keine verbreiterte OEEC, die bei aller technischen Perfektion nichts anderes war und ist als ein Apparat zur Regelung handelspolitischer und finanzieller Probleme in Europa. Die EWG soll als fester Kern ohne iede Verwässerung erhalten werden. Eine Vollmitgliedschaft von weiteren Staaten ist nur möglich, wenn alle Konsequenzen, auch politischer Natur, die aus der EWG resultieren, anerkannt werden. Auf der anderen Seite würde Österreich in eine gefährliche wirtschaftliche Situation kommen, wenn nicht eine Formel gefunden wird, die Österreichs wirtschaftliche Interessen im EWG-Raum respektiert. Die bilateralen Abkommen in der Art von Zollfreizonen, die der gaullistischen Diplomatie nach Hinweisen ihres Außenministers vorschweben, sind vielleicht ein Weg, der einer sachlichen Prüfung würdig wäre. Österreich wird aber dann mehr Initiative und eigene Vorstellungen zu entwickeln haben, um, auf die sehr nüchternen und intransi-genten Überlegungen de Gaulles aufbauend, eine eigene, für Österreich gültige Form der Zusammenarbeit mit der EWG zu finden. Die Träume von der Vollmitgliedschaft konnten nie ernst genommen werden. Eine enge Assoziierung ist in weite Ferne gerückt. Es wird sehr viel Geduld und Erfindungskraft nötig sein, um die europäischen Interessen Österreichs zu wahren.

Damit kommen wir zum Kernproblem der gaullistischen Außenpolitik.

Auf der einen Seite steht ein festes Kontinentaleuropa, basierend auf den beiden großen Völkern unseres Erdteiles, Franzosen und Deutschen. Dieses Europa soll auch einmal die mitteleuropäischen und östlichen Völker umfassen. Es basiert auf der staatlichen Eigenständigkeit und soll die Kraft besitzen, sich selbst zu verteidigen und nicht mehr von den USA abhängig zu sein. Diese Auffassung de Gaulles wurde durch das Nassau-Abkommen bestätigt. England mußte auf eine eigene Atommacht verzichten, die bisherigen englischen Atomgeheimnisse wurden nicht Europa zur Verfügung gestellt. Als einzige Alternative soll die atlantische Front aufgebaut werden, ein von den USA inspirierter Block, in dem Österreich jedoch keinen wie immer gearteten Platz hätte. Es sei denn, die Sowjetunion als Weltmacht verschwindet, die österreichische Neutralität wird aufgehoben und Österreich tritt über kurz oder lang in die NATO ein. Österreich würde damit aufhören, als organisches Bindeglied in Mitteleuropa zu fungieren. Als eine Art Limes gegenüber der östlichen Welt müßte Österreich auf seine Geschichte und auf seine weiteren Funktionen verzichten. Kein österreichischer Staatsmann könnte diese Alternative verteidigen.

Wie immer man auch zu de Gaulle stehen mag. seine Forderungen widersprechen keineswegs einer klaren österreichischen Außenpolitik. Österreich hat nicht zuletzt durch eine jahrelange nicht gerade glückliche Besetzung der österreichischen Botschaft in Paris viel Terrain verloren. Es wird an der Zeit sein, mit einer Gesamtüberprüfung der österreichischen Stellungen in Europa auch eine positive Einstellung zur V. Republik zu finden. Das heißt nicht, daß alle Vorstellungen de Gaulles restlos bejaht werden sollen (zum Beispiel eigene Atombombe). Aber Österreich muß sich bewußt werden, daß in den nächsten Jahren kein Staat so entscheidend in die Geschichte Europas eingreifen wird wie Frankreich.

Die ,,Ära Adenauer“ neigt sich in diesem Jahr dem Ende zu. Die Regierung Fanfanis der „linken Mitte“ muß bei den kommenden Wahlen ihre Probe aufs Exempel machen. Bis dahin zumindest ist sie nur mehr bedingt handlungsfähig. Die englische Politik ist in eine Sackgasse geraten. Die Wirtschaft des Inselreiches zeigt besorgniserregende Krisenzeichen. Nur das Frankreich de Gaulles steht gegenwärtig und nach menschlicher Voraussicht für die nächsten drei Jahre als geschlossene Macht da. Über Ab- und Zuneigung hinausgehend, mag festgestellt werden: Ein Zustand und ein Mann haben sich getroffen, und daraus entstehen jene geschichtlichen Spannungen, die im letzten neue und grundlegende Veränderungen im zeitlichen Geschehen schaffen.

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